HINWEIS: Ich habe die Länge des Vermischten reduziert, um die Diskussion etwas mehr zu kanalisieren. Dafür erscheint es ab jetzt öfter.
Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.
Fundstücke
1) A four-day workweek pilot was so successful most firms say they won’t go back
Companies that participated could adopt different methods to “meaningfully” shorten their employees’ workweeks — from giving them one day a week off to reducing their working days in a year to average out to 32 hours per week — but had to ensure the employees still received 100 percent of their pay. At the end of the experiment, employees reported a variety of benefits related to their sleep, stress levels, personal lives and mental health, according to results published Tuesday. Companies’ revenue “stayed broadly the same” during the six-month trial, but rose 35 percent on average when compared with a similar period from previous years. Resignations decreased. [...] Of the 61 companies that took part in the trial, 56 said they would continue to implement four-day workweeks after the pilot ended, 18 of which said the shift would be permanent. Two companies are extending the trial. Only three companies did not plan to carry on with any element of the four-day workweek. [...] There is precedent for a large-scale change in the standard workweek: As The Washington Post has previously noted, before the Great Depression, it wasn’t uncommon for employees in the United States to work six-day weeks. The 40-hour workweek was first codified into U.S. law in 1938. The argument put forward by groups such as 4 Day Week Global is that “we’re overdue for an update.” (Annabelle Timsit, The Washington Post)
Die Studie ist natürlich nicht halb so repräsentativ, wie man sich das wünschen würde (die teilnehmenden Firmen sind klein, flexibel und digitalitätsaffin), aber das ändert wenig daran, dass die 40-Stunden-Woche und der Acht-Stunden-Tag Auslaufmodelle sind - und das nicht deswegen, weil wir alle länger arbeiten müssten. Es ist davon auszugehen, dass die Automatisierung weiter große Fortschritte und die Wirtschaft damit produktiver machen wird, weswegen die Idee vollbezahlter Arbeitszeitreduktionen bei weitem nicht so absurd ist, wie sie auf den ersten Blick scheint. Natürlich werden sich die Früchte dieser Reduzierung nicht gleichmäßig verteilen und riesige Disruptionen schaffen, aber das ist bei jedem Strukturwandel so.
2) Hinter verschlossenen Türen: Kultusminister der Länder planen neue Regeln fürs Abitur
Auf deutsche Abiturienten könnten dann rechnerisch bis zu 70 Klausuren zukommen, die Abi-Prüfungen am Ende nicht eingerechnet. Im Moment liegt die Zahl der Klausuren in vielen Bundesländern deutlich unter der neuen Rekordmarke. Im strengen Bayern sind es zum Beispiel nur 40. [...] Der Abiturexperte des Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes, Fritz Schäffer stört sich am Übergewicht der Klausuren. „Die Festlegung der Zahl von Klausuren, also einem Prüfungsformat, das aus dem 19. Jahrhundert stammt, ist in meinen Augen nicht das richtige Instrument, um eine Oberstufe der Zukunft zu gestalten“. Stattdessen sollte das Abitur stärker für alternative Prüfungsformate geöffnet werden, wie sie auch in der Corona-Pandemie nötig waren. Gemeint sind damit mündliche Prüfungen, Seminararbeiten, fachübergreifende Projekte und so genannte Portfolios, in denen Schüler verschiedene Kompetenznachweise lernbegleitend erbringen. Dem Chef des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger gehen die Pläne der Kultusminister indes nicht weit genug. „An die Frage, ob nicht Teile der Abiturprüfung in bestimmten Fächern komplett identisch sein müssen, um echte Vergleichbarkeit zu erreichen, hat man sich nicht rangetraut“, sagte Meidinger dem Tagesspiegel. (Christian Füller, Tagesspiegel)
3) "Russland ist ein in Auflösung befindliches Imperium" (Interview mit Jan C. Behrends)
Ist Russland denn eine Kolonialmacht?
Selbstverständlich. Das Russische Reich war ein Imperium, schon seit dem 16. Jahrhundert, der Zeit Iwans des Schrecklichen. Es war kein Übersee-Imperium wie Frankreich oder Großbritannien, sondern eine Landmacht, ein Vielvölkerreich, und als solches hat es immer koloniale Beziehungen zu anderen Völkern unterhalten - von den Tataren über Polen oder Finnland bis hin zu den Völkern Sibiriens, Zentralasiens oder des Kaukasus. Überall dort und auch in der Ukraine ist Russland als imperiale Macht aufgetreten. Doch seit 1917 ist es ein in Auflösung befindliches Imperium.
Seit 1917? Ist das nicht ein sehr langer Zeitraum für einen Verfall?
Imperien lösen sich langsam auf, das sehen wir an den historischen Großreichen von Rom bis zum britischen Empire. Das passiert nicht mit einem Knall, sondern dauert Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte. Im Fall des russischen Imperiums haben wir es mit einem Prozess zu tun, den wir seit dem Ersten Weltkrieg beobachten können: eine langsame Ablösung der Peripherien erst von Petersburg, dann von Moskau, und darauf reagierend die Versuche, das Imperium wiederherzustellen. Einer dieser Versuche war die Sowjetunion, ein Russisches Reich unter kommunistischen Vorzeichen, das dann aber 1991 zerfallen ist. Unter Putin findet jetzt ein weiterer Versuch des Zentrums statt, die alten Beziehungen wiederherzustellen. Aber wir sehen in der Ukraine zugleich die Stärke der nationalstaatlichen Idee und die Bereitschaft der Ukrainer und Ukrainerinnen, für ihre Souveränität und gegen die Unterwerfungsversuche Moskaus zu kämpfen. (ntv)
Ich zitiere diesen Ausschnitt hauptsächlich deswegen, weil die Idee Russlands als Kolonialmacht eigentlich eine in der Forschung bereits seit Längerem anerkannte Selbstverständlichkeit ist, die sich aber in der breiten Wahrnehmung nicht durchgesetzt hat. Das liegt denke ich an zwei Gründen. Zum einen verbinden wir "Kolonialismus" mit "Süden" - Menschen mit brauner bis schwarzer Hautfarbe werden kolonisiert, Palmen, Feuchtigkeit, Hitze. Kokosnüsse, Bananen. Das sind die Klischees. Dazu kommt, dass wir "Kolonialismus" als "weit weg" definieren. Man muss mit dem Schiff hinfahren. Darüber übersehen wir Kolonisierung im Norden, wie Russland sie etwa in Sibirien oder auch die USA und Kanada auf dem nordamerikanischen Kontinent betrieben haben. Das war immer direkt angrenzend, aber nicht weniger eine koloniale Landnahme als Deutsch-Südwest.
4) Der Unersetzliche wirkt ratlos
Lindner ist zweifelsohne einer der besten Vorsitzenden, den die Liberalen je hatten, wenn nicht der beste. Er ist bis in die Haarspitzen politisch, er denkt strategisch, kann aus dem Stand glänzende Reden halten, hat eine starke Fernsehpräsenz, beherrscht aber auch das parlamentarische Parkett, verfügt über ein stabiles bis strotzendes Selbstbewusstsein, außerdem über die Fähigkeiten eines Stand-up-Comedians, kann aber auch ernst sein, ja pathetisch; Lindner ist, kurzum, ein politisches Ausnahmetalent. [...] In der Abhängigkeit von einer Person verbirgt sich allerdings auch die Tragödie der FDP, die gerade wieder virulent wird. [...] Der Erste, der die verlorene Funktion der FDP im Parteiensystem durch sein eigenes Charisma ausglich, war Guido Westerwelle, Parteivorsitzender von 2001 bis 2011. Er verfügte über ähnliche Fähigkeiten wie heute Christian Lindner, verschliss sich dann aber im Regieren, weil seine großen, großen Worte aus der Oppositionszeit ihm hinterherliefen wie ein Rudel bissiger Dackel. [...] Das Problem, das Lindner heute hat – und jeder Schnupfen von ihm ist eine Grippe der FDP – ist von anderer Art. Es geht nicht mehr um die Funktion der FDP im Parteiensystem, sondern im Jahrhundert. Passt die Partei des 19. Jahrhunderts ins 21.? Wie vertragen sich die antietatistischen Reflexe der Partei mit dem durch die multiplen Krisen bedingten Neo-Etatismus aller realistischen Regierungspolitik? Was fängt die FDP damit an, dass das Jahrhundertthema Ökologie Spurenelemente von Verzicht enthalten könnte, dass die Klimakrise sich beißt mit dem individualistischen Anspruchsdenken von Besserverdienenden, die besonders gern FDP wählen und besonders viel CO₂ emittieren? Wie mimt man die Stimme der bürgerlichen Vernunft in einer immer erregteren Öffentlichkeit? [...] An den Personen kann man es erkennen, die Ursache für die Fehlaufstellung der FDP sind sie aber nicht. Der wichtigste Grund für den relativen Misserfolg der Liberalen liegt darin, dass sie sich bisher einigen zugleich fundamentalen und drängenden Fragen nicht stellen: Was bedeutet es für eine FDP, dass sich die Kräfteverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt strukturell und drastisch zugunsten der Arbeitnehmer verschieben, dass Arbeitskräfte knapp werden und Zielkonflikte sich verschärfen? Wie kann der Begriff der Freiheit dematerialisiert werden, also mit weniger Zerstörung auskommen? Was soll passieren, wenn unübersehbar wird, dass die technischen Innovationen allein nicht ausreichen, um die Klimaziele einzuhalten? Wie geht man damit um, dass es in den kommenden Jahren absehbar wenig reales Wachstum geben wird, man also irgendjemand etwas wegnehmen muss, um die Armen in den Krisen zu stabilisieren und den Staat in den Stand zu setzen, ebendiese Krisen zu bewältigen? Wie lässt sich Begeisterung für die ökologische Revolution entfachen, ohne dass dabei in jedem Fall ein materielles Mehr versprochen werden kann? Wie können Menschen, die FDP wählen, motiviert werden, viel und gut zu arbeiten, wenn sie dafür nicht mehr so sehr mit wachsendem materiellem Konsum belohnt werden können? (Bernd Ulrich, ZEIT)
Der Artikel ist insgesamt sehr empfehlenswert; ich habe an der Stelle nur einige mir besonders wichtige Punkte herausgegriffen.
Punkt 1: Lindners politisches Talent und die relativ dünne Bank hinter ihm. Stimme ich völlig zu, in beiden Punkten, und würde noch die Ironie anmerken, dass die FDP damit das Problem der Merkel-CDU reproduziert hat. Eine treibende Führungspersönlichkeit, deren Image von dem der Partei weitgehend entkoppelt ist, ohne Plan für ein "Danach".
Punkt 2: Die Partei wird von ihrer Oppositionszeit verfolgt. Man merkt ihr einfach an, dass sie schon lange nicht mehr an der Regierung war (anders als den Grünen, faszinierenderweise). Und die Instinkte sind da einfach falsch. Angesichts dieser Erscheinungen stimme ich mittlerweile zu, dass Lindners Entscheidung gegen Jamaika 2017 wohl richtig war.
Punkt 3: Das Image der digitalen Partei und des Hippen, Neuen, das nicht unerheblich zu dem Erfolg der Partei bei den Jungwählenden beigetragen haben dürfte, ist genau das, ein Image. Bisher liefert die Partei da nichts. Mir wäre auch aus NRW nicht bekannt, dass besondere Initiativen wären, lasse mich aber gerne eines Besseren belehren.
Punkt 4: Die Partei tut sich schwer, selbst offensichtliche Erfolge zu nutzen. Das Mysterium Andi Scheuer fällt da besonders auf, der weder das 9-Euro- noch nun das 49-Euro-Ticket irgendwie verbucht bekommt, obwohl beides populäre Erfolgsstories sind.
Punkt 5: Die Konzeptionslosigkeit. Die ist natürlich nicht gerade exklusiv FDP, um es mal milde auszudrücken, aber die Partei hat sich ihre Latte halt durch ihren Image-Wandel und die Wahlkämpfe selbst ziemlich hoch gelegt und kriecht dann auch noch drauf zu. Die Oppositionsreflexe haben das lange überdeckt, aber an der Regierung zeigt sich halt schnell, wie viel Kleider der Kaiser anhat (ich sag nur: Baerbock und feministische Außenpolitik).
5) Heeding the Warning from the Future
Weill calls conspiracy theories “warnings from the future.” We laugh at flat earthism or the stipulation of lizard people just as many nineteenth-century Germans mocked spiritualism, theosophy, and World Ice Theory. But it bears remembering that these esoteric views formed a good part of the intellectual scaffolding on which an overarching antisemitic “Volk theory” grew and which helped lead the world into catastrophe. We may not be on a similar path, but lest anyone feels too comfortable, we did just elect (or re-elect) a non-trivial number of QAnon and QAnon-adjacent members to Congress, as well as a whole host of cynical pols willing to use whatever passions are at hand to secure power. The long-term lesson of conspiracy is that the convergence of social forces under extraordinary economic and social pressures can split the atom of esoteric theories and lead to critical chain reactions. If you don’t believe me, consider those who have suffered through post–World War II pogroms—the Rwandan Tutsis massacred in 1994, for instance, or the southern European communities ravaged in the 1992-95 Bosnian war. It doesn’t take a lot of imagination to envision an unscrupulous politician in this country welding a majority out of conspiracists and a beleaguered suburban middle class by focusing public anger on an imaginary “other.” Teachers, university professors, drag queens, and “pedophiles” come to mind as such a figure’s potential targets. It has happened before, and it can happen again. (Brent Orell, The Bulwark)
Michael Butter hat in seinem Buch "Nichts ist so, wie es scheint" (hier besprochen) die Dynamiken von Verschwörungstheorien und ihre Funktionsweise detailliert analysiert und erforscht. Ich finde den hier genannten Punkt relevant, dass die Albernheit von Verschwörungstheorien, dieses darüber Lachen, besonders wichtig ist in dem Zusammenhang. Denn dass der Kram lächerlich ist ändert ja nichts daran, dass er von teilweise sehr gefährlichen Leuten geglaubt wird. Die Reichsbürger glauben an völlig absurden Mist, aber ihre Todeslisten sind sehr real. Wer sich mit der Ideologie des Nationalsozialismus beschäftigt, kommt aus dem Kopfkratzen kaum heraus, aber trotzdem betrieben die Todeslager. Der Wikinger der 1/6 Riots in den USA sieht albern aus, aber hätte er Alexandria Ocasio-Cortez in die Finger bekommen, hätte das üble Folgen haben können. Verschwörungstheorien sind unglaublich gefährlich.
Resterampe
a) Immer mehr Eltern missachten die Grundschulempfehlung ihrer Kinder; das betrifft aber wesentlich mehr die Realschule als das Gymnasium. Die Folgen daraus sind unklar.
b) Zahlreiche EU-Staaten verstoßen seit 2016 routinemäßig gegen Schengen. Die Crowd derjenigen, die immer die Einhaltung der Verträge in der Eurokrise beschworen haben, sind merkwürdig still.
c) Masken helfen übrigens immer noch.
d) Vermutlich korrekte Einschätzung der Untergangssorgen.
e) Aus der Reihe "Ich hatte angenommen, das ist schon längst Gesetz".
f) Es ist echt krass, wie unpopulär abortion bans in den USA sind. Die Republicans binden sich da echt einen Mühlstein um den Hals.
g) Der Erfolg unserer Gaspolitik wird meiner Meinung nach völlig unterschätzt. Auch positiv hinsichtlich des Klimawandels.
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