Sonntag, 22. Juli 2018

Grausamer Frieden, sexistische Romantik, gesetzestreue Gesetzesbrüche und authoritäre Demokraten - Vermischtes 22.07.2018

Die Serie "Vermischtes" stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Gibt es falsche Fragen?
Der dritte Grund, warum dieser und viele ähnliche Beiträge, die neuerdings zu lesen, zu hören und zu sehen sind, möglichst viel Widerspruch verdienen, wird sehr viel seltener diskutiert: Auch im Contra von Mariam Lau spiegelt sich an zu vielen Stellen jene zunehmende Empathielosigkeit gegenüber dem Leid der anderen, die man in Deutschland an immer mehr Orten spüren kann, nicht mehr nur an Kaffeetischen in Brandenburg. Von Alexander Gauland stammt der Satz: "Wir können uns nicht von Kinderaugen erpressen lassen." Man müsse die grauenhaften Bilder "aushalten", die eine geschlossene Grenze mit sich brächte. Es ist das ausgesprochene Ziel der Rechtspopulisten, die Menschen für das zu desensibilisieren, was die meisten bisher als gewaltsam und unmenschlich wahrnahmen. Gauland und die AfD kommen gut voran auf diesem Weg. Denn an der ethischen Grenzverschiebung wirken auch viele Konservative mit, sogar Sozialdemokraten und Grüne, in dem Glauben, so könne man Wähler von der AfD zurückholen. Die CSU und ihre Wahlkampfsprache sind das beste Beispiel, doch mittlerweile wird auch in tagesschau-Kommentaren offen abgewogen, ob man Flüchtlinge durch unterlassene Hilfeleistung auf dem Mittelmeer abschrecken soll. Wer darüber schockiert ist, dem wird nicht selten vorgeworfen, die angeblichen Sorgen der angeblich einfachen Bürger zu ignorieren. Oder demjenigen wird gleich "Hypermoralismus" unterstellt, weil er gesinnungsethisch argumentiere und damit keine Debatte zulasse. [...] Dieses stärker werdende rechte Framing, diese Fokussierung auf die demagogische Perspektive der Rechtspopulisten, verhindert die Debatten, die wirklich nötig wären. Denken heute erheblich mehr Menschen so [...]? Einiges spricht dafür. Es wäre das verheerende Zwischenergebnis einer politischen Kultur, in der ethische Maßstäbe nicht mehr geschützt werden, sondern zur bloßen Masche moralisierender linker Bildungsbürger degradiert wurden. (Zeit)
Tatsächlich ist diese Lust an der Grausamkeit ein sowohl dominantes als auch vereinendes Feature der Neuen Rechten. Ob Farage, Trump, May, Orban, Le Pen, Wilders, Salieni, Seehofer - grundsätzlich ist der Appell an die niederen Instinkte, an das Grausam Sein, ein Feature ihrer Politik. Flüchtlinge müssen nicht nur in Lager gesteckt werden, die Lager müssen auch so schlimm sein, wie der rechtliche Rahmen gerade noch erlaubt, und dann noch etwas mehr. Schließlich soll es "denen" ja nicht zu gut gehen. Dafür wird auch ein gewaltiger Aufwand in Kauf genommen. Wenn das bewusste Verschlechtern der Lebensumstände in einer der reichsten Gesellschaften weltweit teurer und kontraproduktiver ist als sie einfach auf Basis der bisherigen Abläufe zu behandeln, ist das egal. Die Wähler wollen, dass den Leuten weh getan wird, also wird ihnen weh getan. Aufschlussreiche Beispiele für diese Haltung finden sich jüngst in der Internierung von Kleinkindern und Babies in den USA und in der berüchtigten Abschiebung der 69 an Seehofers Geburtstag. Die Republicans in den USA haben bewusst Kleinkinder und Babies von ihren Müttern getrennt - und diese darüber belogen, damit sie sie freiwillig abgaben, wie im KZ - und diese an unterschiedlichen Orten in den USA interniert, ohne den Eltern zu sagen wo und, entscheidend, ohne Aufzeichnungen darüber zu machen, so dass eine Familienzusammenführung praktisch unmöglich ist, oder nur unter gigantischem (und teurem) Aufwand. Einen echten Sinn verfolgt diese Politik nicht, es geht nur darum, Menschen weh zu tun. Ähnlich ist das bei der Abschiebung der 69: da befinden sich, Berichte gibt es zuhauf, super integrierte Leute mit Jobs darunter, weil völlig wahllos Menschen aus ihrem Leben gerissen und in eine Kriegszone verfrachtet werden. Auch das verfolgt keinen Sinn außer Grausamkeit zu demonstrieren, und der Stolz, mit dem Seehofer verkündete, dass 69 Leute an seinem 69. Geburtstag abgeschoben werden zeigt, dass diese Performanz grausamer Akte der Kerninhalt des Ganzen ist. Während solche Gestalten wie Stephen Miller vermutlich wirklich einfach nur Sadisten sind, ist bei Seehofer ein anderes Element dominierend: diese Politiker glauben offensichtlich, dass ihre Wähler das wollen. Man fürchtet, dass sie Recht haben.

2) There's a disturbing element to Europe's long Postwar peace
For the rest of Europe, the descent into hatred and bigotry has been slower and less dramatic, but no less real. As the “tidier” Europe invented after the war became less tidy, native populations once again became more restless and right-wing nationalist parties grew more powerful. This change has been noticeable for decades, but it was the migrant crisis of 2015 that finally tipped things back over the edge. Just as it was before the war, the problem of ethnic tribalism is worse in poorer, less traditionally democratic eastern Europe—in countries like Hungary and Poland—but it’s migrated as well to France, Austria, the Netherlands, and, most famously, Great Britain. My aim here is modest: I mostly just want to highlight Judt’s unsparing review of postwar Europe’s solution to endless war. None of this means that Europe is hopelessly ethnocentric, or that perhaps the problem of burgeoning migration across borders should have been taken a little more seriously back in the 80s and 90s. There was, after all, every hope that things had become more civilized by the end of the 20th century. But in the same way that America has made progress against racism but is far from erasing it, it turns out that Europe is farther from erasing its own tribal past than it had hoped. If ethnic cleansing really did play a role in Europe’s unusually peaceful postwar decades, it’s perhaps not too surprising that the spirit of ethnic cleansing is on the menu again. (Kevin Drum)
Wenn Kevin Drum mit diesem Element Recht hat, dann könnte die Flüchtlingskrise grundsätzlich einen interessanten Nebeneffekt haben: In der Abwehr der offensichtlich als "fremd" wahrgenommenen Elemente könnte eine europäische Identität gestärkt werden. Ich glaube das zwar nicht wirklich, und es wäre auch nur sehr eingeschränkt eine positive Entwicklung, aber wenn die Alternative tatsächlich ein Wiederaufleben aggressiven Ethno-Nationalismus' ist, dann nehme ich sie zähneknirschend in Kauf.

3) Lie back and take it, America
At this point, who can get that worked up about each instance of White House sexism? Even as Shine takes up his prestigious government job, the Trump administration still hasn’t returned many migrant children to the parents it snatched them from. It is about to appoint a Supreme Court justice who will, among other things, probably end Roe v. Wade. It is simply impossible, with Trump’s onslaught of indecency, to maintain pre-Trump standards. That may be why Jordan believes he can brazen out his own sex scandal. (Some of his allies, taking a page from Trump, are claiming that accusations against him are part of a “deep state” conspiracy.) You might think that Republicans would be wary of a story involving a congressman and the sexual molesting of student wrestlers. It was only two years ago that the former Republican House speaker Dennis Hastert admitted to molesting teenage wrestlers when he was a wrestling coach, before going to prison. But who can remember 2016? Who can remember December? Without the force of law behind it, #MeToo can create change only in institutions that are susceptible to shame, and the Trump administration is shameless. After all, if Trump cared about the American people’s consent, he’d resign. (New York Times)
Das ist eine Entwicklung, die ich akut auch in Deutschland sehe. Die konservative Hysterie über #MeToo und #NeinHeißtNein hat dazu geführt, dass die Anliegen insgesamt nicht nur delegitimiert werden, sondern dass eine ständige Senkung der Messlatte stattgefunden hat. Inzwischen muss man sich ja bereits gegen den Vorwurf des Hypermoralismus verteidigen, wenn man der Meinung ist, dass sexuelle Belästigung schon irgendwie zu verurteilen ist. Gleiches gilt für die Absurditäten, die von rechts inzwischen verbreitet werden, wenn es um den Umgang mit Kritik an der eigenen Meinung gilt. Da veröffentlichen Leute Beiträge in angesehenen Tageszeitungen und beklagen sich darüber, in ihrer Meinungsfreiheit massiv eingeschränkt zu werden, weil eine Gruppe Leute auf Twitter nicht mit ihnen übereinstimmt. Teilweise treibt das ja so absurde Blüten, dass man sich als politisch verfolgt sieht. Auf die Art wird eine Blase geschaffen, die reflexhaft zur Verteidigung der eigenen Leute antritt - auch wenn es um handfeste Vergehen geht, die noch vor zwei oder drei Jahren einhellige Verurteilung gefunden hätten. Aber der moralische Kompass ist mittlerweile so kaputt, dass diese Verurteilung unmöglich geworden ist. Man wird ja noch sagen dürfen! Dass dann clevere Politiker, Publizisten oder Aktivisten sich irgendwann Trumps Einsicht zunutze machen, dass sie vor dem Kanzleramt jemanden erschießen könnten ohne an Zustimmung zu verlieren, ist kaum verwunderlich. Wir sind nicht weit hinter den USA her, was das angeht.

4) Nationalsozial
Da hat Meuthen nun wirklich recht. Im Affekt gegen Liberalismus und Kapitalismus paaren sich Fremdenfeindlichkeit und Globalisierungsängste: „Die soziale Frage der Gegenwart ist nicht primär die Verteilung des Volksvermögens von oben nach unten oder alt nach jung“, sagte Björn Höcke schon vor zwei Jahren. „Die neue deutsche soziale Frage des 21. Jahrhunderts ist die Frage nach der Verteilung des Volksvermögens von innen nach außen.“ So widmet Höcke Verteilungsfragen kurzerhand um: vom Klassenkonflikt zum nationalen Konflikt. Die AfD-Sozialpolitik will Einwanderung in den Sozialstaat unterbinden und Umverteilung exklusiv auf das deutsche Volk beschränken. [...] Klaus Dörre findet empirische Belege dafür, warum in einem Land, dem es wirtschaftlich eigentlich so gut geht wie lange nicht, die Idee des sozialen Patriotismus auf fruchtbaren Boden fällt. Der Soziologe berichtet von einer Arbeiterfamilie aus einer Kleinstadt im Osten. Beide Partner sind berufstätig, brauchen zwei Autos und arbeiten 40 Stunden Vollzeit für einen Brutto-Monatslohn von 1600 beziehungsweise 1700 Euro. Nach Abzug aller Abgaben und Fixkosten bleiben der Familie mit zwei Kindern 1000 Euro netto im Monat, von denen Kleidung und Nahrung bezahlt werden müssen. Mit diesem Budget wird jede größere Anschaffung zum Problem. Die Familie, sagt Dörre, empfinde sich als „unverschuldet anormal“. Die Klage des Familienvaters im O-Ton: „Jeder Deutsche hat ein Grundgehalt von 3300 Euro im Schnitt. Dann frage ich mich jetzt, was bin ich dann? Bin ich kein Deutscher?“ [...] Dieses Gefühl der Unterlegenheit, strukturell benachteiligt zu sein, lässt sich offenbar vom allgemein wachsenden Wohlstand nicht irritieren. Und es wird auch nicht dadurch verunsichert, dass es im Osten unterdurchschnittlich wenige Flüchtlinge gibt. Dass Flüchtlinge „alles“ bekommen, kann man im Fernsehen sehen und in der Zeitung lesen. Diese Haltung kann sich radikalisieren, wie Klaus Dörre mit einer Extremposition veranschaulicht: „Wer hierher kommt und nur die Hand aufhält, raus!“, sagt ein AfD/Pegida-Sympathisant. Und fügt hinzu: „Ich hätte kein Problem damit, jetzt mal Buchenwald wieder aufzumachen.“ (FAZ)
Genau deswegen ist die CSU-Rhetorik so gefährlich. Die Verbreitung der Verschwörungstheorien über den Umgang des deutschen Staates mit Ausländern durch konservative Politiker ist absolut besorgniserregend, denn die Zahl der Leute, die völligen Quatsch glauben - jeder Flüchtling bekommt ein Haus und ein Auto, dergleichen - ist ungeheuer hoch. Auch die Vorstellung, dass Flüchtlinge "natürlich" mehr Geld als ein Hartz-IV-Empfänger bekommen, ist ungeheuer weit verbreitet. Inhaltlich ist es kompletter Quatsch, aber es schafft im Verbund mit echten Problemen in der Ungleichheit den furchtbaren Nährboden, auf dem Konzepte wie "economic anxiety" sprießen, also diese fixe Idee, man könne entweder Politik für die weiße Arbeiterschicht machen oder Rassismus thematisieren, aber nicht beides. Auch die im Artikel angesprochene "Abnormalität", die viele Deutsche fühlen, ist mehr als nachvollziehbar. Das Durchschnittseinkommen beträgt 2018 rund 3156 Euro im Monat, oder 37.873 Euro im Jahr. Das ist nicht eben viel, und dass es "Durchschnitt" ist zeigt ziemlich klar, dass viele Leute darunter liegen - teilweise drastisch. Und dass von Bruttolöhnen um die 1957 Euro (Medianlohn 2017) keine Familie ernährt werden kann, während die verbreiteten Geschlechterklischees aber genau das fordern, ist jedem klar. Anstatt aber tatsächlich darüber nachzudenken, wie man das Problem lösen kann, ist die Antwort von AfD und CSU nur: "Wir tun zwar nichts, das euch hilft, aber wenigstens tun wir den Braunhäutigen weh!" Ganz großartig.

5) We are all Supreme Court sceptics now
On the other hand, if liberals genuinely want to permanently reduce the power of unelected justices and make the House more democratically responsive, they’ll seek reforms that don’t just attempt to grab back liberalism’s lost advantages. Term limits for Supreme Court justices are one obvious example of a neutral reform that might weaken juristocracy. Similarly, there are structural reforms to the House, like a big expansion of the number of representatives and the abolition of the single-member district, that could increase democratic accountability without obviously serving either coalition’s partisan interests. Of course, liberal ambitions will also be shaped by what conservatives are doing with their present power. A conservatism that seeks to widen its narrow coalition and practices the judicial restraint it preaches might open more space for reforms that aren’t just one-sided grabs for partisan power. A conservatism that skips gleefully down the countermajoritarian path, embracing voting restrictions and judicial activism at every opportunity, will inevitably encourage purely partisan countermeasures from liberals. The latter is more likely; the former more desirable. And because we are something of a juristocracy, the choices of one man, Brett Kavanaugh, will play an outsize role in determining which scenario we get. (New York Times)
Der Konjunktiv in dem Absatz oben ist das entscheidende: "A conservatism that seeks to widen its narrow coalition and practices the judicial restraint it preaches"). Genau das ist aber nicht der Fall. Die konservativen Richter am Supreme Court hatten nie ein Problem damit, umfassende und tief in die Gesellschaft, Politik und Wirtschaft eingreifende Urteile zu verfassen, wenn diese ihren eigenen Interessen entsprachen. Der schlimmste und offensichtlichste Fall ist die 5:4-Entscheidung im Fall Bush v Gore von 2000, die Nachzählung in Florida zu stoppen. Die entscheidende Stimme kam vom Ultrakonservativen Antonin Scalia, der zwar gerne betonte, wie wichtig ihm eine originalistische Auslegung des Textes ist, aber kein Problem hatte, einem Konservativen das Weiße Haus zu geben und danach zu erklären, dass das eigene Urteil so abnorm sei dass es keinen Präzedenzfall darstellen könnte. Auch Entscheidungen wie Hobby Lobby oder Citizens United haben herzlich wenig mit Selbstbeschränkung und sehr viel mit vorher bestehenden ideologischen Präferenzen zu tun. Diese beiderseitige Nutzung des Gerichts als Politikmaschine hat ja die aktuelle Lage herbeigeführt, in der eine Anerkennung der Mehrheitsverhältnisse mehr und mehr unmöglich wird.

6) "Law and Order" politics often undermine the rule of law
Academics and policymakers use another phrase that sounds deceptively similar to “law and order”: “rule of law.” This notion holds that the law applies equally to everyone — presidents, sheriffs, citizens, and even illegal immigrants. In the United States, as interpreted by the Supreme Court, the rule of law means that all people on US soil, regardless of legal residency and citizenship status, are entitled to due process protections — including often but not always “judges” and “court cases.” For advocates of “law and order” who are driven by social dominance orientation or authoritarianism, this can feel like a radical and unwelcome leveling. On the one hand, the rule of law constrains the powerful; on the other hand, it empowers the weak. The “rule of law” can be an antidote to “law and order” politics. Advocates of “law and order” misperceive the law. Through the lenses of social dominance orientation and authoritarianism, they notice only laws that justify group hierarchies, boundaries, and conformity. They fail to distinguish (or perhaps to care about) laws that level hierarchies and boundaries and push against conformity. This explains why “law and order” politicians endlessly emphasize the transgression of illegal border crossings, but ignore illegal behavior by government officials — for instance, the longstanding practice of refusing to allow Central American and Mexican migrants to apply for asylum. In so doing, proponents of “law and order” redefine “the law” — a powerful rhetorical move that strengthens the public appeal of “law and order” politics. (Vox)
Für jeden ordentlichen Progressiven wird es keine Überraschung sein, dass "Law and Order"-Politik eben diese nicht bringt, aber die im obigen Artikel dargestellte Systematik ist es wert, betont zu werden. Im Deutschen lässt sich die Differenz von "Law and Order" auf der einen und "Rule of Law" auf der anderen Seite nicht so geschickt verwenden, weil die Rechten das Wort vom "Rechtsstaat" beständig selbst im Munde führen ("die ganze Härte des Rechtsstaats", ein Oxymeron) und es so narrativ verbrennen. Gerade in der Flüchtlingskrise sieht man den Mechanismus aber großartig wirken, wo eine offensichtlich rechtswidrige Abschiebeentscheidung von den Gerichten rückgängig gemacht wird und die Konservativen dann schreien, es sei eine "Verhöhnung des Rechtsstaats". Nein, genau das ist es nicht, aber wie wenig Menschen das klar ist, ist immer wieder ebenso erschreckend wie erstaunlich. Ich würde so jemanden wie bin Ladens Leibwächter auch eher mit einem Gewicht an den Füßen über dem Mittelmeer abwerfen, aber der Rechtsstaat gilt eben für alle - nicht nur für die Leute, die wir (im Anklang an Fundstück 4) als seines Schutzes "wert" befinden. Aber dieses demokratische Grundverständnis fehlt einer entsetzlichen Menge Menschen.

7) How Democrats can shut down the Senate
Other than quitting for the day or calling for others to come to the chamber, the Senate can do nothing without a majority of its members — 51 senators — participating in a vote. No bill can pass, no amendment can be decided on, no nominations can get approved. At present, it would be extremely difficult for Republicans to provide a quorum with their own numbers. Their majority stands at 51-49, with Sen. John McCain on extended leave in Arizona. If no Democrat participates, the Republicans cannot provide a quorum.* In the month of June, there have been an average of 1.8 Republican absences across 18 roll call votes, so even if McCain returned to the Senate, the majority would struggle to consistently provide a floor majority. This provides Senate Democrats with real leverage. If they refuse to participate in roll call votes, the Senate will come to a halt for lack of a quorum. This tactic would put pressure on every Republican to be near the chamber whenever the Senate is in session and Democrats are able to force a vote on any procedural question. If Republicans are busy in the morning raising money and holding committee meetings, Democrats can force them into the Senate chamber and keep them there. The same is true during peak fundraising time in the early evening, or if the Senate is in session on Friday, or during the month of August. Meanwhile, vulnerable Senate Democrats will be doing their part by staying out of the Senate chamber and using their time more productively. This would be a confrontational tactic; the Senate Democrats would probably only use it to make a fundamental point about the Senate’s role in American democracy. (Vox)
Ein weiterer Teil der Serie "was passiert, wenn sich die Democrats die Methoden der Republicans gemein machen". Da die Democrats die Guten sind, haben sie bisher der Versuchung widerstanden und halten ganz neutestamentarisch die andere Wange hin. Aber das ist wahrlich nicht garantiert. Das Ansehen des Kongresses ist ohnehin bereits im einstelligen Prozentbereich, aber wenn das Parlament mit legalistischen Manövern einfach total blockiert wird, wird es rapide auch noch die letzten Fetzen demokratischer Legitimität verlieren. Der Grund liegt wiederum in der Polarisierung: Da die extremistische Agenda der Republicans und ihre offensichtliche Bereitschaft, Rechtsstaat und Demokratie zugunsten dieser Agenda aus den Angeln zu heben, Politik immer mehr in ein Nullsummenspiel verwandelt, entsteht auf der anderen Seite ein immer größeres Interesse an Totalblockade. Das wird sich auch mit einer Machtübernahme der Democrats nicht ändern. Die GOP hat bereits 2009 einen generellen Unwillen zum Kompromiss erkennen lassen; warum dies nach zehn Jahren der weiteren Radikalisierung anders geworden sein sollte ist unklar. Und die Democrats, die eine solche potenzielle Übernahme durchführen werden, sind auch nicht die von 2009, sondern wesentlich konfliktbereiter. Wahrlich keine guten Aussichten.

8) Jens Spahn, der Planwirtschaftler
Vergangene Woche gab Spahn in einem langen Interview tiefen Einblick in sein wirtschaftspolitisches Denken, das, um es vorwegzunehmen, ziemlich gruselig ist. Denn dass Pflegeunternehmen zweistellige Renditen erzielen, findet Spahn verwerflich. Der Mensch solle im Mittelpunkt stehen und nicht die Rendite, sagt er, ein Satz, der an Trivialität kaum zu überbieten ist. Zweistellige Renditen für Finanzinvestoren seien nicht die Idee einer sozialen Pflegeversicherung, erklärt er wörtlich. Daraus folgt für Spahn: Die Höhe der Gewinne in der Pflege müsse gesetzlich beschränkt werden. So nonchalant hat schon lange kein Politiker mehr die Marktwirtschaft abgeschafft. Eigentlich dachte man, nach dem Ahlener Programm der CDU aus dem Jahr 1947 sei die Idee der staatlichen Planwirtschaft wieder außer Mode gekommen, zumal ihr historischer Feldversuch östlich der Elbe am Ende nicht wirklich erfolgreich war. Es ist ja nicht so, dass Spahn nicht mitbekommen hätte, was er da sagt: Der Pflegeminister weiß, dass sein Vorschlag ein erheblicher Eingriff in die Marktwirtschaft ist, er läuft am Ende schlicht auf die Enteignung von Unternehmern hinaus. Das ist ihm egal, weiß er doch, dass es immer gut ankommt, „zweistellige Renditen“ zu geißeln – erst recht, wenn es um den dementen Opa geht. [...] Käme dies alles von der sozialdemokratischen Familienministerin Franziska Giffey – geschenkt. Aber hier plappert ein Christdemokrat vor sich hin, der in Sonntagsreden die soziale Marktwirtschaft lobt. In der Tradition Ludwig Erhards und der Freiburger Schule gilt Gewinnstreben gerade nicht als ein Privileg des Unternehmers, für das er sich ständig entschuldigen müsste. Es ist vielmehr seine moralische Pflicht, weil genau dieses Verhalten innerhalb einer wettbewerblichen Rahmenordnung den Interessen der Allgemeinheit am besten entspricht. (FAZ)
Was ich an dem zitierten Ausschnitt bemerkenswert finde sind die letzten Sätze. Sie sind ein weiteres Beweisstück für meinen Punkt an die SPD, den ich seinerzeit beschrieben habe. Ich zitiere mich: "Egal wie sehr ihr euch bemüht, das Handelsblatt wird euch nie liebhaben. Die Leute nehmen immer an, dass ihr Geld ausgebt. Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich’s gänzlich ungeniert. Das klingt zynisch. Aber die anderen machen es auch, ihr merkt das nur nicht, und ihr schießt euch selbst in den Fuß." Wie oft hat sich die SPD bis zur Selbstverleugnung getrieben, um endlich von den seriösen Herren mittleren Alters aus den Wirtschaftsteilen der SZ und FAZ, Welt und Handelsblatt für voll genommen zu werden! Da kommt ein SPD-Finanzminister, dessen größter Stolz es ist, exakt nichts anders machen zu wollen als Schäuble. Und was bringt es der SPD? Nichts. Stattdessen gibt es einen völlig unprovozierten Seitenhieb. Ich zitiere mich nochmal aus demselben Artikel: "Schaut euch Schäuble an: der verspricht Hilfspakete für Griechenland, Steuerkürzungen für alle, aber besonders für die Mittelschicht, und die Renten bleiben stabil. Und das kostet keinen Cent! Und niemand zieht auch nur eine Augenbraue hoch, denn die CDU ist bekanntlich die Partei wirtschaftspolitischer Seriosität." Genau das passiert hier. Ein Ton der Entrüstung: "Ausgerechnet ein CDU-Politiker, die so sehr die ordoliberalen Ideale hochhalten! Das erwartet man von der SPD!" Überraschen kann einen sowas nur, wenn man halt ständig durch eine ideologische Brille auf die Welt blickt und nie auf die tasächliche Politik schaut. Es ist die CDU, die im Zweifel jederzeit Geld ausgibt und marktwirtschaftliche Ideale über Bord wirft. Nicht, dass die SPD das nicht auch könnte, aber wer 2018 denkt, sie sei dafür prädestinierter als die CDU, muss schon sehr bewusst die bundesdeutsche Geschichte seit 1949 ausblenden können. Deswegen mein Punkt: die SPD braucht sich nicht zu bemühen. Sie kann machen was sie will, sich jahrelang in der GroKo selbst verleugnen, und sie werden doch nur einen schnoddrigen Kommentar dafür bekommen.

9) Prepper: Die tiefe Sehnsucht nach dem Zusammenbruch
Vermutlich hat dieser heimliche Wunsch nach dem Zusammenbruch der Zivilisation auch etwas mit der Komplexität der realen Welt zu tun: Stromnetz, Internet, internationaler Flugverkehr, internationale Politik, die Börsen und die Weltwirtschaft als Ganzes - das kann doch auf Dauer gar nicht gut gehen. Dazu passt, dass Prepper oft auch Verschwörungstheoretiker oder eben sehr religiös sind - Leute, die an einfache Erklärungen glauben. Was man nicht versteht, das muss schiefgehen. Und wenn es schiefgeht, wird endlich wieder alles verständlich. So wie in Zombiefilmen und -serien, die bei Preppern natürlich sehr populär sind. Der Mensch lebt erst seit etwa 200 Jahren in großer Zahl in Städten und erst seit etwa 10.000 in vorwiegend landwirtschaftlichen Gesellschaften. Den Großteil ihrer Entwicklung hat die Menschheit als Jäger und Sammler verbracht. Manch einer sehnt sich offenbar tief drin zurück in diese alte, einfache Welt. Nahrung, Schutz, Wärme, fertig. Wirklich beunruhigend ist, dass auch viele der Reichsten und Mächtigsten dieser Welt augenscheinlich insgeheim so denken. Der "New Yorker" zitierte im vergangenen Jahr einen namenlosen Finanzinvestor mit den Worten: "Für mich steht immer ein vollgetankter Helikopter bereit, und ich habe einen unterirdischen Bunker mit Luftfiltersystem." Dem Artikel zufolge haben substanzielle Teile des Silicon Valley konkrete Pläne für die Zeit nach dem Untergang. Der Autor und Medienwissenschaftler Douglas Rushkoff beschreibt im eingangs zitierten, kürzlich veröffentlichten Essay eine beklemmende Runde mit fünf superreichen Hedgefonds-Managern, die sich für Fragen wie diese interessierten: "Wie würden Sie Ihre Wachleute bezahlen, wenn Geld erst einmal wertlos geworden ist? Was würde die Wachleute davon abhalten, ihren eigenen Anführer zu wählen?" An alternativen Lösungen, etwa, den Kollaps vermeiden zu helfen, indem man an den eigenen Geschäftspraktiken etwas ändert, seien seine reichen Zuhörer nicht interessiert gewesen, schreibt Rushkoff: "Trotz all ihren Reichtums und all ihrer Macht glauben sie nicht daran, dass sie die Zukunft beeinflussen können." Manche derjenigen, die heute an der Spitze der ökonomischen Nahrungskette stehen, bereiten sich auf den herbeifantasierten Kollaps vor, weil sie ihren Platz unter allen Umständen behalten möchten. (SpiegelOnline)
Silicon Valley ist eine völlige Dystopielandschaft. Progressive, die ernsthaft glauben hier Verbündete gewinnen zu können, sollten inzwischen wahrlich eines besseren belehrt sein. Man denke nur an Zuckerberg und Musk, die sich als Unterstützer der Republicans herausgestellt haben. Wirklich überraschen kann das niemanden. Deswegen passen auch die Verbindungen zu der völlig abgedrehten Prepper-Community wie Arsch auf Eimer. Die (wenigen) Sieger des Silicon Valley leben in einer permaneten Ayn-Rand-Parallelgesellschaft, in der sie als große, visionäre Macher ständig von Kleingeistern belagert werden und sich am liebsten völlig unabhängig machen würden, was angesichts der Tatsache, dass sie ihr Geld mit Vernetzung verdienen, besonders ironisch ist (und wir reden noch nicht einmal darüber dass es großzügige Subventionen sind, die ihnen den Weg überhaupt erst geebnet haben); "you didn't build that"). Es gibt eine literarische Umsetzung, die ziemlich genau das Mindset dieser Leute behandelt: der Videospielklassiker "Bioshock", dessen Vorgeschichte in Romanform erhältlich ist.

10) The truth behind the myth of Americans and the Holocaust
Looking at the news that publications like TIME ran in the 1930s and ’40s shows that, in fact, Americans had lots of access to news about what was happening to Europe’s Jewish population and others targeted by the Nazi regime. But it also highlights a central truth about this period — and human beings in general. Reading or hearing something is not the same as understanding what it truly means, curator Daniel Greene tells TIME, and there’s a wide “gap between information and understanding.” [...] It can sometimes be hard for historians to tell what people were actually absorbing from the news of the day, but Greene doesn’t think that’s the main reason for this supposed gap. The main story in the 1930s was the Great Depression, but Greene says that news of the persecution — and, later, murder — of Jews in Germany did show up in print. “It’s not that the story was buried,” he says. “Just like news is there today of Syria or of the danger to the Rohingya, it punctures through our consciousness at certain times.” [...] So, while the 1933 TIME cover shows that it would be reasonable to expect Americans in the early 1930s to know about the persecution and prejudice at the heart of Hitler’s government — and to then follow the news of the mass murder to which it would lead within a decade — it’s still no myth to say that Americans, especially those who personally witnessed the liberation of the camps, were shocked to discover the extent and cruelty of what was happening in Europe. “You can’t say that Americans didn’t know anything,” Greene says, “but you also can’t blame them for not predicting the Holocaust.” (TIME)
Eine ungeheuer spannende Fragestellung. Wir sehen das Muster sich ja auch bei dem Drama wiederholen. Ob Ruanda 1994 oder die Flüchtlingskrise jetzt, wissen können hätte man es lange vorher. In Deutschland hatten wir ja genau das. Progressive hatten ja jahrelang davon geschrieben, wie Menschen im Mittelmeer ertrinken und wie die FRONTEX-Politik der EU keines der Probleme löste, aber zu vielen weiteren Toten führte. Es war aber egal, weil die Menschen alle in Italien, Spanien und Griechenland ankamen, also kein Problem, das Deutschland in irgendeiner Weise tangierte. Als dann 2012 der syrische Bürgerkrieg begann wurde das Problem drängender. Es gab immer Artikel über die ertrinkenden Leute, aber so richtig wahrhaben wollte es hier in Deutschland fast niemand. Und dann wurde 2015 urplötzlich das ganze Ausmaß begreifbar, als durch den Doppelschlag des Todes von Alan Kurdi und der Massen von Flüchtlingen, die nach Norden drängten und sich in Ungarn stauten, das Problem plötzlich vor der Haustüre stand. Das Resultat war dann die Willkommenskultur ("Refugees Welcome"), die sich freilich nach Köln in die sattsam bekannte Abwehrhaltung wandelte. Aber man hätte schon viele Jahre vorher alles wissen und "Fluchtursachen bekämpfen" können. Wollte man nur halt nicht.

11) Eklat in der Ludwig-Erhard-Stiftung: Friedrich Merz lehnt Preis ab
Doch Merz reagierte reserviert. Wer denn die Laudatio auf ihn halten werde, wollte er wissen. Wenig später folgte dann die endgültige Absage: Er wolle den Preis nicht entgegennehmen, erklärte Merz. Der CDU-Politiker hat dafür Gründe. Er selbst will sich nicht äußern. Doch in einer internen E-Mail, die dem Handelsblatt vorliegt, schildern Jury-Mitglieder des Ludwig-Erhard-Preises Merz’ Beweggründe. Er tue sich grundsätzlich schwer mit Preisen, habe Merz mitgeteilt, „in diesem Fall aber besonders, weil er nicht mit dem Vorsitzenden der Stiftung auf einer Bühne auftreten wolle“. Der Vorsitzende der Ludwig-Erhard-Stiftung, das ist seit 2014 Roland Tichy, Betreiber des Meinungsportals „Tichys Einblick“, das aus Sicht von Kritikern regelmäßig die Grenze zum Rechtspopulismus überschreitet. Schon die Absage von Merz ist ein beispielloser Vorgang in der Geschichte der Ludwig-Erhard- Stiftung. Doch sie war nach Handelsblatt-Informationen nur der Stein des Anstoßes für vier namhafte Jury-Mitglieder, ihre Arbeit hinzuschmeißen. Die renommierten Journalisten Rainer Hank, Ulric Papendick, Nikolaus Piper und Ursula Weidenfeld erklärten ihren Austritt aus dem Gremium. Ein weiteres Mitglied soll ihnen am Wochenende gefolgt sein. Die Journalisten machen Stiftungschef Tichy schwere Vorwürfe. Nicht nur, dass potenzielle Preisträger wie Merz wegen seiner publizistischen Tätigkeit inzwischen einen Bogen um die Stiftung machten. Sie fürchten auch, die Ludwig-Erhard-Stiftung laufe Gefahr, zur „Reputationsmaschine“ für „Tichys Einblick“ zu werden. (Handelsblatt)
Ich hätte noch vor kurzer Zeit niemals gedacht, dass ich einmal Friedrich Merz für etwas loben würde, aber die Nicht-Annahme des Preises und seine öffentliche Positionierung gegen Tichy ist wahrlich bemerkenswert. Es ist genau das, von dem ich immer spreche: es ist an Konservativen, sich gegen die Radikalisierung in ihren eigenen Reihen zu stellen. Die müssen das machen, und Gesten wie die Merz' sind dafür von unschätzbarem Wert.

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