Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) Tweet
I am not getting sick of sharing this data. Growing up in Germany I fell for the myth that Germans are hard workers. Nobody in fact works as much and as hard as Germans. I have failed to find any data that backs that up. Just a national myth at this stage. HT@landgeist pic.twitter.com/dCiSl4p7ZT
— Simon Kuestenmacher (@simongerman600) March 19, 2024
Küstenmacher liegt hier im Endeffekt demselben Irrtum auf wie andere Leute, die ständig von "hard working" reden. Er perpetuiert einen Mythos, dessen Fundament in einem bescheuerten Präsentismus liegt. "Harte Arbeit" definiert sich nicht durch die Menge geleisteter Arbeitsstunden. Nehmen wir ein Extrembeispiel: in der realsozialistischen Wirtschaft der DDR galt auch ein Acht-Stunden-Tag, aber was sagt das aus, wenn es zehntausende von Stellen gibt, die im Endeffekt keine echte Beschäftigung haben und auf denen die Zeit nur abgesessen wird? Umgekehrt kann ich in vier Stunden unglaublich fokussiert und produktiv arbeiten. Das hat mit der Zahl der insgesamt geleisteten Stunden nur mittelbar zu tun (weder lässt sich die Arbeitszeit beliebig senken noch steigern, ohne die Qualität zu beeinflussen). Die deutsche Produktivität ist eine der höchsten im weltweiten Vergleich. Die Vorstellung, dass eine reine Erhöhung der Arbeitszeit 1:1 in Produktivitätssteigerungen zu übertragen wäre (oder gar "harte Arbeit" bedeuten würde) ist einfach bekloppt. In manchen Fällen mag das zutreffen; in anderen könnte man sie vermutlich auch kürzen. Solche Vergleiche sagen schlicht: überhaupt nichts. Außer der durchschnittlichen Anwesenheit an der Arbeitsstelle.
2) Supreme Court Puppetmaster Explains How Billionaires Can Push America Right
Leonard Leo, konservativer Aktivist und Drahtzieher am Obersten Gerichtshof, erläuterte kürzlich sein Konzept für Milliardäre, wie sie die Regierung und Gesellschaft der USA nach rechts bewegen können. Er forderte dazu auf, die Gerichte mit Klagen gegen den Missbrauch der Vett.rfassung durch den Verwaltungsstaat und den Kongress zu überfluten. Leo, Mitvorsitzender der Federalist Society, bekannt als Architekt der konservativen Mehrheit am Obersten Gerichtshof, leitet ein dunkles Geldnetzwerk, das Einfluss auf die Gerichtsentscheidungen nimmt und Entscheidungen formt. Er hat auch versucht, sein Netzwerk auszubauen. Leo geriet wegen Ethikfragen ins Rampenlicht, etwa wegen arrangierter Luxusausflüge für Richter oder geheimer Zahlungen an die Ehefrau eines Richters. In einem Podcast-Interview sprach Leo über sein 1,6 Milliarden Dollar schweres dunkles Geldfonds und wie Milliardäre konservative Ziele unterstützen können. Er betonte die Notwendigkeit, das Bildungssystem zu beeinflussen, und sprach von der Schaffung von Talent-Pipelines für eine konservative Ausrichtung von K-12-Bildung und höherer Bildung. Leo betonte auch die Bedeutung der Medien- und Unterhaltungsindustrie für konservative Ziele sowie die Reformierung religiöser Institutionen. (Andrew Perez, Rolling Stone)
Es ist immer wieder erhellend, wenn das so offen formuliert wird. Genau wie im Rahmen des Project25 sind die Pläne kein Geheimnis, liegt alles auf dem Tisch - und trotzdem wird gerne so getan, als sei dies nicht der Fall. Dass die Republicans aktuell eine klare Mehrheit an den Gerichten besitzen und dies skrupellos für ihre politischen Ziele ausnutzen, ist ein besorgniserregender Trend, der schon länger anhält; die Besorgnis kommt aber weniger von der parteipolitischen Prägung. In Deutschland wäre völlig egal, welche Parteizugehörigkeit unsere Richter*innen haben (sofern nicht AfD). Dass das ein so relevanter Faktor ist zeigt, wie verrottet das Justizsystem bereits ist. Die Konservativen waren und sind auch schlicht wesentlich besser darin, Kandidat*innen auszuwählen, zu fördern und in Positionen zu bringen. Noch unter Reagan und Bush Senior wurden Kandidat*innen ernannt, die zwar grundsätzlich konservativ waren, aber eigenständig - und deswegen auch unvorhergesehene Entscheidungen trafen. Das ist nicht mehr der Fall. Absolute Linientreue ist das Gebot der Stunde, und das ist es, was zunehmend in Entscheidungspositionen ist.
3) Wie realistisch ist Jens Spahns Forderung nach einer Migrationspause?
Jens Spahn, Fraktionsvize der Union im Bundestag, äußerte erneut seine Forderung, die irreguläre Migration "auf null" zu reduzieren. Er betonte, dass der Aufenthalt ohne gültige Papiere strafbar sei und drängte darauf, die Asylanträge an den EU-Außengrenzen zu prüfen. Eine Senkung der Migration sei ein realistisches Ziel, obwohl eine Reduzierung auf null unrealistisch sei, da das Asylrecht im Grundgesetz verankert sei. Legale Zugangswege nach Deutschland sind begrenzt, vor allem für Geflüchtete aus Ländern wie Afghanistan oder Syrien. Die Idee, Asylanträge in sicheren Drittstaaten außerhalb Europas zu entscheiden, wird weiterverfolgt, jedoch gestaltet sich die Umsetzung komplex. Die Zahl der Schutzsuchenden in der EU und Deutschland bleibt hoch, wobei die Neuankömmlinge aus der Ukraine die Zahl der Asylanträge aus anderen Ländern übersteigen. (Rasmus Schreiner, Spiegel)
Wir haben diese Thematik im Zusammenhang mit Merz' Forderung nach einer völlig aus der Luft gegriffenen Zahl schon einmal diskutiert; wie seit dem Regierungswechsel üblich und Spahns neuer Rolle entsprechend legt er noch einmal eine Schippe drauf. Warum da stehen bleiben? Warum nicht eine Mordpause fordern? Oder eine Einbruchspause? Ist auch alles illegal, wollen wir auch alle nicht haben. Die Vorstellung, dass das irgendwie möglich sei, ist völlig absurd und nur wegen der Unterstellung möglich, dass die Politik bewusst Verbrechen zulasse oder gar fördere. Auffällig ist auch, dass die Gegenmaßnahmen vor allem darin bestehen, möglichst viel Grausamkeit an den Tag zu legen, unter weitgehender Missachtung der geltenden Rechtslage. Diese Dynamik sieht man in Großbritannien gerade an Rishi Sunak und seinen verzweifelten Versuchen, mit Abschiedungen nach Ruanda politisches Stroh zu dreschen.
Der Artikel berichtet über die Lage der FDP in Deutschland, insbesondere in Bezug auf die interne Parteidynamik und die politische Ausrichtung. Trotz innerparteilicher Unzufriedenheit und einem Mitgliedervotum über den Austritt aus der Regierungskoalition zeigt sich die FDP in einem Zustand der Ratlosigkeit und Unsicherheit. Ein Bezirksvorsitzender wird gelobt für seine Fähigkeit, die Parteibasis zu mobilisieren. Die Partei kämpft mit sinkenden Umfragewerten und Mitgliederzahlen. Es werden Meinungsverschiedenheiten über die politische Ausrichtung diskutiert, wobei einige Mitglieder eine konservativere Linie bevorzugen. Trotzdem scheint die FDP nicht in offene Konflikte zu geraten wie in der Vergangenheit. Einige Mitglieder äußern sich kritisch über die Beteiligung an der Regierungskoalition und die Zusammenarbeit mit den Grünen. Die Führung der Partei zeigt jedoch Zuversicht, dass sich die Situation verbessern wird, und hofft auf eine stärkere Positionierung bei der nächsten Bundestagswahl. (Christoph Schult/Severin Weiland, Spiegel)
Ich glaub das alles sofort, allein, man könnte den Artikel zu großen Teilen copypasten und "2012" drüberschreiben und hätte eine akkurate Beschreibung der FDP in ihrer letzten Koalition. Ab einem bestimmten Punkt muss die Frage gestattet sein, ob es systemisch ist, wenn eine Partei sich jedes Mal zerreißt, wenn sie in einer Koalition ist. Schwarz-Gelb 2009-2013 war ein Desaster, in dem permanent eine Unzufriedenheit mit der Regierungspolitik geäußert und eine Rückbesinnung auf "liberale Werte" gefordert wurde; nun in der Ampel wiederholt sich dasselbe Muster. Normalerweise kennt man das eigentlich eher von linken Parteien. Mir ist ja klar, dass man als Liberale*r nicht 100% zufrieden sein kann mit dem, was da geschieht, aber dasselbe gilt für Sozialdemokrat*innen und Grüne ja auch. Koalitionen sind immer Kompromisse, und vor allem die Erfahrung von 2009-2013 spricht sehr dagegen, dass das nur an den Koalitionspartnern liegt. Mir ist - vermutlich auch mangels kultureller Verankerung - nicht klar, woher das kommt.
5) Der gefährliche Pessimismus der Deutschen
In Deutschland herrscht weit verbreiteter Pessimismus, insbesondere unter den jüngeren Generationen, die mit Sorgen über den Klimawandel und das Ende des Friedens in Europa konfrontiert sind. Dieser Pessimismus hat politische Auswirkungen und könnte dazu führen, dass Menschen das Vertrauen in die Demokratie verlieren und sich von der Politik abwenden. Parteien wie die AfD nutzen diese Stimmung aus, um Ängste zu schüren und profitieren davon, wenn Menschen das Gefühl haben, dass die Politik ihre Probleme nicht lösen kann. Die aktuelle Regierung konzentriert sich hauptsächlich darauf, negative Entwicklungen zu verhindern, anstatt eine positive Vision für die Zukunft zu präsentieren. Es ist wichtig, dass Politikerinnen und Politiker eine solche Vision entwickeln, die Hoffnung und Zuversicht vermittelt und die Bürgerinnen und Bürger dazu motiviert, sich für eine bessere Zukunft einzusetzen. (Maria Fiedler, Spiegel)
"Pessimismus kann dazu führen, dass sich Menschen von der Demokratie verabschieden. Dass sie, überfordert von der Flut an negativen Schlagzeilen, keine Nachrichten mehr lesen. Dass sie das Vertrauen verlieren in den Staat und seine Institutionen. Und dass sie aus dem Gefühl heraus, die Politik könne die Probleme ohnehin nicht lösen, am Wahltag zu Hause bleiben." Nachrichten waren schon immer eher negativ geprägt. Aber dass ein Vertrauensverlust in Staat und Institutionen besteht, ist kaum von der Hand zu weisen. Das Ansehen ist auf einem Tiefstand. Ich habe zuletzt im Vermischten vom 02.04.2024 argumentiert, dass deswegen ein offensiveres Werben notwendig ist, dass Staat und Institutionen um dieses Vertrauen kämpfen. Das passiert viel zu wenig. Ich bin auch nicht sicher, ob das ursächlich mit dem Grundpessimismus zusammenhängt. Ich kann ja Vertrauen in das Funktionieren des Bundestags haben und trotzdem Furcht vor der Klimakrise haben, oder Vertrauen in die Rechtsprechung und dennoch gesellschaftliche Konflikte durch Migration, und so weiter.
Resterampe
a) The era of random right-wing terrorism is over. Ich finde das Wort "Terrorismus" völlig fehl am Platz hier.
b) Und deswegen, meine Freunde, ist die CDU die erfolgreichste Partei Deutschlands. Die können einfach Politik wesentlich besser als ihre Konkurrenten.
c) Das Sozialstaatsdilemma gut auf den Punkt gebracht.
f) Christian Stöcker im Interview über sein neues Buch. Wird sicher keine Stoecker-Hasser auf seine Seite bringen, aber wen's interessiert...
g) Gleiches gilt für dieses Interview mit Christian Lindner.
h) Spannendes Interview zum Thema Friedman vs. Tobin, wobei ich sagen muss, dass es mir ein wenig zu hoch ist. Ich bin einfach kein VWLer.
i) Benjamin Netanyahu Is Israel’s Worst Prime Minister Ever. Ich habe mich gefragt, ob die Democrats darauf als Wahlkampffthema setzen sollte. Meine Bekannten aus der Politikberaterbubble: I'm sure people who know the polling will know better than I, but my short answer: yes. I think Dems will win on 2 things nationally: abortion and Trump is a threat to democracy. Local races: abortion (including how IVF and how miscarriage care are tied to abortion - esp in R leaning areas). Other things are nuanced and matter to an extent, but I'd say everyone knows someone who is impacted by this issue in an emotionally visceral way. Eine Reaktion darauf: Abortion yes. Threat to democracy doesn’t work as an issue except for people who have bought in. We have to run on abortion and jobs/the economy. Wenn das wen interessiert.
j) Benjamin Netanyahu Is Israel’s Worst Prime Minister Ever.
k) A conservative takes on right-wing social media. Für Thorsten. :)
l) Chartbook 271 Reasons of State: Memory politics, U-Boats, Iran & the German-Israeli relationship. Super lesenswert! Siehe auch: Annalena Baerbocks neue Härte gegenüber Israel. Und: Gaza-Krieg: Israel begibt sich weiter ins Abseits.
m) Wenn Politiker für jedes Problem die immergleiche Lösung haben. Ist natürlich richtig, aber auch so eine Sache, die man immer nur bei politischen Gegnern bemerkt. Kann mir nicht vorstellen, dass Franziska Zimmer sich über die immer gleiche Forderung nach Steuersenkungen von der FDP beschweren würde.
n) Dieses Abschiebe-Regime ist echt völlig kaputt.
o) Sehr wichtiger Punkt zur Rückschau auf Corona.
p) Zur Debatte um Lohnabstandsgebot.
Fertiggestellt am 03.04.2024
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