Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal komplett zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) The Hard Reality: Ukraine’s Last-Gasp Offensive Has Failed
Der erste Teil dieser Serie analysierte die Erfolge der ukrainischen Streitkräfte (UAF) im Jahr 2022 und ihre hoffnungsvolle Ausgangslage für 2023. Trotzdem wurden die ukrainischen Führer im Laufe des Jahres von schlechten Entscheidungen, einer Überschätzung ihrer eigenen Kapazitäten und einem übertriebenen Vertrauen in westliche Militärausrüstung geplagt. Schon im Januar 2023 berichteten westliche Medien über eine "Frühjahrsoffensive" der Ukrainer, während Russland aufgrund von Kämpfen um Kharkiv und Kherson geschwächt war. Russlands Mobilisierung verlief holprig, und bis zu 700.000 junge Männer sollen geflohen sein. Die Schlacht um Bakhmut, eine mittelgroße Stadt, wurde für die Ukraine zum Desaster. Anstatt sich auf eine defensivere Position zurückzuziehen, ordnete Präsident Zelensky an, die Stadt um jeden Preis zu verteidigen. Seine Unnachgiebigkeit und der Einsatz von Ressourcen für eine unwichtige Stadt führten dazu, dass die Ukraine kritische Brigaden für ihre Offensive verlor. Trotz westlicher Ausbildung und Ausrüstung stieß die ukrainische Offensive an Grenzen. Es fehlten gut ausgebildete Führungskräfte und die notwendigen Ressourcen. Russlands Verteidigungssystem mit Minen und Luftüberlegenheit machte die Offensive zum Scheitern verurteilt. Trotz einiger Fortschritte im Laufe von drei Monaten war die Offensive nicht erfolgreich. Die US-Politik der Unterstützung für die Ukraine muss angesichts dieser Realität überdacht werden. Die militärischen Grundlagen waren gegen die Ukraine, und es ist Zeit, neue Strategien anzugehen. Der letzte Teil dieser Serie wird diskutieren, wie die USA die Situation verbessern und das beste Ergebnis für sich und die Ukraine erzielen können. (Daniel Davis, 1945)
Die Lage in der Ukraine bleibt weiterhin eine Blackbox. Zwar liest man in den Medien beständig irgendwelche im Ton absoluter Autorität vorgetragenen Analysen, nach denen die Lage für die Ukraine wahlweise positiv, hart, besorgniserregend oder aussichtslos ist, aber letztlich gilt das Gesetz des Nebels des Krieges: niemand weiß Genaues. Mich stören auch die ständigen Strohmänner, die in dieser Debatte gerne vorgebracht werden. So ist Davis‘ Hinweis darauf, das Trainingszeiten eher in Jahrzehnten als in Wochen gemessen werden müssen, natürlich absolut korrekt; zu insinuieren, dass die argumentative Gegenseite je ernsthaft der Überzeugung war, die ukrainische Armee könne innerhalb von zwei Monaten perfekt die Nutzung westlichen Kriegsgeräts erlernen, scheint mir allerdings sehr unaufrichtig (siehe zu der Thematik auch dieses Q&A.) Das Gleiche gilt selbstverständlich auch für die in manchen Kreisen mittlerweile sehr in Mode gekommene Nutzung des Vorwurfs der Kollaboration mit Putin, wenn die eigene Position nicht geteilt wird. Ich empfinde das beobachten diese Debatte immer mehr als ermüdend.
Der Artikel diskutiert das Problem der geringen Wählerbeteiligung und die Überforderung der amerikanischen Wähler durch eine übermäßige Anzahl von Wahlen auf lokaler Ebene. Die Vielzahl von Wahlen, Ämtern und politischen Fragen überfordert die Bürger, was zu geringer Teilnahme führt. Die Autoren betonen, dass die Schuld nicht den Wählern zuzuschreiben ist, sondern dem komplexen System. Die Fülle an Entscheidungen und der Mangel an verständlichen Informationen erschweren eine sinnvolle Teilnahme. Eine Koordinierung der Wahlen mit nationalen Terminen könnte die Beteiligung erhöhen, aber das allein reicht nicht aus. Stattdessen sollte das System demokratische Teilnahme erleichtern, durch Reduzierung der Anzahl von Wahlen, bessere Wählerbildung und Schutz vor Einflussnahme von Sonderinteressen. Die Autoren schließen, dass eine effektive Demokratie auf eine angemessene Balance zwischen Bürgerbeteiligung und rationalen Erwartungen achten muss. (Jerusalem Damsas, The Atlantic)
Ich habe schon immer die Masse der Wahlen in den USA mit großer Skepsis betrachtet und in den letzten Jahren meine Ablehnung von allzu viel direkter Demokratie und Wählerei immer mehr geschärft. Was man gerade bei den amerikanischen Wahlen über mehrere Jahrzehnte und eine breite empirische Basis problemlos erkennen kann, ist an den (glücklicherweise wenigen) solchen Wahlen in Deutschland ebenfalls feststellbar: die Wahlbeteiligung ist extrem niedrig und liegt überproportional bei einer sehr kleinen, homogenen und vom gesellschaftlichen und ökonomischen Status eher höher rangigen Gruppe Aktivistisch motivierter Menschen. Die demokratische Theorie schafft sich so häufig eine eher olokratische Realität, in der sehr kleine Mengen Menschen in vergleichsweise intransparenter Weise weitreichende Entscheidungen treffen. Das beste Beispiel dafür ist die absolute Unsitte der Amerikaner, Richter*innen zu wählen. So viele systemische Probleme des amerikanischen Rechtssystems kommen aus dieser Einrichtung, wo wir mit unserem verbeamteten Karrierepfad wesentlich besser fahren. Ich bin überzeugt davon, das ist der beste Kompromiss zwischen demokratischer Beteiligung des Souveräns und der Kontrolle des Einflusses von Partikularinteressen das Wählen von Repräsentant*innen bleibt.
3) Cultural Capital Is No Substitute for Cold, Hard Cash
Der Artikel bespricht das Buch "Status and Culture: How Our Desire for Social Rank Creates Taste, Identity, Art, Fashion, and Constant Change" von W. David Marx und beleuchtet die Dynamik zwischen kulturellem Kapital, sozialem Status und ökonomischer Ungleichheit. Der Autor beschreibt, wie der Film "The Talented Mr. Ripley" als Anleitung zur Nachahmung von Verhalten und Stil der Oberschicht dienen kann. Marx argumentiert, dass die Digitalisierung und die Demokratisierung des Geschmacks traditionelle Klassensignale geschwächt, jedoch die Ungleichheit nicht beseitigt haben. Er zeigt auf, dass Reichtum nun ein offensichtlicheres Kriterium für Statusunterscheidung ist. Der Autor diskutiert, wie kulturelles Kapital und Statusungleichheit miteinander verknüpft sind, betont jedoch, dass die Demokratisierung von Symbolen nicht zwangsläufig zu einer demokratischen Gesellschaft führt. Marx sieht eine Tendenz zur Gleichheit im kulturellen Konsum, zweifelt aber daran, ob dies wirklich zu größerer wirtschaftlicher Gleichheit führt. Er betont die Notwendigkeit struktureller Maßnahmen zur Sicherung grundlegender sozialer Güter wie Wohnraum und Gesundheitsversorgung, um echte Chancengleichheit zu erreichen. (Eileen G'sell, Jacobin)
Ich habe dieses Argument im Zusammenhang mit den Debatten über die sogenannte Cancel Culture und den angeblich dominierenden Einfluss der Progressiven an den Universitäten immer wieder gebracht: auf kulturellem Gebiet sind die Progressiven tatsächlich führend. Das betrifft große Teile dessen, was üblicherweise unter Kultur subsumiert wird - also etwa Theater, Literatur und Film -, aber auch die Medien, wo dezidiert konservative Publikationen zahlenmäßig eine Minderheit darstellen (wenngleich ihr Einfluss ungleich größer ist als etwa des hier zitierten linksradikalen Nischenmagazins). Gleichzeitig allerdings ist dieser Einfluss nicht uniform: beispielsweise ist die Videospielbranche nicht eben ein Hort progressiver Werte. Zudem, und das ist das Wichtigste und das, was dieser Artikel und meine eigenen Bemerkungen in der Vergangenheit thematisieren, ignoriert das eben komplett die von wesentlich härterem und konkreterem, dafür aber schlechter sichtbarem Einfluss gekennzeichnete Wirkung ökonomischer Machtmittel, die sich entschieden nicht auf progressiver Seite findet.
Im Oktober letzten Jahres sah sich Colin Kahl, Pentagon-Unterstaatssekretär, in einem Pariser Hotel mit einem dringenden Problem konfrontiert: SpaceX, das Internet für die Ukraine über Starlink bereitstellte, drohte damit, den Dienst einzustellen, es sei denn, das Pentagon übernimmt die Kosten von etwa 400 Millionen Dollar pro Jahr. Musk's Einfluss auf die Situation war enorm, da Starlink essentielle Kommunikation für die ukrainischen Streitkräfte bot. Während Musk anfangs Unterstützung für die Ukraine signalisierte, änderte sich seine Haltung mit der Zeit. Er äußerte öffentlich Gedanken über Verhandlungen mit Putin und präsentierte Vorschläge zur Neugestaltung der ukrainischen Grenzen. Musk's Unbehagen über die Kriegsnutzung seiner Technologie wuchs, und er begann, sich gegen die finanzielle Belastung zu wehren. Musk's Rolle als mächtige Einzelperson im geopolitischen Kontext verdeutlichte die Abhängigkeit von Technologieunternehmen in Konfliktsituationen und die ethischen Fragen, die damit einhergehen. (Ronan Farrow, The New Yorker)
Der verlinkte Artikel ist eine riesige und lange, durchaus lesenswerte Reportage, die hier nur sehr unvollständig zusammengefasst ist. In meinem bereits oft verlinkten Artikel über die Problematik der Milliardäre schwebt die Figur von Elon Musk immer im Hintergrund, weil er ein solches Paradebeispiel darstellt und im Gegensatz zu den wesentlich effektiveren Koch-Brüdern (siehe Rezension hier) in der breiten Öffentlichkeit stattfindet. Die Abhängigkeit von einzelnen Individuen auf entscheidenden Gebieten der nationalen Sicherheit kann allerdings nicht anders als ein Problem gesehen werden. Und das ist nur eine amerikanische Perspektive: die meisten anderen Länder sind ohnehin bereits komplett von wenigen starken einzelnen Nationen abhängig, eine Abhängigkeit, die halbwegs erträglich ist, wenn sie von berechenbaren und institutionalisierten in diplomatischen Fachkräften gemanagt wird. Von den idiosynkratischen, arroganten und letztlich amateurhaft-ignoranten Stimmungsumschwüngen eines manchild wie Musk abhängig zu sein, ist eine Vollkatastrophe.
5) Der schrecklichste Paragraf im neuen Selbstbestimmungsgesetz
Das geplante Selbstbestimmungsgesetz sieht vor, dass Eltern in Deutschland für Kinder zwischen 0 und 14 Jahren alleinig darüber entscheiden können, welches rechtliche Geschlecht ihr Kind haben soll. Diese Regelung betrifft den Geschlechtseintrag, der festlegt, ob jemand als Mann oder Frau juristisch gilt. Eltern erhalten die Freiheit, das Geschlecht ihres Kindes ab der Geburt nach Belieben zu bestimmen, ohne gerichtliche Kontrolle oder Berücksichtigung des Kindeswohls. Diese Entscheidung hat langfristige Auswirkungen auf das Kind und seine Identität. Personen, die das Kind auf andere Geschlechtspräferenzen hinweisen, könnten mit Bußgeldern bestraft werden. Ab 14 Jahren können Kinder gegen den Willen ihrer Eltern ihr Geschlecht ändern, während bei 0- bis 13-Jährigen keine Instanz für eine solche Entscheidung vorgesehen ist. Diese Regelung wirft ethische Fragen auf, da sie das Kindeswohl und die langfristige psychische Gesundheit der Kinder beeinflusst. (Udo Vetter, Lawblog)
Ich bin absolut kein Experte für diese Thematik und habe mich deswegen mit Kommentaren darüber in der Vergangenheit stets zurückgehalten. Vetter argumentiert schon sehr lange gegen die entsprechende Gesetzgebung, lehnt aber auch die komplette Thematik ideologisch ab. Das heißt nicht, dass seine Argumente deswegen schlecht sein müssten: das von ihm vorgebrachte Problem, dass die Eltern die absolute Verfügungsgewalt besitzen, ist ja durchaus real. Was mich an dieser Argumentationslinie etwas verwundert, ist, dass dies ja grundsätzlich gilt: bis die Kinder 14 Jahre alt sind können die Eltern sie ja beispielsweise auch zur Mitgliedschaft in einer Kirche und zum Besuch des Religionsunterrichts zwingen, nur um ein niedrigschwelliges Beispiel zu bringen.
Mir scheint die Argumentation daher an der Stelle etwas unaufrichtig: der Einfluss der Eltern auf die Kinder und ihre Entscheidungshoheit über sie war schließlich gerade von eher konservativer Seite immer ein Grundbestandteil der Betonung der Rolle der Familie. Erst jetzt, wo dies für die ideologische Gegenseite ein Rechtsprinzip werden würde, wird urplötzlich die fehlende Selbstbestimmung von Kindern erkannt. Dasselbe gilt natürlich für die Gegenseite: üblicherweise argumentieren Progressive immer für mehr Rechte von Kindern und Jugendlichen und geben hier Eltern plötzlich die absolute Verfügungsgewalt. Dies zeigt weniger ideologische Inkonsistenz oder Heuchelei, als dass es fundamental unauflösbare Interessenkonflikte sichtbar macht. Es gibt schlichtweg überhaupt keine gute und alle Seiten befriedigende Lösung für dieses Problem.
Resterampe
a) Maybe Hunter Biden didn’t do anything wrong? Siehe dazu auch hier.
b) Armut reduziert die Hirnleistung.
c) Wie sieht das ideale Gymnasium aus?
d) Auf die SPD ist in Sicherheitsfragen weiter einfach kein Verlass.
e) Zum medialen Umgang mit der AfD.
f) Springer und seine Kampagne gegen Habeck.
g) Ein paar Daten zum Renteneintrittsalter.
h) Das zeigt übrigens auch mal wieder, wie schwachsinnig dieses "D ist nur für 2% der Emissionen verantwortlich, wir können nichts machen" ist. Der gesamte Schiffsverkehr ist 2,1% der Emissionen. Alle Sektoren, alle Länder müssen reduzieren, across the board.
i) Interessantes Interview zu einer möglichen Wagenknecht-Partei.
j) Wenig überraschend, aber trotzdem wahnsinnig wütend machend: die KPCH hat 2020 die Doktoren in Wuhan angewiesen, Covid zu verschweigen. Drecksbande.
k) Guter Essay zur Schweizer Neutralität.
l) Interessanter Blick auf den Clinton-Überschuss der späten 1990er.
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