Donnerstag, 21. September 2017

Warum ich kein Linker mehr sein will

Ich blogge seit 2006. Wenn jemand seit den lange vergessenen Anfangstagen des Oeffinger Freidenker dabei ist erinnert er oder sie sich vielleicht noch an die damaligen Artikel (die im Online-Archiv auch immer noch zu finden sind): ich war ziemlich links. Ich hoffte auf die baldige Revolution, relativierte den RAF-Terror, fand einiges was an der BRD im Vergleich zur DDR auch nicht so toll war, schimpfte auf die einseitigen Medien und wusste bei jedem Thema immer, was richtig und falsch war. Diese Klarheit ging über die Jahre verloren, und mit ihr rückte ich langsam, aber sicher von links in diesen ominösen Bereich der "Mitte", um den sich alle immer streiten. Heute sind meine Kommilitonen, die ich damals immer mit meinen Thesen nervte, linker als ich. Ich schiebe seit einer Weile vor mir, einmal kohärent aufzuschreiben, warum sich das für mich geändert hat. Es ist eine persönliche Geschichte, und sie ist nicht repräsentativ für irgendjemand anderen, das sei vorweg gesagt.

Das entscheidende Jahr ist 2009, zumindest ergibt dies meine eigene Rückschau. Das war mir damals nicht klar, aber heute ist die Wasserscheide deutlich. Ich kann sogar den Tag benennen, an dem mein Abschied vom linken Rand begann: es war der 27. September. An diesem Tag gewann die FDP rund 15% der Stimmen im deutschen Bundestag und konnte klar eine Koalition mit der CDU/CSU formen, während die SPD ein Drittel ihrer Sitze verlor. Das klingt erst einmal merkwürdig: warum ist ausgerechnet der Tag des Sieges der lange so erbittert bekämpften politischen Erzfeinde der Anfang vom Ende? Bevor ich die Antwort darauf gebe, möchte ich kurz auf dieses Video verweisen:


Mein Gott, war ich damals begeistert. Diese Courage! Der Kampfaufruf! Der Endkampf rückte näher. Eine Kriegserklärung der Guten an die Bösen. Hach.

Und dann passierte...nichts. Die angekündigte Apokalypse blieb aus. Stattdessen außenministerte sich Guido Westerwelle in die lächerliche Irrelevanz, wurde aus dem Versprechen einer neuen liberalen Wende die Mövenpicksteuer und schlich sich der böse Verdacht ein, dass all die Grausamkeiten von der Rente mit 67 zur Drei-Punkte-Erhöhung der Mehrwertsteuer eher Müntefering als Merkel gewesen war. Im Rückblick scheint mir das Ausbleiben der erwarteten Desaster unter Schwarz-Gelb der wichtigste erste Schritt gewesen zu sein, der mich moderater machte. Denn wenn eine so elementare Annahme falsch gewesen war - was um Gottes Willen war es noch?

Ein weiterer Schritt weg von den radikalen Ideen kam schlicht durch das Studium selbst. Um 2008/2009 war ich im Hauptstudium und spezialisierte mich auf stark auf Zeitgeschichte und US-Geschichte. Dies ist aus mehreren Gründen relevant. Zum einen verstand ich deutlich besser als früher demokratische Mechanismen, musste mich von einigen liebgewonnenen Klischees über die 1970er Jahre verabschieden (doch keine Verlorene Goldene Ära, schnief) und verabschiedete mich von den meisten revisionistischen Ideen. Meine früheren Verteidigungen der alten Ostblockstaaten etwa verschwanden aus dem Repertoire. Beispielhaft dafür mag meine Kritik an der LINKEn angesichts der Koalitionsverhandlungen in NRW 2010 stehen. 2010 waren das für mich völlig neue Töne.

In diesem Jahr schrieb ich außerdem meine wissenschaftliche Abschlussarbeit. Noch inspiriert vom Geiste Albrecht Müllers von den NachDenkSeiten war mein Thema der Wahlkampf der SPD 1972 (ich habe die Ergebnisse hier zusammengefasst). Ich ging effektiv mit dem Ziel in die Arbeit, seinen Erinnerungsband wissenschaftlich zu unterfüttern und das bestehende Klischee von der beherrschenden Rolle der Ostpolitik zu zerschlagen. Das gelang teilweise auch (hier lag Müller richtig, die Ostpolitik spielte eine deutlich geringere Rolle als angenommen). Aber mit wachsendem Erschrecken stellte ich während meiner Recherchen fest, dass der Spiegel damals ein ungeheuer parteiisches Organ war - nur eben für Willy Brandt. Alles, was Müller stets an der Spiegel-Berichterstattung zu Lafontaine, Beck und Konsorten kritisiert hatte - der Spiegel hatte es damals ebenso getan, nur eben gegen Barzel und Strauß. Nur war das natürlich "objektiv" und "kritisch", schließlich ging es damals gegen den Gegner. Ich sehe dies als den Moment vom langsamen Abschied von den NachDenkSeiten.

Ich erwähnte bereits mein gestiegenes Interesse an den USA. Ich besuchte zahlreiche Vorlesungen und Seminare zur US-Geschichte, las entsprechende Werke und begann den Konsum von US-Nachrichten (ich habe das nachgeschaut: im Oeffinger Freidenker findet sich 2008 kein einziger Artikel über die US-Wahl oder Barrack Obama. Faszinierend, was?). Die USA waren bisher, ganz gemäß der linken Orthodoxie, der Feind gewesen, das ultimativ Böse. Ich sah die Sache jetzt, sagen wir, differenzierter. Diese neue Position fasste ich seinerzeit in einen Artikel, der auch auf dem Spiegelfechter erschien, wo ich damals Redakteur war. Der Sturm der Kritik war, wenig überraschend, groß.

Das letzte Element, das mich von der LINKEn wegtrieb, war deren ungeheure Feindschaft gegenüber dem Konsum. Ich war auf diesem Bereich noch nie ein sonderlich linientreuer Genosse gewesen und hatte die Produkte der US-Unterhaltungsindustrie stets genossen. Als ich aus purem Fan-Enthusiasmus 2010 einen Artikel über die viralen Marketingtechniken des Pay-TV-Senders HBO schrieb, der damals versuchte der ersten Staffel von "Game of Thrones" Aufmerksamkeit zu verschaffen, wurde dies (ebenfalls auf dem Spiegelfechter) massivst kritisiert und attackiert. Wie konnte man der bösen US-Unterhaltungsindustrie verfallen, dieser Geißel des Proletariats? Diese ungeheure Lust-Feindlichkeit trieb einen weiteren Keil zwischen mich und die linke Orthodoxie.

Diese fünf Keile - das Ausbleiben der schwarz-gelben Apokalypse, ein tieferes Verständnis für politische Strukturen, meine Liebe zu Amerika, die Entmystifizierung der linken Meinungsführer und die Konsumfeinschaft - sind es, die ich in der Selbstanalyse als Hauptfaktoren ausmache. Wie korrekt das ist - who knows? Wie gewichtig diese Punkte dem Leser vorkommen mögen, verglichen mit dem, was er oder sie für viel wichtiger hält - die Kommentarspalte wartet.

Das alles heißt nicht, dass ich keine linken Positionen mehr hätte, bevor Stefan Pietsch jetzt Schnappatmung bekommt. Ich bevorzuge immer noch meinen Keynes vor Hayek, und auf dem Feld der Gesellschaftspolitik habe ich mich seit 2010 deutlich nach links verschoben, besonders was die Frage der Emanzipation anbelangt. Aber als "links" im Sinne der Bewegung, der politischen Richtung, sehe ich mich nicht mehr. Dafür ist mir das alles zu rückwärtsgewandt, zu engstirnig, zu sicher darin, was richtig und falsch ist. Die Schließung des Oeffinger Freidenker und das Öffnen eines Multi-Autorenblogs mit Teilnehmern, deren Meinung ich dezidiert nicht teile, formalisierte diese Entwicklung.

Damit wäre ich am Ende. Der Artikel ist sicher nicht sonderlich analytisch oder tiefgehend und dafür eine kleine strukturelle Katastrophe, aber ich schreibe ohnehin nicht gerne über meine Person. Das brennt mir jetzt aber schon so lange auf den Nägeln, dass es mal raus musste. Nächstes Mal verstecke ich mich wieder hinter einem Anstrich analytischer Seriosität, versprochen. ;)

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