Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.
Fundstücke
1) Das war unnötig rücksichtslos
Der größte Schaden aber ist: Die Reform verliert den Anschein der Unparteilichkeit. Mag sein, dass das Wahlrecht ohne die Grundmandatsklausel schlüssiger ist. Aber eine Wahlrechtsreform ist kein Modellbau, sondern eine Operation am lebenden Körper der Demokratie. Die Opposition hat recht: Eine in ihren Folgen potenziell so dramatische Änderung so eilig durchzuziehen, die allein auf Kosten der politischen Gegner geht, ist "ein Akt der Respektlosigkeit", wie CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt sagte. Ein gutes Wahlrecht sollte Jahrzehnte halten. Dass die Ampel erst Anfang dieser Woche, wenige Tage vor der Abstimmung, ihren Reformentwurf an so entscheidender Stelle geändert hat, macht es noch schlimmer. Diese Eile hat das Thema nicht verdient. Dass FDP-Fraktionschef Christian Dürr noch am Vorabend der Abstimmung andeutete, man könne über die Details ja noch mal reden, verstärkt den Eindruck der Überstürztheit noch. [...] Wahrscheinlicher ist die zweite Erklärung: Teile der Ampel, insbesondere die Liberalen, hatten die falsche Hoffnung, durch die Last-minute-Änderungen noch Abgeordnete der CDU auf ihre Seite zu ziehen. SPD und insbesondere Grüne haben das zähneknirschend mitgetragen, weil auch sie nicht erkannt haben, was die Pläne für die CSU bedeuten können. Noch drei Tage vor der Abstimmung gab es Spitzenpolitiker verschiedener Parteien in Berlin, die die Wirkung noch nicht überblickt hatten. Die überstürzte Abschaffung der Grundmandatsklausel ist ganz einfach schlechtes politisches Handwerk. Regierung und Opposition stehen nun in der Pflicht, eine Lösung zu finden, die die regionale Repräsentation weiter ermöglicht, ob in Bayern oder anderswo, ohne dabei das ansonsten faire neue Wahlrecht wieder zu zerschießen. (Lenz Jacobsen, ZEIT)
Ich teile die Kritik zu 100%. Eine Wahlrechtsreform, die zum Ergebnis hat, dass die CSU nicht in den Bundestag kommt, ist ein Problem, Punkt aus Ende. Egal, wie schlüssig sie in sich ist (und ich habe hier ja schon darüber geschrieben, dass ich die Reform insgesamt gut finde). Würde man das Wahlsystem neu aufbauen - quasi Stand 1949 oder in einem hypothetischen Neustart 1990 - dann wäre das was anderes. Aber es ist eine Operation am offenen Herzen, da spielt das keine Rolle.
Bezüglich der rechtlichen Situation sind die Argumente von Christoph Möllers, einem der beratenden Verfassungsrechtler, zum einen sehr interessant zu lesen; zum anderen finde ich aber vor allem seinen Hinweis darauf relevant, dass es sich um politische Fragestellungen handelt und welche Bedeutung der Kompromiss eigentlich hat. Der Verfassungsrechtler Christoph Schönberger (eine Armee von Christophs...) argumentiert, warum die Grundmandatsklausel das verfassungsrechtliche Problem war und nicht ihr Entfall. Eine Übersicht über die aktuelle Meinungslandschaft hat die taz.
Etwas heuchlerisch allerdings sind die Krokodilstränen der Union natürlich schon. Der CDU-Plan war jetzt ja auch nicht eben...unparteisch. Hier wäre auch ein sehr guter Kommentar von Max Steinbeis, der über die Rolle der CSU in dem Skandal spricht. Die haben über ein Jahrzehnt jede Reform blockiert, die ihnen nicht Vorteile gebracht hätte. Das rächt sich jetzt, wo eine Koalition bereit ist, Nachteile für sich zu akzeptieren.
Der Kommentar von Stefan Niggemeier zuletzt, dass die Größe nicht das Problem ist, kann ich auch nur unterschreiben; ich habe in diese Richtung schon oft argumentiert.
2) »Wenn wir global bei 3 Grad landen, drohen Deutschland etwa 6 Grad« (Interview mit Stefan Rahmstorf)
In einer aktuellen Umfrage des ZDF-Politbarometers glauben 74 Prozent der Befragten, dass es die Welt in den nächsten Jahrzehnten nicht schaffen wird, den Klimawandel zu bekämpfen. Teilen Sie diese Meinung?
Stefan Rahmstorf: Die Menschen sehen, dass die Politik bislang dem Klimawandel nicht wirksam entgegentritt. Das entscheidende Maß dafür sind die weltweiten Treibhausgase, insbesondere die CO2-Emissionen. Und die steigen bekanntlich immer weiter. Die Internationale Energieagentur (IEA) hat gerade erst vermeldet, dass 2022 die weltweiten Subventionen für den Verbrauch fossiler Brennstoffe auf über eine Billion US-Dollar angestiegen sind. Das zeigt, dass wir den Klimawandel finanzieren – und nicht etwa bekämpfen. [...]
Nimmt die aktuelle politische Führungsriege den Klimaschutz in Deutschland ernst?
Eigentlich nur die Grünen. Mein Eindruck ist: Die FDP bremst, wo sie kann. Der Kanzler hat sich als Klimakanzler im Wahlkampf plakatieren lassen, ich vermisse da aber ein deutliches Engagement. [...] Mich würde interessieren, ob alle Abgeordneten im Bundestag überhaupt einmal die kurze Zusammenfassung für Entscheidungsträger der IPCC-Berichte im Original gelesen haben. Ich habe den Eindruck, dass viele da ihre Hausaufgaben nicht machen und sich nur aus den Medien über den Klimawandel informieren – das darf nicht sein. (Marianne Falck, Spektrum)
Ich weiß nicht, wie realistisch die Befürchtung von sizilianischen Temperaturen in Deutschland ist - wenn das tatsächlich der Fall wäre, dann sind wir einfach global fucked. Da wären so weite Teile der Welt schlicht unbewohnbar, dass die menschliche Zivilisation kollabieren muss. Aber was ohne Zweifel zutrifft ist, dass der Ernst der Lage in keinem Verhältnis zu den Maßnahmen steht, die wir ergreifen. Und ja, die Grünen sind die einzige Partei, die den Klimawandel halbwegs ernst nimmt, aber auch deren Policies sind geradezu lachhaft im Angesicht der Aufgabe. Klar, die sind eine 16%-Prozentpartei in einer Koalition, da geht nichts anderes, das ist mir schon klar. Aber an und für sich müssten wir massiv Dinge tun, und nicht kosmetische Solarpanele an Autobahnen aufstellen, damit die FDP ihre nutzlosen eFuels fördern darf.
3) Why the higher paid should work longer than the rest
Broadly speaking, there are two kinds of workers: the low paid and the high. The high paid tend to study well into their twenties and then might spend years choosing a career. They have lots of autonomy at work, sometimes with an office and even a toilet to themselves. They control their own schedules, ratchet up their salary and status over time and decompress during holidays by the pool. Some never want to retire. The high typically live into their eighties. Then think of low-paid workers like cleaners, cashiers and construction workers. They often enter vocational training in adolescence and start work by 18. They have little autonomy: they used to be bossed around by humans, and now increasingly by algorithms, which count things like how many calls they make. Many spend years out of work, incapacitated or unemployed. They have jobs, not careers. At 60, they might still be scrubbing floors for the minimum wage. [...] It’s cruel to make both groups work until the same age. [...] If everyone worked 43 years, the garbage collector might retire at 60 and the lawyer at 67. France’s nationwide debate persuaded the government of that. Its revised plan takes account of “long careers”: people who started work before 16 can retire at 58, while those who started by 18 can leave at 60 and so on. Recommended Europe French strikes over pension reform move into ‘higher gear’ But given the class chasm, retirement ages should probably be even more gradated. True, that would make the pensions system more complex. [...] But in this case, complexity is fairer. (Simon Kuper, Financial Times)
Ich finde es gut, dass Kuper die Bedeutung der Bezahlung statt der Qualifikation betont. Zu häufig läuft die Debatte entlang der Scheidegrenze der Akademiker*innen, während die relevante Frage aber schlicht die des Geldes ist: nicht alle Akademiker*innen verdienen auch nur ansatzweise gut (fragt mal Sozialarbeiter*innen). Und ich halte das hier Vorgeschlagene auch für grundsätzlich fair. Ich würde sogar weiter gehen und das Renteneintrittsalter komplett aufheben und den Eintritt stattdessen von der Arbeitsunfähigkeit abhängig machen (bestätigt durch doppeltes amtsärztliches Gutachten oder so, mit der freiwilligen Option, nach X Jahren mit vollen Bezügen aufzuhören, wie Kuper das skizziert). Das ändert grundsätzlich erst einmal nichts an den Optionen, aber ist ein Paradigmenwechsel in der Art, wie wir Arbeit betrachten: wer einen spannenden, körperlich nicht anspruchsvollen Job hat, kann problemlos weitermachen, wer dagegen malocht, hört entsprechend früher auf. Keine Ahnung wie realistisch das ist, aber seit ich das bei Ebert gelesen habe, lässt mich die Idee nicht mehr los.
Der DLF hat ein gutes Feature zu den aktuellen Protesten in Frankreich, das angenehm unaufgeregt und objektiv ist. Wer auf der Suche nach was Aufregenderem ist, findet hier bei Nikolaus Blome eine harsche Verurteilung von Linken, Kommunisten und anderen Feinden der Freiheit oder hier bei Nils Minkmar ein Lob des Streiks.
Lilliestam: Aber wir wissen doch jetzt schon, was nicht kommen wird. Zum Beispiel sind E-Fuels für Pkw keine Lösung. Ihre Produktion braucht viel zu viel Strom. Die muss man verbieten. Oder Wasserstoff: In den letzten Wochen wurde zum Beispiel vorgeschlagen, dass man Heizungen mit Wasserstoff nicht verbieten sollte. Aber das funktioniert nicht. So etwas kann man ruhig verbieten. [...] Wenn wir total technologieneutral sein wollen und nicht einmal den Wasserstoff zum Heizen ausschließen, dann müssen wir jetzt Rohre bauen, damit der Wasserstoff dort auch hinkommt. Bis zum letzten Haus. Nur weil wir hoffen, dass Wasserstoff vielleicht kommen könnte. Deshalb ist es wichtig, Technologien zu verbieten: damit man die Investitionen richtig lenken kann, und den Erfindungsreichtum auch. [...]
Sagen wir, der CO2-Preis funktioniert. Bei den Wählern ist er trotzdem auf jeden Fall unbeliebt. Haben die ihn nur nicht verstanden, oder haben sie einen Punkt?
Edenhofer: Die Wähler haben schon einen Punkt. Wenn CO2-Preise eingeführt werden, belasten sie arme Haushalte stärker als reiche Haushalte. Das muss sich ändern: Wenn die Politik das eingenommene Geld wieder auszahlt, zum Beispiel für alle gleich viel, dann profitieren die armen Haushalte, und dann steigt auch die Akzeptanz. Dann müssen die Wähler natürlich der Politik glauben, dass sie das Geld auch wirklich auszahlt. Und da sehe ich tatsächlich ein größeres Problem.
Lilliestam: In Kanada und der Schweiz gibt es solche Rückzahlungen, und die steigern die Akzeptanz überhaupt nicht. Ich habe selbst in der Schweiz gearbeitet und habe erst nach fünf Jahren verstanden, was dieser komische Eintrag in den Abrechnungen bedeutet hat, die ich von der Krankenkasse bekommen habe. [...]
Herr Lilliestam, das geplante Verbot von Öl- und Gasheizungen stößt jedenfalls auf Widerstand. Dass Habeck dieses Verbot durchsetzen kann, ist auch noch nicht bewiesen.
Lilliestam: Aber beim CO2-Preis kann ich als Mieter gar nichts anderes tun, als sauer zu werden. Ich habe eine Wohnung in Berlin gemietet und zahle dort seit zwei Jahren den CO2-Preis. Ich kann aber nichts dafür tun, dass ich Energie spare. Ich kann nicht selbst meine Fenster dämmen und nicht selbst die Heizung auswechseln. Das muss der Vermieter machen. Doch der tut nichts, er sieht ja den CO2-Preis nicht wirklich. (Patrick Bernau, FAZ)
Wenig überraschend bin ich wesentlich mehr bei Lilliestam als bei Edenhofer; ich hatte eine ähnliche Kritik am CO2-Preis ja schon vor Längerem formuliert. Ich möchte besonders sein Argument hervorheben, dass Investitionen nicht verschwendet werden sollten: schon Keynes wies darauf hin, dass wir uns "alles leisten können, was wir tun können", aber eben nicht alles zugleich. Es macht daher nur eingeschränkt Sinn, da Verschwendung zuzuschauen. Auf der anderen Seite ist es natürlich superschwer, staatlicherseits die Gewinner herauszupicken. Eine echte Drahtseilwanderung. Ich teile auch Lilliestams Kritik an der Akzeptanz des CO2-Preises; da kommt aber bald noch was Ausführlicheres dazu. Das Problem, dass der CO2-Preis zwar alle belastet, auch die, die ihr Verhalten nicht ändern können, ist auch eine Blindstelle dieses Systems in meinen Augen, weil die Externalisierung von Kosten gerade bei Mietverhältnissen sehr leicht ist.
The sociologist Oliver Nachtwey has written that German society is undergoing a process of ‘regressive modernization’, whereby cultural liberalization and increased inclusion of women and minorities occurs alongside the hardening of class-based inequalities and declining social mobility for the lower segments of the population. This transformation can also be seen in the political arena, where the Greens are increasingly the object (and occasionally the subject) of American-style culture wars, with spats between them and the CDU erupting over electric cars and vegetarian meals in schools, obscuring their broad agreement on most major issues. In Berlin, this ‘hyperpolitical’ antagonism has centred on the government’s attempt to turn the Friedrichstrasse, a main thoroughfare in the city centre, into a pedestrian boulevard – a fitting hill to die on for a CDU looking to score points among disgruntled commuters and anyone else suspicious of change, however cosmetic. [...] For the left, the shifting winds in the capital can only be seen as a defeat. For the thousands of Berliners who spent months collecting signatures to get the 2021 referendum on the ballot and campaigning for its passage, it’s back to the drawing board. At the time, the referendum seemed to mark a watershed in the city’s approach to its spiralling rent problem and a breakthrough for the left wing of civil society. Yet paradoxically, even though the non-binding decision hinged entirely on parliament’s willingness to implement it, the only party that unequivocally advocated doing so, Die Linke, received a worse result in 2021 than it had in the previous elections. (Loren Balhorn, New Left Review)
Balhorns Beobachtung, dass die Grünen "increasingly object and occasionally subject" von Kulturkriegen sind, halte ich für absolut zutreffend. Für das bürgerliche Lager sind die mittlerweile ein Blitzableiter, eine beständig verfügbare Folie, von der man sich wirksam abgrenzen kann - auch durch absurdeste Grabenkämpfe. Das Beispiel der Friedrichstraße ist dafür wirklich super; von beiden Seiten symbolpolitisch überhöht und seiner realen Wirkung längst enthoben. Auch die Beobachtung, dass genau die Partei am meisten Stimmen verloren hat, die als einzige das Referendum der Mietpreisbremse umsetzen will, zeigt mir vor allem wieder eines: wie bescheuert diese Policy-Plebiszite sind. Sie wecken jedes Mal unerfüllbare Erwartungen und treiben nur das Kreisrad der Politikverdrossenheit an.
Resterampe
a) Warum steigende Zinskosten für die Bundesregierung kein Problem sind.
b) Die Militärausgaben der US-Polizei (!) sind völlig absurd.
c) Neue Batterietechnologie könnte eAutos drastisch billiger machen - und wird in China entwickelt, wo man diesbezüglich nicht so ideologisch verblendet ist wie hier. Ich kann nicht beurteilen, wie realistisch das ist, aber ich bin zuversichtlich, dass das insgesamt als Trend stattfindet. eFuels bleiben in meinen Augen ein Irrweg.
d) In Berlin-Kreuzberg werden bei einem Modellprojekt Parkplätze entfernt. Auch das ist ein Trend, der in Deutschland zwar mit Verspätung kommt, aber sich verbreiten wird - und muss.
e) FAZ-Rezension des Putin-Buchs von Michael Thumann.
f) Habecks Kommunikation zum Thema Heizungen ist eine Vollkatastrophe.
g) Das Verkehrsministerium will künftig eFuels mit zwei Milliarden Euro jährlich fördern, weil Subventionen total schlecht sind und die Marktwirtschaft technologieoffen entscheiden soll. Roger.
h) Der Schufa-Score gerät unter Beschuss. Zurecht.
i) Interessanter Podcast zum sozialen Wohnungsbau in Wien. Eine ziemliche Erfolgsgeschichte, die zeigt, dass das durchaus geht, wenn man es richtig macht.
j) Ich halte die Taktik von CDU/CSU, die FDP als eine linke Partei zu framen, wahlkampftaktisch für sehr sinnvoll, so quatschig sie inhaltlich auch ist.
k) Die New York Times hat ein Feature, wonach endlich bewiesen ist, dass Reagan die Befreiung der Geiseln bis nach seiner Inauguration zu verhindern versuchte. Kevin Drum hat da zwei gute Einordnungen.
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