Freitag, 1. September 2023

Rezension: Karl-Wilhelm Weeber - Circus Maximus: Wagenrennen im antiken Rom

 

Karl-Wilhelm Weeber - Circus Maximus: Wagenrennen im antiken Rom

Ich habe das Gefühl, dass eine Referenz an Ben Hur zur Einleitung eines Buchs über Wagenrennen im alten Rom mittlerweile ein Anachronismus ist, der nur durch die berühmten Armbanduhren in der Wagenrennen Szene des Hollywoodschinkens übertroffen wird - nicht nur wegen der künstlerischen Freiheiten, die sich der Film seinerzeit genommen hat, sondern auch, weil eine natürliche Reaktion darauf mittlerweile ein „ wer oder was ist Ben Hur?“ wäre. Und das nicht zu Unrecht. Das Erbe das Schicksal droht vermutlich auch Asterix. Aber ich schweife ab. Die Frage, inwiefern die Wagenrennen des Circus Maximus als eine Art Vorläufer moderner Sportveranstaltungen gesehen werden können, bleibt alleine deswegen relevant, weil die römische Gesellschaft in vielen Facetten verführerisch modern zu sein scheint - ein Anschein, der sich bei näherer Betrachtung allzu oft einer geradezu verwirrenden Fremdartigkeit Platz macht. Ob diese Facetten von Karl-Wilheln Weebers Buch eingefangen werden können, soll diese Rezension zeigen.

Im 1. Kapitel, ""Würdigung des weltbehrrschenen Volkes" - Der Circus Maximus “, erfahren wir, dass die Spiele (ludis) vermutlich hinter den Stadtgründer Romulus zurückreichen. Ähnliches gilt für Wagenrennen: diese veranstalteten die Römer mindestens, seit sie die Sümpfe zwischen den sieben Hügeln trocken legten. Ihre Ursprünge liegen im Dunkel der Geschichte verborgen, was auf alle Arten der Spiele zutrifft, auch auf die berühmten Gladiatorenkämpfe. In jedem Fall widmeten die Römer den Wagenrennen mit dem Circus Maximus eines der beeindruckendsten Bauwerke aller Zeiten. Auf Tribünen aus Stein und Holz fasste es zu seinen Hochzeiten über 250.000 Zuschauer*innen. zahlreiche edle Marmorelemente und andere Dekorationen schrien Ruhm und Stärke Roms in die Welt hinaus.

Dabei hatten die Spiele anders als unsere heutigen Massenspektakel nicht nur eine eskapistische, säkulare Dimension, sondern auch eine religiöse, wie Kapitel 2, ""Klatsch mit begeisterter Hand Venus zu!“ – Die Götter“, aufzeigt. Ursprünglich einmal waren die Spiele eine Form des Gottesdienstes. Kein Wunder, dass die frühen Christen sich mit den Besuchen diese Spiele und ihrem Genuss so ungemein schwer taten. Auch das galt selbstverständlich gleichermaßen für die Gladiatorenspiele, jedoch war in den Worten Weebers keines der Spiele so eng mit Gottesdiensten verknüpft wie die Wagenrennen. Ausführliche Prozessionen zu Ehren der Götter gehörten zur Standarddramaturgie jedes Spieltags. Ihnen zu ehren wurde geopfert und teilweise auch gefahren.

Weeber geht im Folgenden davon aus, dass diese religiöse Komponente mit der Zeit mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt wurde und den Zeitgenossen ihr lästige Pflicht als Herzensangelegenheit war, beinahe so, wie man heutzutage die Werbeeinblendungen in der Halbzeit erdulden würde. Ich halte dies für eine problematische Interpretationslinie, weil heutige säkulare Maßstäbe auf die Vergangenheit anzuwenden immer gefährlich ist und meine grundsätzlich die Religion vergangene Völker ernstnehmen sollte. das nicht ernstnehmen der eigenen Religion ist ein Privileg der Moderne und wird zwar ständig auf das römische Reich zurückprojiziert, aber genau das ist anachronistisch.

Dass die Römer die Herkunft vieler religiöser Symbole wie etwa der delphinförmigen Rundenanzeiger oder der ebenfalls in diesem Kontext genutzten Eier nicht mehr genau kannten und bestimmen konnten, steht hierzu in keinem Widerspruch. Die heutigen Christen können einen Großteil der Bibel auch nicht vernünftig deuten und kennen die Herkunft der allermeisten Rituale ebenfalls nicht. Gleichwohl sollte man dies als mangelnden Glaubens Eifer oder gar als ironische Distanz zur eigenen Religion begreifen.

In Kapitel 3, ""Hunderttausende, um des Scorpus Nase zu vergolden" - Die Geldgeber", wird es dann allerdings deutlich säkularer. Die Spiele kosteten Unsummen, umso mehr, je prächtiger sie im Lauf der Zeit wurden und desto mehr ist von ihnen gab. Die allgemeine Erwartung war, dass sie kostenlos waren. Gerne verlangte der Plebs auch noch Speis und Trank. Bezahlt wurden die Spiele durch Politiker. Für die Spender war dies eine meist willkommene Gelegenheit, sich volksnah zu geben und in der Dankbarkeit und Begeisterung der Masse zu baden - entscheidende Voraussetzung für die eigene politische Karriere. Das war allerdings keine freiwillige Wahlkampfmaßnahme: das Ausrichten von Spielen gehörte schlichtweg zu den Pflichten des gewählten Politikers, was natürlich zeitgleich zuverlässig garantierte, dass nur Superreiche sich für politische Ämter bewerben konnten.

Eine eigene Begeisterung für die Spiele wurde dabei erwartet: ein Amtsträger konnte noch so großartige Spiele feiern; wenn er nicht wie merklich 2006 begeisternd jubelnd in der luxuriösen Ausrichter Tribüne zu sehen war, galt dies schnell als Ausweis mangelnder Volksnähe. Man sollte dies trotz allem nicht mit der Volksnähe verwechseln, wie sie Currywurst mampfende Politiker*innen heute auf Marktplätzen zur Schau zu stellen versuchen: die römische Gesellschaft war eine Klassengesellschaft, und die Beschäftigung mit den Spielen eigentlich etwas, das als unfein galt. Diese Quadratur des Kreises gehörte zu den vielen Herausforderungen des römischen politischen Alltags.

Besonders zur Kaiserzeit konnten die Spiele auch als politische Arena für eine Art Simulation der Volksbeteiligung genutzt werden: neben den bereits erwähnten sakralen Elementen kamen dann politische hinzu, wenn das Volk in der Arena quasi plebiszitär die Nähe zum Kaiser und seine Politik suchte oder aber ihr Missfallen kundtat.

Ein kurioses Detail zum Schluss: die Spiele waren auch deswegen so teuer, weil sie monopolistisch ausgerichtet wurden. Es gab nur vier Rennställe, von denen wir später noch mehr hören werden, die den Markt quasi unter sich aufteilten und den Ausrichtenden die Bedingungen diktierten. Obwohl es immer wieder Versuche gab, diese Monopole zu brechen, hatte niemand ernsthaften Erfolg damit - ein weiterer schlagender Beweis, der ist auch Augustus zu sein keine absolute Macht konferierte.

Kapitel 4, ""Lasse, Dämon, die Pferde der anderen stürzen" - Die Fans", wendet sich dann dem Publikum zu. In einer weiteren deutlichen Parallele zu unseren heutigen Massensportveranstaltungen waren die Römer (und an dieser Stelle sei kurz darauf hingewiesen, dass mit „Römer“ hier stets die Stadtbevölkerung gemeint ist) begeisterte Fans ihrer jeweiligen Partei. Die vier nach Farben benannt Rennställe der Grünen, Weißen, Blauen und Roten hatten ihre fanatischen Anhänger*innen („fanatisch“ kommt sowohl bei Weeber als auch in den Quellen häufig vor), die niemals den Stall wechseln würden. Es gibt sogar zahlreiche überlieferte Flirttipps, die einerseits das Gedränge des  Circus Maximus in einer absolut nicht mit #MeToo kompatiblen Weise ausnutzen und die Etikette für Anhänger*innen gegnerische Rennställe beschreiben.

Auch manche Kaiser waren überzeugte Anhänger eines bestimmten Rennstalls, den sie dann auch gerne mit großzügigen Belohnungen, Spenden und Hilfen bedachten. Überwiegend waren die Kaiser - wie auch ein Großteil der Bevölkerung - Fans der Grünen, die mit Abstand die meisten Siege einfuhren. Es ist mir unbegreiflich, wie Weeber dem Vergleich mit dem FC Bayern München widerstehen kann.

Aus heutiger Sicht eher fremdartig ist der Rückgriff auf höhere Mächte: zahlreiche Fluchtafeln sind überliefert, auf denen die Fans irgendwelche Dämonen darum bitten, gegnerische Pferde und Wagenlenker tödlich verunglücken zu lassen. Das heutige Konzept sportliche Fairness war den Römern ohnehin nicht geläufig, wie wir bei der Betrachtung der Wagenlenker auch noch sehen werden.

Das fünfte Kapitel, ""Rom ist in Trauer, wenn die Grünen verlieren" - Die Renngesellschaften", wendet sich dann dem geschäftlichen Teil der Rennen zu. Die Renngesellschaften waren kapitalistische Riesenbetriebe. sie beschäftigten Hunderte von Angestellten, die eine unglaubliche Masse von Pferden trainieren und unterhalten mussten, die die Stars hegten und pflegten, das Marketing betrieben und natürlich die Verhandlungen mit den Spielgebern durchführten. Viele Details sind leider nicht bekannt, aber das etwa so etwas wie VIP Lounges oder exklusive Zugang für zahlungskräftige Fans existiert haben müssen, ist vergleichsweise gut aus den Quellen ableitbar.

Kapitel 6, ""Du Star des lärmenden Zirkus, du Wonne Roms" - Die Wagenlenker", beschäftigt sich dann mit den Stars der Show. Trotz der gewaltigen Bedeutung der Spiele im Alltag der Römer waren die Wagenlenker genauso wie Gladiatoren und Schauspieler am absoluten Boden der sozialen Hierarchie zu finden. Wenig überraschend ist daher, dass viele von ihnen Sklaven waren oder aber Freigelassene. Dem unbenommen war, dass die großen Stars - ein winziger Prozentteil aller Wagenlenker - gewaltige Summen verdienen konnten. Das galt sogar für Sklaven, so dass die Wagenrennen ein Element der sozialen Aufwärtsmobilität besaßen. Diese sollte man gleichwohl nicht überschätzen, da es einerseits nur einige wenige Glückliche betraf, während der Großteil früh aufgrund von Unfällen aus dem gefährlichen Geschäft ausschied und andererseits der soziale niedrige Stand auch für Megastars nie abgeschüttelt werden konnte.

Solange der Erfolg anhielt, erhielten diese Megastars aber oft die licentia, also die Erlaubnis zum Brechen gesellschaftlicher Normen, wie wir sie heute unseren Stars auch gerne einräumen. Auffällig ist auch, wie die Renngesellschaften ihre jeweiligen Stars förderten, indem die wenigen prominenten Wagenlenker des Stalls solcherart fuhren, dass die Stars den Sieg einfahren konnten.

Die Rennen waren allerdings ungeheuer gefährlich. Die Wagen verfügten über keinerlei Sicherheitsmechanismen und fuhren halsbrecherische Manöver im Kampf um Sekundenvorteile. Kam es zu einem Unfall, wurden die Wagenlenker oft mitgeschleift. Wenn sie Glück hatten, wurden sie aus dem Wagen geschleudert. Setzt man das in Beziehung zu der Masse an Rennen, die diese Fahrer fahren mussten - es gibt eine eigene Königsklasse von Fahrern, die eine vierstellige Anzahl Siege (wohlgemerkt nicht Rennteilnahmen, sondern Siege!) eingefahren hatten - so wird das gewaltige Risiko deutlich. Wie bereits erwähnt war Sportlichkeit kein den Römern bekannter Wert: was auch immer beim Siegen half, ob Abdrängen oder andere Manöver, die heute zu einer sofortigen Disqualifizierung führen würden, war erlaubt.

Das siebte Kapitel, ""Den Hengst Incitatus soll er zum Consuln bestimmt haben" - Die Pferde", widmet sich der treibenden - oder besser: ziehenden - Kraft hinter den Spielen. Die Pferde waren teilweise bekannter als die Wagenlenker selbst. Mit geradezu religiöser Inbrunst diskutierten die Römer die Vorzüge verschiedener Pferde und bejubelten diese genauso wie ihre menschlichen Fahrer. Dabei gab es unterschiedliche Arten von Pferden, je nachdem, an welcher Stelle des Gespanns sie eingesetzt wurden. Intime Kenntnisse über die Details der Wagenpferde gehörten zum Standardrepertoire des Smalltalks in Rom. Die berühmte Geschichte über Caligula, der angeblich ein Pferd zum Konsul ernennen wollte, ist zwar höchstwahrscheinlich erfunden, zeigt aber gut diese Begeisterung.

Kapitel 8, ""Ein größeres Schauspiel als das Rennen selbst" - Die Zuschauer", beschäftigt sich dann mit der Erfahrung des Rennens aus Zuschauer*innensicht. Der Lärm des Geschehens muss ohrenbetäubend gewesen sein. Der Zirkus war zudem trotz aller monumentalen Größe furchtbar eng und unbequem. Zu allem Überfluss war er auch noch gefährlich: Zwar hatten die Römer bei der Konstruktion beeindruckende Vorsicht walten lassen, was Evakuierungsprozesse und ähnliches angeht, doch all das half wenig, wenn eine schlecht gebaute Holztribüne zusammenbrach oder gar ein Brand ausbrach.

Etwas abenteuerlich wird der Aspekt komme in dem Weeber die Allgegenwärtigkeit der Zirkusrennen beschreibt, indem er als Beispiel sind die Überlieferung hernimmt, nach der Nero von seinem Privatlehrer gemaßregelt worden war, weil er sich lieber mit seinem Sitznachbarn über die Pferde unterhielt als über den Lernstoff. Hier zeigt sich ein Problem, das Weebers komplettes Buch durchzieht: ein wesentlich zu großes Vertrauen in die Quellen, vor allem was Anekdoten anbelangt. Die Versuchung, eine Knoten zu erzählen, ist gerade in der populärgeschichtlichen Darstellung stets vorhanden. Umso mehr allerdings muss man versuchen ihr zu widerstehen, und dies gelingt Weeber leider überhaupt nicht.

Kapitel 9, ""Der Zugang zum Circus führt durchs Bordell" - Dirnen, Astrologen und Co", ist wenigstens ehrlich, was die schlechte Quellenlage betrifft. Genauso wie in Kapitel 8 haben wir zwar zahlreiche kritische Quellen über die moralischen Zustände der Umgebung des Zirkus, aber es ist deutlich unklarer, inwieweit diese verallgemeinerbar oder überhaupt glaubwürdig sind und nicht einfach nur dem römischen Lieblingsgenre des Beschwerens über die aktuellen Sitten und ihren Verfall gegenüber der Zeit der Vorväter entsprechen. Auch dieses Problem kennen wir natürlich aus unserer eigenen Medienlandschaft nur zu gut. Das ist im Umfeld der Spiele Prostitution und Sauferei gab können wir wohl als gegeben annehmen, da es sich mit unseren Kenntnissen der menschlichen Natur deckt.

Insgesamt fällt es mir schwer eine Kaufempfehlung für dieses Buch auszusprechen, auch wenn es sich leicht liest und nicht übermäßig lang ist. So interessant einzelne Aspekte wie die religiösen Ursprünge der Spiele auch sein mögen, so misstrauisch macht mich das wörtlich Nehmen der Quellen und die Verliebtheit in Anekdoten. Dies scheint bei dieser Buchserie allerdings so etwas wie ein Dauerthema zu sein.

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