John Foot - Blood and Power. The Rise and Fall of Italian Fascism (Hörbuch)
Besonders unter amerikanischen Linken ist es derzeit leider Mode geworden, den Faschismusbegriff inflationär gegen politische Gegner einzusetzen. Gleichzeitig sind Mächte im Aufstieg, die nur noch als protofaschistisch zu beschreiben sind, während in Italien eine Regierung fleißig an der Rehabilitation Mussolinis arbeitet. Es macht daher Sinn, sich mit dem historischen realen Phänomen des Faschismus auseinanderzusetzen und es besser zu verstehen. Den Anspruch, hierzu beizutragen, hat das vorliegende Werk von John Foot. Er möchte die Realität des Faschismus im Alltag der Italiener*innen begreiflich machen, statt eine Art verkappte Biografie Mussolinis zu schreiben. Dieser Anspruch gefällt, weil die systemischen Ursachen deutlich relevanter sind als die in der Person liegenden.
Die Erzählung beginnt 1911 mit einem Anschlag. Als italienischen Soldaten befohlen wird, sich nach Libyen aus zu Schiffen um dort für Italien ein Kolonialreich zu erobern, weigerte sich ein Soldat auf die spektakulärstmögliche Weise, indem er sein Gewehr von der Schulter nahm und einen Schuss auf seinen Oberst abgab. Das Militär versucht die Peinlichkeit später zu vertuschen, indem es den Attentäter als geisteskrank abqualifizierte, anstatt ihn zu exekutieren, während die Linke in einem Märtyrer für die gerechte Sache machte. die Episode wirft in jedem Fall ihre Schatten auf die Zukunft voraus.
Nach dieser gefühligen Einstimmung wendet sich Foot dem Thema der Gewalt zu. Im Juni 1914 brach eine Rebellion in weiten Teilen Italiens aus, die aus einem Generalstreik herrührte und für eine Woche das Leben im Land praktisch lahmlegte bevor die Gewerkschaften schlicht den Sieg deklarierten und die Arbeiter nach Hause schicken. Für die Linke bewies dass die Schlagkraft des Instruments Generalstreik, die sich in der Realität nie wiederholen ließ, für den gesamten Rest die eklatante Gefährlichkeit der Linken.
Der Erste Weltkrieg war ein unglaublich polarisierendes Ereignis für die italienische Gesellschaft. Er rief viel Widerstand hervor, viel mehr als etwa in Deutschland, Frankreich oder Großbritannien. Deswegen war die Militärdisziplin innerhalb der italienischen Armee auch wesentlich harscher als in praktisch jeder anderen beteiligten, mit deutlich mehr Todesurteilen, Strafbataillonen und ähnlichem. Auch die Durchsetzung militärischer Disziplin basierte auf wesentlich drakonischeren und deutlich schneller angewendeten Strafen als in vielen anderen Armeen. Dass die italienische Armee im Ersten Weltkrieg zudem eine furchtbare Performance ablieferte und selbst gegen die österreichische Armee nicht bestehen konnte, half in dieser Situation wenig.
Sowohl die Sozialisten als auch die Rechtsradikalen zogen aus dem Krieg ihrer eigenen Helden. Für die Sozialisten waren dies aufrechte Pazifisten, die den Kriegsdienst verweigerten oder protestmaßnahmen organisierten, wä rend auf Seiten der Rechten auf der einen Seite die elitären Sturmtruppen und auf der anderen Seite solche Offiziere besonders hervorgehoben wurden, die mit harschen Maßnahmen - in der italienischen Armee kamen offizielle Dezimierungen systematisch vor! - die Disziplin aufrechterhielten. Diese Polarisierung führte einerseits zu einer Klärung von politischen Lagern, andererseits aber auch zu politischen Wechseln. Der folgenreichste dieser Wechsel war der von Mussolini von einem erklärten Gegner zu einem fanatischen Unterstützer des Krieges, der zu seinem Ausschluss zuerst aus der sozialistischen Zeitung Avanti und dann aus der Partei führte und ihn von ganz links nach ganz rechts zu der frühen faschistischen Bewegung führte. Was diesen Wandel in Mussolini auslöste, wird von Foot allerdings nicht erklärt.
Der Krieg endete zwar mit einem Sieg Italiens, aber bei weitem nicht mit dem Erreichen der gesteckten Kriegsziele. Dieser „verstümmelte Sieg“ (vittoria mutilate) bestätigte beide Seiten in ihrer jeweiligen Haltung: die Sozialisten waren noch überzeugter, dass ihr Widerstand gegen einen sinnlosen Krieg gerechtfertigt war, während für die Rechten in genau diesem Widerstand der Grund für die Niederlage lag. Direkt nach dem Krieg war es die Linke, die sich durchsetzen konnte. Bei den Wahlen 1919 fuhr sie einen großen Sieg ein und die weite Unzufriedenheit brach sich in Streiks und Demonstrationen bahn. Immer wieder kam es zu vereinzelten Aufständen, vorher exilierte Berufsrevolutionäre kehrten unter großem Medienecho zurück und die Arbeiter erreichten ähnliche Erfolge wie in anderen Ländern auch, vor allem Lohnsteigerungen und die Einführung des Achtstundentages.
Die Stimmung schwankte beständig zwischen der Erwartung einer Revolution und einer permanenten Bereitschaft zu Protesten auf der Straße und einem Zurückschrecken vor dem Ernstmachen der eigenen revolutionären Rhetorik. Immer wieder entschlossen sich linke Führer, ihre eigenen Anhänger zurückzuhalten und eine Revolution doch nicht durchzuführen. In einer besonderen Farce gab es sogar an einem Punkt eine offizielle Abstimmung, ob man eine Revolution durchführen wolle oder nicht, die mit einer Entscheidung dagegen endete. Die „Roten Jahre“ 1919/20 Endeten mit einem deutlichen Verlust von Initiative und Schwung auf Seiten der Linken. Doch entscheidend war, dass vor allem das Bürgertum zu dieser Analyse völlig unfähig war und sich in eine Art kollektive Hysterie steigerte, in der es eine absurde Furcht vor den Linken und vor linker Gewalt hatte, die sich zwar real seltenst manifestierte, aber in der Imagination sowohl der Linken selbst als auch der Bürgerlichen permanent präsent war. Aus dieser hysterischen Dauerfurcht er wuchs ein brennender Wunsch nach „Ordnung“ in irgendeiner Form.
Das Jahr 1919 sah auch die offizielle Gründung der faschistischen Bewegung. Sie bestand hauptsächlich aus Schlägertrupps, die sich als squadristi bezeichneten, eine bewusste Anlehnung an die elitären Sturmtruppen des Ersten Weltkrieges. Sie enthielten auch viele Veteranen des Krieges, wie die deutschen Freikorps allerdings auch diverse Cosplayer. Im Gegensatz zu den linken „Revolutionären“ machten die Faschisten von Anfang an ernst mit ihrer gewaltsamen Rhetorik: sie attackierten vor allem Gewerkschaftseinrichtungen und bekannte Linke. Ihre Rhetorik war allerdings nicht revolutionär, sondern behauptete ständig, man wolle „die Ordnung wiederherstellen“. Besonders im Süden fiel ihnen dies sehr leicht, weil sie personell und strukturell mit den Mazzieri verschmolzen, Schlägertrupps der Landbesitzer (bewaffnet mit einem eisenbeschlagenen Knüppel, der mazza), mit denen diese traditionell die Landbevölkerung terrorisierten und damit die Machtverhältnisse stabil hielten. Gewalt war im italienischen Gesellschaftssystem ein integraler Bestandteil, weswegen anders als etwa in Deutschland der Faschismus diese nicht zuerst etablieren musste.
Die Gewalt gegen die Linken war dabei meistens nicht tödlich, sondern zielte auf deren Einschüchterung und Demütigung ab. Neben der Rhetorik von Ordnung Relativierten die Faschisten ihre Gewalt daher permanent, indem sie sie als eine Art Streich oder Scherz darstellten. Sie sprachen über Ihren Terror, als wäre alles nur ein großer Spaß und inszenierten ihn auch entsprechend. Dies erlaubte dem Staat und dem Bürgertum, die massive real existierende Gewalt anders als die überwiegend rhetorische seitens der Linken auszublenden. Die Faschisten dokumentierten ihre Gewalt auch fotografisch, indem sie Gruppenfotos vor und nach der Tat aufnahmen und so das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken. Diese Gewalt nahm ab 1920 massiv zu und löste so die „Roten Jahre“ mit den „Schwarzen Jahren“ 1920/21 ab.
In diesen Jahren systematisierten die Faschisten ihre Gewalt gegen linke Amtsträger und Gewerkschafter mit dem Ziel, diese aus ihren Machtpositionen zu vertreiben. Immer wieder schlugen linke Gruppen zurück und versuchten ihrerseits Gewalt gegen die Faschisten auszuüben, aber ohne übergeordnete Organisation blieben dies stets vereinzelte Maßnahmen, die stets einen großen Backlash hervorriefen, weil die Staatsmacht sie im Gegensatz zur rechten Gewalt unnachgiebig verfolgte und weil sie die Legitimation der Faschisten zu bestätigen schienen: wann immer die Linken zurückschlugen, war dies ein Beweis für die Rechtmäßigkeit der faschistischen Gewalt, die sich als Verteidiger der Ordnung inszenierte. Die Faschisten inszenierten ihre Gewalt zudem als eine offene und ehrliche, ehrenhafte Gewalt, die direkt mit dem Krieg assoziiert wurde, während sie linke Gewalt als hinterhältig charakterisierten und die Linken selbst als Deserteure bezeichneten, die ihr Vaterland verraten hätten.
In diesen „Schwarzen Jahren“ (nach der offiziellen Uniform der Faschisten, dem schwarzen Hemd) verschmolzen die Squadristi, die Polizei (Carabinieri) und das Militär immer mehr miteinander. Eine Art Auslöser hierfür war ein linker Anschlag auf zwei Militärlastwagen, die Matrosen zu einer Niederschlagung eines Streiks befördern sollten. Diese Militärlastwagen wurden von den Faschisten bei ihren eigenen Gewaltoperationen permanent verwendet, weswegen die Linken der Überzeugung waren, es mit Faschisten zu tun zu haben. Die ermordeten jungen Matrosen schienen alle Vorurteile gegenüber den Linken zu bestätigen und gaben erstklassige Märtyrer für den Faschismus ab, der nun endgültig mit den exekutiven Kräften verschmolz: immer öfter beteiligten sich Polizei und Militär an den Terroraktionen der Faschisten.
Auf diese Art und Weise „säuberten“ die Faschisten ganze Landstriche: in der Nacht umstellten sie das Haus eines Gewerkschaftsfunktionärs oder linken Amtsträgers, ermordeten oder entführten ihn, folterten ihn und zwangen ihn zur Aufgabe seines Mandats. Durch diese methodische „Säuberung“ existierte in vielen Regionen bald keinerlei demokratisch gewählte Regierung mehr. Die Faschisten ihrerseits inszenierten sich als legitime Regierung, indem sie ihre Terrorakte durch offizielle Proklamationen legitimierten, die seitens der Regierung stellen schlicht akzeptiert wurden.
Der Höhepunkt dieser Taktik wurde 1921 erreicht. Trotz massiver Einschüchterung und Unterdrückung gewannen die Sozialisten den größten Anteil der Mandate. Zum ersten Mal waren die Faschisten mit einigen Abgeordneten offiziell im Parlament vertreten. Sie brachten die Gewalt direkt ins Parlament: gewaltsam warfen sie einen Wortführer der Linken heraus und verwehrten ihm und anderen den Zutritt. Die Polizei unterstützte sie dabei und die Liberalen im Parlament gaben der Operation ihren Segen und akzeptierten die faschistische Argumentation, dass der Amtsträger durch seinen Widerstand gegen den Krieg als Vaterlandsverräter gesehen werden müsse. Dieser krasse Verstoß gegen die Ergebnisse einer demokratischen Wahl, die parlamentarische Immunität und jegliche verfassungsmäßige Ordnung war der wohl größte Sündenfall, der die italienische Demokratie de facto tötete.
Der reale Tod folgte kurz darauf. Die Faschisten machten sich daran, ermutigt durch ihre Erfolge und den geringen Widerstand, die Zentren der Sozialisten auszuschalten. Besonders Ravenna hat es Ihnen hier angetan, schon allein, weil die Stadt der Ort der „Roten Woche“ 1914 mit ihrer Gegnerschaft gegen den Krieg war. In einer „Schwarzen Woche“ tilgten die Faschisten in die Erinnerung an das Ereignis genauso aus wie die sozialistischen Machtstrukturen.
Was soll hier nicht der Eindruck erweckt werden, von den Linken sei keine Gewalt ausgegangen. Die in Sozialisten, Kommunisten und Anarchisten gespaltene und sich gegenseitig erbittert bekämpfende Linke agierte nur weder so planmäßig noch so propagandistisch geschickt wie ihre Gegner. Ein Beispiel hierfür ist ein anarchistischer Terroranschlag auf ein bourgeoises Theater. Das Ziel war symbolisch und richtete sich gegen den Klassenfeind, sodass sicher davon ausgegangen werden kann, den kompletten Start und die maximal mögliche Breite der Gesellschaft gegen sich zu mobilisieren. Im Prozess inszenierten sich die Täter desinteressiert, während die Familien der Opfer ihre Leidensgeschichten zum Besten gaben, und hielten große Reden von der kommenden Revolution. Die Faschisten indes erklärten die Opfer zu Märtyrern und schworen Rache im Namen der Liberalen Gesellschaft, die sie in Wirklichkeit genauso verachteten.
Weiter geht es in Teil 2.
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