Auf einem seiner Wahlplakate verkündet Martin Schulz im authentischen Gespräch¹ mit einigen Angestellten, dass eine Gesellschaft nur dann gerecht sei, wenn alle die gleichen Chancen hätten. Das ist natürlich richtig, aber "Chancengerechtigkeit" fordern von AfD über FDP bis hin zur LINKEn im Endeffekt alle. Es ist ein Konzept wie "Soziale Gerechtigkeit": niemand ist dagegen, aber jeder versteht darunter etwas anderes, und deshalb bewegt sich die Debatte in einem nebulösen Bereich, besonders wenn ein Wahlkampf wie der in Deutschland 2017 ohnehin ohne echte Konfrontation abläuft.
Das Problem ist dabei einfach beschrieben. Der soziale Stand der Eltern in Deutschland beeinflusst wesentlich zu stark die Chancen des Kindes später im Leben. Die Kinder von Hartz-IV-Empfängern haben deutlich geringere Chancen, ein Studium aufzunehmen und einen guten Beruf zu erlernen, als die Kinder von Akademikern. Kinder reicher Eltern haben eine weite Bandbreite an Vorteilen, von besserer finanzieller Unterstützung, einer anderen mentalen Prägung hin zu Beziehungsnetzwerken und Starthilfen der Eltern. All das ist nicht auch nur in irgendeiner Weise umstritten. Im höchsten Maße umstritten ist, wie diese Probleme soweit einzuebnen sind, dass "Chancengerechtigkeit" hergestellt wird.
Linke Parteien fordern meist klassische Umverteilungspolitik: Erbschafts- und Vermögenssteuern stehen ganz weit oben auf der Liste, einerseits um die Startvorteile der Kinder reicher Familienhäuser zu verkleinern und andererseits, um finanzielle Spielräume für direkte Transfers zu gewinnen: höhere Hartz-IV-Beiträge, großzügigeres Bafög, etc. Liberalere Parteien fordern meist, bestehende Sozialhilfen umzubauen und mehr Geld in Bildung zu investieren, vor allem durch Bildungsgutscheine, um so Kinder und Bildung direkt zu fördern und nicht diverse andere Programme gießkannenartig mitzufinanzieren. Schließlich gehen höhere Hartz-IV-Sätze vermutlich weniger in den Museumsbesuch als in erhöhten Lebensstandard durch eher prosaischen Konsum. Konservative bedienen sich gerne aus den am wenigsten radikalen Teilen beider Richtungen und betonen die große Rolle der Familie, während Progressive weniger die Geldfrage als Regulierungen in den Vordergrund stellen.
All diese Positionen sind nicht neu. Sie alle laufen aber alle in dasselbe Problem. Sämtliche Maßnahmen, die politisch realistisch durchsetzbar sind, laufen auf das Ausgeben von Geld hinaus. Dieses Geld kommt dabei, weil es keine große Kundschaft für Hartz-IV-Erhöhungen gibt, wie von Kollege Stefan Pietsch beschrieben, meistens in irgendeiner Art und Weise der Mittelschicht zugute. So ermöglichen Stipendien überwiegend Kinder halbwegs wohlhabender Eltern ein komfortableres Studium, bringt Bafög bei weitem nicht so viele Arbeiterkinder ins Studium wie erhofft, führen Bildungsgutscheine häufig zu Mitnahmeeffekten bei Wohlhabenden und überfordern ihre eigentlichen Adressaten. So oder so ist diesen Maßnahmen aber allen eins gemein: sie kosten "nur" Geld und werden damit von allen, die nicht unmittelbar als Empfänger betroffen sind, praktisch nicht bemerkt. Gleichzeitig ändern sie aber wenig am bestehenden Problem.
Dies ist, leider, besonders bei vielen linken Vorschlägen manifest. So verbessern zwar viel Direktransfers direkt die materielle Position der Betroffenen und sind sicherlich ehrbare Vorhaben. Allein, eine Erhöhung der Hartz-IV-Sätze oder des Mindestlohns, selbst wenn wir von Größenordnungen um 30%, 40% reden, die völlig illusorisch sind, beseitigen das Problem nicht. Ob 8,84€ Mindestlohn oder 12 Euro Mindestlohn, aus dem Niedriglohnsektor kommt man damit nicht raus. Ob 400 Euro Hartz-IV oder 600 Euro Hartz-IV ändert wenig daran, dass das Kind die schlecht ausgestattete Brennpunktschule besucht. Und so weiter. Chancengerechtigkeit entsteht so jedenfalls nicht.
Und hier kommen wir zum entscheidenden Problem. Alle Maßnahme, die tatsächlich ernsthaft die Chancengleichheit erhöhen, kosten nur relativ wenig Geld. Sie sind aber gleichzeitig in einem gigantischen Ausmaß disruptiv, und am allerschlimmsten, sie sind in einer Schicht disruptiv, die Störungen des Status Quo überhaupt nicht leiden kann: der wohlsituierten Mittelschicht. Dazu kommt, dass alle diese Maßnahmen ungeheuer schlechte Politik sind.
Was ich meine, lässt sich am besten mit einem Beispiel aus der US-Geschichte erklären, das ich auch in meinem Artikel zum Rechtsdrall der Republicans aufgegriffen habe. Als das Jim-Crow-Regime in den 1950er Jahren juristisch abgeschafft wurde, war die Realität immer noch die einer segregierten Gesellschaft. Die Schwarzen in den USA lebten in den schlechten Vierteln, besuchten miserable Schulen, hatten miserable Jobs. Diese Situation änderte sich nicht, nur weil die formelle Segregation plötzlich abgeschafft war. In den 1960er Jahren griff die Regierung unter Lyndon B. Johnson dieses gigantische Problem auf und führte ein Programm ein, das als busing bekannt wurde: da die mehrheitlich schwarzen Schulen schlechte Ausstattung hatten und die weißen Schulen gute, musste man die Ressourcen gleichmäßiger verteilen. Die Sozialreformer jener Zeit wussten jedoch, dass ein reines Erhöhen der Etats nicht ausreichen würde. Zu wichtig waren das Umfeld der peers und das Aufbrechen von Mentalitäten auf beiden Seiten. Also wiesen sie die Schüler nach dem Zufallsprinzip einer Schule zu und richteten kostenlose Schulbusse ein, die die Schüler zur zugewiesenen Schule brachten.
Diese Maßnahme war so erfolgreich wie unbeliebt. Erfolgreich, weil sie die Schulen radikal desegrierte und das Qualitätsniveau deutlich anglich. Unbeliebt, weil Eltern der Mittelschicht nichts so sehr hassen wie wenn ihre Kinder mit den Schmuddelkindern spielen müssen. Die Politik war ungeheuer unbeliebt, und Reagan machte in seinen Wahlkämpfen 1976, 1980 und 1984 mächtig Stunk gegen die Politik, die dann in den 1980er Jahren auch offiziell abgeschafft wurde. Seither ist der Trend wieder rückläufig. Amerikanische Schulen sind heute wieder so ungleich und nach Rasse getrennt wie in den 1950er Jahren - als hätte es die komplette Abschaffung der Rassentrennung nicht gegeben. Busing war nicht teuer. Aber es war in höchstem Maße disruptiv. Und es unterstreicht eine Realität der Herstellung von Chancengerechtigkeit: diese Herstellung beinhaltet auch das Wegnehmen von Privilegien.
Und das ist immer schlechte Politik. Denn nicht nur reagieren Menschen deutlich aggressiver darauf, wenn man ihnen etwas wegnimmt als positiv darauf, wenn sie etwas bekommen (Verlustaversion). Diejenigen, die etwas bekommen, wählen leider nicht. Denn egal in welche Demokratie man blickt, die Wahlbeteiligung ist umso höher, je wohlhabender die jeweilige Schicht ist. Jede Partei also, die ernsthaft Versuche unternimmt, Chancengerechtigkeit herzustellen (ohne dies lediglich über Finanztransfers zu tun) erhält von der wichtigsten Wählerschaft - der Mittelschicht - einen backlash, der sich gewaschen hat, ohne in der von der Politik profitierenden Unterschicht neue Wähler hinzuzugewinnen. Diese würden ihr erwachsen, wenn eine Generation durch das neue System gelaufen ist. Aber eine Generation ist eine unendlich lange Zeit in der Politik. Solche Maßnahmen sind daher ungeheuer unpopulär.
Und das ist, in a nutshell, warum die Herstellung von Chancengerechtigkeit so unglaublich schwierig ist, egal ob man Liberaler, Linker, Progressiver oder Konservativer ist.
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¹ Ironie
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