Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) Wir sind in einer neuen Ära der Propaganda
Der Artikel warnt vor dem Aufkommen einer neuen Ära der Propaganda in der modernen Politik, die sich insbesondere durch die Verwendung digitaler Plattformen wie Social Media auszeichnet. Experten betonen, dass Desinformation und Manipulation gezielt eingesetzt werden, um politische Ziele zu erreichen. Durch die Verzerrung von Fakten und die Ansprache von Emotionen wird die öffentliche Meinung beeinflusst und das Vertrauen in demokratische Institutionen untergraben. Diese Entwicklung stellt eine ernsthafte Bedrohung für die Demokratie dar, da sie die Gesellschaft spaltet und die Funktionsweise demokratischer Prozesse gefährdet. Es wird die Dringlichkeit betont, Strategien zu entwickeln, um dieser Propaganda entgegenzuwirken und die Integrität demokratischer Systeme zu schützen. (Jonas Schaible, Spiegel)
Der zentrale Satz an Jonas Schaibles sehr, sehr lesenswerte Essay ist für mich dieser: "Propaganda ist hermetisch. Man erkennt sie, und das ist entscheidend, daher nicht in einer einzelnen kommunikativen Handlung, sondern nur im Zusammenhang. So, wie man eine Wagenburg nicht an einem Wagen erkennt, sondern nur im Ganzen." Denn der Unwille, Propaganda als das zu benennen, was sie ist, kommt eben auch daher, dass die einzelnen Akte sich immer irgendwie anders erklären und relativieren lassen und, wie Jonas ja auch beschreibt, bei allen Akteuren, auch den demokratischen, vorkommen. Auslassungen, Halbwahrheiten, steile Thesen, Abstreiten, Leugnen, all das gibt es auch bei Demokrat*innen (was diese nur ganz selten haben ist die Lüge!). Aber die Stoßrichtung, die Masse - was Jonas das "Hermetische" nennt - ist es, was dem Ganzen eine eigene Qualität gibt und was dafür sorgt, dass eine Immunität gegen Kritik, gegen Fakten, gegen andere Sichtweisen entsteht. Werden demokratische Politiker*innen mit Halbwahrheiten oder Irrtümern konfrontiert, nehmen große der Wählendenschaft das meist zum Anlass, von ihnen abzurücken. Das ist immer noch wahr, wenn es um die etablierten, demokratischen Parteien geht - und trifft auf die Ränder praktisch nicht zu. Auch auf die Populisten nicht, im Übrigen. Die immunisieren sich dagegen ebenfalls.
In den letzten fünf Monaten hat Deutschland den Holocaust oft benutzt, um Kritik an Israels Krieg im Gazastreifen zu unterdrücken. Diese Verwendung der Holocaust-Erinnerung zur Einschüchterung von Kritikern ist ein Bruch mit der Erinnerungskultur, die einst als vorbildlich galt. Die Entwicklung dieser Kultur seit den 1980er Jahren wird oft übersehen. Die 68er-Generation in Deutschland, die erstmals die nationale Identität mit der Verantwortung für den Holocaust verband, nahm eine universalistische Perspektive ein. Jedoch änderte sich dies in den letzten Jahrzehnten, insbesondere unter Angela Merkel, die Deutschland stark geprägt hat. Heute gilt die bedingungslose Unterstützung Israels als Teil der deutschen Staatsräson. Die Politik hat sich von einer universalistischen zu einer particularistischen Ausrichtung entwickelt. Auch Grüne Politiker unterstützen Israel vehement und sehen dies als progressiv an. Die Springer-Medien und andere haben eine ähnliche Position eingenommen und kritisieren öffentlichkeitswirksam Kritiker Israels. (Hans Kundnani, Dissent Magazine)
Ich lese diese Kritik am deutschen Holocaustgedenken in den letzten Jahren vermehrt. Sie kommt praktisch immer aus dem Ausland, häufig aus dem, was wir gerne den "Globalen Süden" nennen. Möglicherweise ist es meine kulturelle Prägung, aber ich bin (zumindest noch) nicht bereit, die "Singularität des Holocaust" und die dafür für Deutschland resultierende besondere Verantwortung beiseite zu lassen. Ich sehe allerdings den Doppelstandard, den wir fahren und den gerade die genannten Länder kritisieren, durchaus.
Ein anderer Punkt: Mir ist seinerzeit nicht aufgefallen, dass Merkel einen solchen Paradigmenwechsel in der deutschen Haltung zu Israel eingeleitet hätte. Allerdings ist auffällig, dass in Deutschland wie in dene USA die Unterstützung Israels heute tatsächlich wesentlich bedingungsloser ist als noch in den 1960er und 1970er Jahren; da hat eine Konsolidieerung stattgefunden. Dass der Prozess mindestens auch in den USA existiert, spricht in meinen Augen gegen die These eines spezifisch merkel-deutschen Problems, aber ich lasse da gerne Leuten mit mehr Fachkenntnis den Vortritt.
3) Die ideologischen Totengräber
In Freiberg, Sachsen, wiederholt sich das traurige Szenario von 2017: Die Meyer Burger AG hat 400 Mitarbeiter entlassen, während ähnliche Entlassungen bei Solarwatt in Dresden und der Glasmanufaktur Brandenburg in Tschernitz drohen. Obwohl die Solarindustrie boomt und die meisten Anlagen in China produziert werden, lehnt die deutsche Politik Subventionen für die heimische Produktion ab. Die FDP befürchtet, dass Solarsubventionen ein endloses Fass ohne Boden wären. Doch geopolitische Spannungen könnten den Zugang zu chinesischen Produkten erschweren. Die Bundesregierung setzt auf die Hoffnung, im Ernstfall schnell neue Solarfabriken in Deutschland oder Europa zu errichten, um Engpässe zu vermeiden. Die jüngsten Entwicklungen zeigen, wie schnell unerwartete Ereignisse Realität werden können, und unterstreichen die Bedeutung einer gewissen wirtschaftlichen Autarkie. (Kai Schöneberg. taz)
Ich halte es weiterhin für wirtschaftspolitischen Irrsinn, die EE-Industrie in Deutschland abzuwürgen und das Geschäft anderen zu überlassen. Mich überzeugt das Argument, dass die Branche von Subventionen abhängt, überhaupt nicht Das tut die Atomindustrie auch und in viel erheblicherem Umfang, und weder CDU noch FDP haben das geringste Problem damit, dort Milliarden bereitszustellen. Überhaupt ist die liberale Prinzipientreue, die angeblich die EE-Subventionen verhindert, in höchsten Maße heuchlerisch. Wissings Ministerium etwa pumpt Subventionen in Flugtaxis und in unhaltbare Wasserstoffträume. Aber das sind eben Industrien, die man - auach aus ideologischer Hinsicht - fördern will, während man aus genau dergleichen ideolgischen Sicht auf keinen Fall Erneuerbare fördern möchte (auf der grünen Seite des politischen Spektrums ist die Dynamik dafür um 180 Grad gedreht, die schenken sich da nichts). Siehe auch hier.
4) Kinderärzte fordern Abschaffung der Kinderkrankschreibung
Die Kinder- und Jugendärzte in Deutschland fordern die Abschaffung der ärztlichen Krankschreibung für Kinder bei leichten Erkrankungen. Der Präsident des Kinderärzteverbands BVKJ, Michael Hubmann, argumentiert, dass Eltern selbst harmlose Krankheiten ihrer Kinder managen könnten und Ärzte nicht beurteilen könnten, ob ein Elternteil zu Hause bleiben müsse. Bisher müssen Eltern am ersten Krankheitstag des Kindes ein ärztliches Attest vorlegen, um Kinderkrankengeld zu erhalten. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat bereits Maßnahmen ergriffen, um die Beantragung von Kinderkrankengeld zu vereinfachen, indem Eltern das Attest telefonisch beantragen können. Hubmann kritisiert auch die unnötige Arbeit der Praxen durch Atteste für Kinder, die wegen geringfügiger Gesundheitsprobleme wieder in die Kita oder Schule gehen wollen. (Spiegel)
Ich verstehe die Ärzt*innenschaft da völlig. Das ist mittlerweile geradezu endemisch und ein typisches Beispiel für sinnlose Bürokratie. Denn die Bescheinigungen werden ja oft genug nicht auf Basis irgendwelcher Untersuchungen ausgestellt (wie Krankschreibungen ja oft auch nicht). Sie sind einfach nur Papier, das von jemandem erstellt, von jemand anderem abgeholt und dann an eine dritte Person weitergereicht wird (die es dann an die Personalabteilung übermittelt). Wir haben das Problem an den Schulen übrigens auch: Lehrkräfte verlangen oft ärztliche Bescheinigungen bei notorischen Abszenzensammelnden, und in der Oberstufe standardmäßig für verpasste Leistungsfeststellungen. Da meckern die Ärzt*innen auch zunehmend, dass sie quasi als pädagogische Brechstange missbraucht würden. Völlig zurecht in meinen Augen.
5) Should poor countries remain poor?
Die Industrielle Revolution in Nordwesteuropa basierte auf der Nutzung wirtschaftlicher und technologischer Fortschritte sowie der direkten Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Parallel dazu wurden jedoch weltweit vier "schlechte" Entwicklungen beobachtet. Erstens die Kolonisierung, zweitens der transatlantische Sklavenhandel, drittens die Unterdrückung technologischer Fortschritte in anderen Regionen durch nordische Länder und viertens die CO2-Akkumulation und der Klimawandel als Folge der industriellen Entwicklung. Während die ersten drei "schlechten" Entwicklungen historisch sind, bleibt das Problem der CO2-Akkumulation aktuell und hat direkte Auswirkungen auf die Welt. Die Emissionen tragen zum Klimawandel bei, insbesondere durch die schnelle Industrialisierung einiger Entwicklungs- und Schwellenländer. Die Lösung dieses Problems erfordert eine faire Berücksichtigung der historischen Verantwortung reicher Länder sowie eine gerechte Verteilung der Belastungen und Kosten. Andernfalls könnte die Armut in ärmeren Ländern weiter zunehmen, während reiche Länder ihre Verantwortung leugnen. (Branko Milanovic, Global Inequality)
Branko Milanovic legt hier den Finger in die Wunde. Der beliebte linke Talking-Point, dass der Großteil der weltweiten Emissionen von den Reichen verursacht werde, kommt nämlich wie ein Bumerang zurück, wenn man sich klarmacht, dass im globalen Maßstab mindestens 50% der Bevölkerung der Industrieländer "reich" sind. Dass sich niemand so fühlt ist klar, aber mein CO2-Fußabdruck mit Doppelhaushälfte, einem jährlichen Urlaub und dem Konsum eines Haushalts der oberen Mittelschicht ist einer, der sich auf drei Kontinenten nur sehr vereinzelt finden dürfte. Welche Folge das aber haben soll, bleibt völlig in der Luft. Denn zwei Dinge sind völlig klar: weder werde ich freiwillig meinen Wohlstand um die Hälfte reduzieren, noch wird sich die andere Hälfte der Welt freiwillig auf Dauer arm halten, einerseits. Und andererseits ist es Exitus für uns alle global, wenn unter den aktuell geltenden Bedingungen - bei denen Wirtschaftswachstum sich noch 1:1 in Emissionswachstum übersetzt - die eine Hälfte der Welt aufholt, ohne dass die andere radikal etwas ändert. Da gibt es gerade wenig Grund zur Hoffnung auf bahnbrechende Änderungen der zerstörerischen Dynamik, die nicht auf der magischen Fußnote mit "[zukünftige Wundertechnologie einsetzen]" basiert.
Resterampe
a) Sehr lesenswerte Altpapier-Kolumne.
b) Spannendes Interview zum Thema Ländlichkeit und Rechtsextremismus (unter anderem).
c) 2016 war der American Conservativen noch Never Trump. Jetzt fordern sie, ihn zum Präsidenten auf Lebenszeit zu machen. Diese Radikalisierung ist echt der Wahnsinn.
d) Medienwahnsinn. Siehe auch hier.
e) Wer mal wieder über deutsche Infrastruktur weinen will. Kann man aktuell auch bei der Kindergrundsicherung beobachten.
f) Es ist und bleibt ideologisch inkonsistent.
g) Lob für CSU-Demokratieverteidiger an der Stelle.
h) Zum Thema "die Grünen müssen keine Kröten schlucken".
i) taz echt lost.
j) Zum Thema von Lindners 2028-Plan und Verteidigung. Wer sich mehr für konkrete Zahlen und Hintergründe interessiert, findet die hier.
k) Genderverbot ist in Kraft getreten: Was Lehrkräften droht, die trotzdem gendern. Wenig überraschend: völlig unausgegorener Blödsinn. Siehe dazu auch diese Meldung zum obersten bayrischen Blockwart.
l) Joachim Gauck ruft CDU für den Notfall zu Zusammenarbeit mit Linken auf. Sehr gut.
m) Right-wing websites are hemorrhaging traffic.
n) Reportage über Zusammenarbeit von Klimaaktivist*innen und Gewerkschafter*innen.
o) Perspektive eines syrischen Einwanderers auf Fleischkonsum.
p) Grocery inflation is at 1%. Why don’t more people know it?
q) Guter Thread zum Thema Thüringer TV-Duell.
r) Interessantes Interview mit Leo und Zorn.
s) Völlig irre. 15-minute lunches and no talking.
t) Verbraucherzentrale: Zu viel Fleisch und zu wenig Gemüse in Kita-Speiseplänen. Das "Kita-" kann man da problemlos streichen.
u) Gute Kolumne zu einem möglichen FDP-Koalitionsbruch.
Fertiggestellt am
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