Freitag, 27. Juli 2018

Schweigende Herero, verlorene Männerinteressen und in eine glorreiche Zukunft blickende Amtskirchen - Vermischtes 27.07.2018

Die Serie "Vermischtes" stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Alles ist politisch. Auch das Schweigen.
Es gab mal eine Zeit – und die ist gar nicht so lange her – da kam man mit dem Satz: „Ich interessiere mich nicht so für Politik “ noch einigermaßen unbeschadet durch den Tag. Es interessierte sich ein gutes Jahrzehnt lang zwischen 2005 bis 2015 ja noch nicht einmal die Politik besonders für Politik. Merkel regierte mal mit diesem, mal mit jenem Partner emotions- und geräuschlos vor sich hin, Konfliktpotential gab es kaum und für das globale Wohlempfinden sorgte Barack Obama im Weißen Haus. Fußball war Fußball, die multikulturelle Nationalmannschaft eilte vom Sommermärchen zum WM-Titel und die Wirtschaft von der Finanzkrise zu neuen Rekorden. Europa hatte zwar ein großes Problem in Folge der Finanzkrise, aber alles in allem blieb man doch zusammen und griff Spanien, Portugal und Griechenland unter die Arme. Wie jeder Blick zurück romantisiert auch dieser, um den Blick auf die Gegenwart zu dramatisieren. [...] Es hat scheinbar einige gegeben, die darauf gewartet haben, dass man endlich wieder von Kopftuchmädchen, Messerstechern, Asyltouristen oder Sozialschmarotzern sprechen darf – und gleichzeitig für AfD, CDU oder CSU im Parlament sitzen kann. Und diese, die gewartet haben, mühen sich jetzt, das Rad weiter zu drehen. Sie mühen sich nun, dem Hass, der Ausgrenzung und der Sündenbockpolitik den philosophischen Unterbau nachzureichen. Oder sie nutzen die neue Verrohung, um sich schnell selbst aus der Schusslinie zu nehmen und andere in diese zu schubsen. Und zwar gerne die, die sowieso schon anders sind. [...] Es ist das Jahr 2018 und es gibt kein unpolitisches Leben mehr. Es sei denn, wir wollen von der Nachwelt später zu denen gezählt werden, die so lange auf dem Vulkan tanzten, bis er sie verbrannte. Aber vorher hatten wir unseren Spaß und unser bequemes, unpolitisches Leben auf der Tribüne. (Frank Stauss)
Ich bin zwiegespalten. Als politisch denkender Mensch, für den Nachrichten nur kurz hinter dem täglichen Brot kommen, stimme ich dem natürlich zu. Auf der anderen Seite hast du aber immer das Ding, dass zu einer Demokratie gehört, sich nicht für Politik interessieren zu müssen. Es ist furchtbar verzwickt. Die Lage wäre einfacher wenn die Leute, die sich nicht beteiligen und nicht interessieren, sich hinterher auch nicht beklagen würden, aber dem ist natürlich auch nicht so. Und Stauss hat natürlich Recht damit, dass in extremen Zeiten das Schweigen tatsächlich tief politisch wird. Ich würde mir diese Eskalationsstufe noch etwas aufbewahren wollen. Ja, wer schweigt hilft aktuell CSU und AfD, weil die behaupten eine schweigende Mehrheit zu vertreten. Aber wir sind halt (noch) nicht in einer 1932-Parallele. Nicht dass ich glauben würde, es würde sich signifikant etwas bessern, sobald es tatsächlich übler wird, aber im Interesse der intellektuellen Ehrlichkeit sei es erwähnt.

2) Es wird schlimmer, Tag für Tag
Wer in den letzten sechs Monaten dennoch das Gefühl hatte, da habe sich an Frequenz, Gefährlichkeit und Dreistigkeit antisemitischer Übergriffe etwas verändert, von der Verhöhnung von Juden auf offener Straße über die öffentliche Prämierung von Hass-Rappern bis zu verbalen und tätlichen Angriffen auf Träger der Kippa, wird sich durch die soeben vorgestellte Langzeitstudie der Technischen Universität Berlin bestätigt fühlen. [...] Zu den wahrhaft beunruhigenden Funden der Studie gehört, dass sich die Sprach- und Verunglimpfungsmuster der historischen und der zeitgenössischen Judenfeindschaft frappierend ähneln. Antisemitische Klischees wie „Fremde“, „Verschwörer“, „Wucherer“, „Landräuber“ oder „Kinder- und Christusmörder“ sind durch die Jahrhunderte weitergereicht worden und erscheinen unrelativiert und kontextfrei in Netzkommentaren. Man kann dergleichen schreiben, und nichts passiert. Die AfD wurde in diesem Zusammenhang kaum erwähnt; aufschlussreicher ist die Verankerung antisemitischen Denkens in linken, rechten und muslimischen Kreisen allgemein. (FAZ)
Jedes Mal wenn ich in der Schule Antisemitismus thematisieren, vor allem außerhalb des Kontexts des Holocausts, fragen die Schüler - oft mit leicht genervtem Unterton - warum immer die Juden Opfer von Hass und Unterdrückung wurden. In dieser Frage schwingt dann immer unterschwellig die Annahme mit, dass sie irgendetwas an sich haben müssen, irgendetwas getan haben müssen, um diese Verfolgung zu rechtfertigen. Dieser psychologische Mechanismus taucht in der Schule auch bei Mobbing immer auf, da suchen auch alle nach dem, was das Mobbing-Opfer "falsch" gemacht hat, weswegen jede Mobbingprävention auch immer einbläut, dass Mobbingopfer (analog zu Vergewaltigungsopfern oder Opfern rassistischen Hasses oder oder oder) nicht selbst Schuld sind, sondern dass es die Täter sind. Aber diese Idee ist kaum totzukriegen. Ich bin kein Experte für Antisemitismus, aber ein Gutteil der oben im Artikel angespochenen Klischees scheint einen ziemlich universellen Appeal zu haben. Was bei Antisemitismus spezifisch noch problematisch ist ist paradoxerweise sein öffentliches Profil: wer irgendetwas zum Thema googelt findet eine solche Menge an so genannter "Israel-Kritik" oder revisionistischem Mist, dass einem bange wird. Ich vermeide inzwischen so gut ich kann, dass Schüler ohne Anleitung irgendein Thema zum Judentum oder Holocaust recherchieren, weil man da so schnell so unglaublich viel Mist findet (ernsthaft, sucht mal bei Youtube nach "Holocaust" und klickt euch ein bisschen durch...), vor allem bei konkreteren Fragestellungen - da wundere ich micht nicht, warum das so persistent ist. Und dazu wirkt man immer so wunderbar kritisch, wenn man das in Frage stellt.

3) Es geht nicht um Fraueninteressen
Viele denken noch immer, dass feministische Positionen in erster Linie damit zu tun hätten, die Situation von Frauen zu verbessern oder Diskriminierungen abzubauen. Deshalb glauben viele Männer, feministische Debatten gingen sie nichts an oder beträfen sie nicht. In Wirklichkeit geht es aber nicht so sehr um das Verhältnis von Frauen und Männern, sondern um das Verhältnis von Frauen zur Welt. Ausgehend von den eigenen Erfahrungen und im Nachdenken darüber, wie Geschlechterdifferenzen die Welt beeinflussen, haben Frauen viele gesellschaftliche und politische Erkenntnisse gewonnen, die in eher männlich dominierten Kontexten fehlten. Man denke, als ein Beispiel, nur an den ganzen Komplex der „Care-Arbeit“. Diesen Punkt, dass es uns um die Welt geht und nicht bloß um „die Situation der Frauen“, müssen wir immer wieder vermitteln. Die Zeit dafür ist gut, weil es heute ja immer deutlicher wird, dass die traditionellen männlichen Analysen und Ideen, die den Aspekt der Geschlechterdifferenz missachten, in vielen Fällen schlicht nicht mehr funktionieren. Es gibt einen großen und dringenden Bedarf an anderen Ideen und Vorschlägen. (Antje Schrupp)
Dieses Vorurteil ist ja auch unter der Leserschaft hier einigermaßen verbreitet. Feminismus, das sind die Anderen, das ist der Feind, das sind die, die einem was wegnehmen wollen. Nichts könnte ferner von der Wahrheit liegen. Wir Männer profitieren massiv vom Feminismus, wenn wir es nur zulassen. Das Patriarchat und toxische Maskulinität schaden allen, auch Männer, die ja ostentativ die Nutznießer sind. Das muss man sich wieder und wieder klar machen.

4) How I lost my past
Yet it is very difficult to tell these other stories. History is written, we are told, by the victors and stories that do not fit the pattern narrative are rejected. This is especially the case, I have come to believe, in the United States that has created during the Cold War a formidable machinery of open and concealed propaganda. That machinery cannot be easily turned off. It cannot produce narratives that do not agree with the dominant one because no one would believe them or buy such books. There is an almost daily and active rewriting of history to which many people from Eastern Europe participate: some because they do have such memories, some because they force themselves (often successfully) to believe that they do have such memories. Others can remain with their individual memories which, at their passing, will be lost. The victory shall be complete. [...] Thinking of those years in political terms, one moment now, perhaps strangely, stands out for me. It was the Summer of 1975. The Helsinki conference on peace and stability in Europe was just taking place. It was closing a chapter on the World War II. It came just months after the liberation of Saigon. And I recall being on a beach, reading about the Helsinki conference and thinking, linking the two events: there will be no wars in Europe in my lifetime, and imperialism has been defeated. How wrong was I on both accounts. (Global Inequality)
Der hier beschriebene Mechanismus ist auch in der Ostalgie sichtbar: Der Spagat zwischen der Notwendigkeit einer Vergangenheit mit eigenen Höhepunkten und der revisionistischen Verklärung derselben ist ungeheuer schwierig, und meistens schlägt das Pendel sehr stark in eine Richtung. Die Geschichte der DDR etwa wird tatsächlich extrem stark auf ihre negativen Aspekte reduziert. Das wahrlich auch nicht zu Unrecht, aber darüber wurde oft vergessen, wie viele Menschen in diesem System ihr komplettes Leben oder doch einen großen Teil verbracht haben, vor allem ihre formativen Jahre. Das Gegenstück ist dann eine ungeheure Verharmlosung, wo die Mangelwirtschaft zum solidarisierenden Element verklärt und Stasi und Eiserner Vorhang mehr oder weniger mit Vergessen gestraft werden. Noch viel extremer kann man das in Russland beobachten, wo der Stalin-Kult fröhliche Urständ' feiert, als ob es die Entstalinisierung unter Chruschtschow nie gegeben hätte. Das ist auch wahrlich kein Phänomen, das nur den Osten betrifft, auch wenn die wegen der Niederlage im Systemkonflikt ganz besonders damit zu kämpfen haben. Man sehe sich nur die Probleme der USA an, ihre Vergangenheit bezüglich des Umgangs mit der Sklaverei, den Ureinwohnern oder den asiatischen Einwandern aufzuarbeiten, oder die Verherrlichung der kolonialen Vergangenheit in Großbritannien...

5) Are things getting better or worse?
A final reason for doubting progress is the future, in all its terrifying potentiality. One of Pinker’s most persistent critics is the statistician and risk analyst Nassim Nicholas Taleb, the author of “The Black Swan,” “Fooled by Randomness,” and other explorations of uncertainty. For the past few years, in a relentless barrage of tweets and Facebook posts, Taleb has responded to Pinker’s optimism by distinguishing between “thin-tailed” historical trends—picture the trailing ends of a bell curve—which are likely to continue indefinitely, and “fat-tailed” ones, which retain their capacity to surprise. Pinker shows that, during the past century, per-capita deaths from fire have declined by ninety per cent in the United States. In Taleb’s view, this is a thin-tailed trend, since it’s the result of innovations, such as better materials and building codes, that are unlikely to reverse themselves. By contrast, the decline in deaths from terrorism—far more people were killed by terrorists in the nineteen-sixties and seventies—is a fat-tailed trend; as Taleb writes on Facebook, “one biological event can decimate the population.” Pessimists of the Taleb school argue that we underestimate the number of fat-tailed trends. In a review of “Enlightenment Now,” the theoretical computer scientist Scott Aaronson imagines a hypothetical book, published in 1923, about “the astonishing improvements in the condition of Europe’s Jews.” The authors of such a book, Aaronson writes, would have reassured themselves that “an insane number of things would need to go wrong simultaneously” for that progress to be reversed—which, needless to say, is what happened. [...] Problems and progress are inextricable, and the history of improvement is also the history of problem-discovery. Diagnosis, of course, is an art in itself; it’s possible to misunderstand problems, or to overstate them, and, in doing so, to make them worse. But a world in which no one complained—in which we only celebrated how good we have it—would be a world that never improved. The spirit of progress is also the spirit of discontent. (New Yorker)
Äußerst spannender Artikel. Ich bin generell ein großer Fan von Steven Pinker und seinem Optimismus über die aktuelle Entwicklung. Tatsächlich ging es der Welt im Schnitt noch nie so gut wie heute, und die ganzen "Make Great Again" und "Früher War Alles Besser"-Leute liegen komplett falsch. Auf der anderen Seite ist aber dasArgument über die "thin-tailed" vs. "fat-tailed"-Trends ein sehr spannendes. Prognosen sind ja bekanntlich besonders schwer, wenn sie die Zukunft betreffen, und eine größere Katastrophe von Asteroideneinschlag über neuartige Seuche hin zu einer Killer-KI und natürlich der allgegenwärtigen Bedrohung durch den Klimawandel (oder die Zombie-Apokalypse) könnte unsere Gesellschaft sehr schnell komplett aus den Angeln heben. Was wir allerdings als gesichert annehmen können ist, dass eine Million syrischer Flüchtlinge uns nicht in unserer Existenz bedroht, egal wie sehr sich die Rechten in diese Vision hineinsteigern. Diese Unvorhersehbarkeit der richtig heftigen Bedrohungen ist auch ihre eigentliche Gefahr.

6) AfD-Schmierenkomödie um versteckte Wahlkampfhilfe
Meuthen versucht aber, diese direkte Unterstützung durch die Goal AG nicht als Parteispende zu werten. Das ist aus Sicht von LobbyControl sachlich abwegig – und es ist politisch hochbrisant, weil Meuthen und die AfD damit versuchen, die Transparenzregeln für die Parteienfinanzierung auszuhebeln. Falls Meuthen und die AfD Erfolg hätten, könnten Konzerne, Vermögende oder ausländische Regierungen Wahlkampagnen für eine Partei unter Mitwirkung von Politikern dieser Partei organisieren, ohne dass die Öffentlichkeit erfährt, wer dahinter steckt. Partei und Politiker müssten nur behaupten, die Kampagne nicht offiziell beauftragt zu haben. [...] Klar ist: Wenn die AfD für die Wahlwerbung Verantwortung übernehmen muss, drohen ihr Millionen-Strafen wegen illegaler Parteienfinanzierung. Im Fall von Jörg Meuthen geht es um die Frage, ob es sich am Ende um illegale anonyme Parteispenden handelt (mehr dazu siehe in unserem Bericht von Juni 2018). Die Bundestagsverwaltung ist jetzt in der Pflicht, die Untersuchungen voranzutreiben – und sich keinen Sand in die Augen streuen zu lassen. (LobbyControl)
#DrainTheSwamp hieß das bei Donald Trump, und wie immer wenn Kandidaten lauthals verkünden, dass sie allein rein und ehrlich sind und den Sumpf austrocknen wollen, den alle ihre politischen Gegner geschaffen haben, ist das oft viel Getöse, das nur die eigenen und oft genug krasseren Verfehlungen verdeckt. Das Ausmaß an Korruption in der Trump-Regierung ist ja jetzt schon beispiellos, aber die eigenen Anhänger kümmert's nicht, sofern ein paar Latinas die Babys weggenommen werden. Auch bei der AfD dürfen wir uns sicher sein, dass ihre Anhänger großzügig über diese Hexenjagd der Medien und etablierten Parteien, die ja eh alle unter einer Decke stecken um die einzig wahre Vertretung der Deutschen und der schweigenden Mehrheit...ach, ihr wisst, wie es weitergeht. A propos, schweigende Mehrheit:

7) Die stille Mehrheit kann mich mal // Wir schweigen die Extremisten an die Macht
"Hau hier ab, du Scheißkanake!" Ich starrte ungläubig in das wutverzerrte Gesicht des Mannes, der hinter mir an der Kasse stand und plötzlich begonnen hatte zu schreien. Mich anzuschreien. Ein sonniger Montagnachmittag. Der Rewe in Berlin-Mitte war vollgepackt mit Menschen. "Ich bin Deutscher, ich darf hier stehen! Du Scheißausländerin, geh zurück, wo du herkommst, Türkei, Spanien, mir scheißegal!" Ich wollte gerade meine Einkäufe aufs Band legen. Der Mann war jung, vielleicht Mitte dreißig. Seine Freundin stand stumm daneben. Alle anderen Kundinnen und Kunden in der Schlange hinter uns auch. "Du kommst nur her, um unsere Arbeitsplätze zu klauen und Hartz IV zu klauen, du Scheißkanake!" Er schrie weiter. [...] Das war sie wohl, die berühmte "stille Mehrheit", die damals um uns herum im Supermarkt stand und zuschaute, wie eine Frau angegriffen wurde, weil sie offensichtlich nicht aus der Vereinigung zweier blonder, blauäugiger Deutscher abstammte. Vielleicht waren die Menschen, die zuschauten, innerlich empört darüber, was sie sahen. Vielleicht fanden sie falsch, was der Angreifer sagte und tat. Vielleicht hatten sie Angst. So gerechtfertigt ihnen ihre Gründe in jenem Moment scheinen mochten - mir war das alles egal. Das Gefühl, das ich noch fünf Jahre nach diesem Erlebnis habe, ist: Wenn es darauf ankommt, bist du allein. [...] Für mich persönlich bleibt nach meiner Begegnung mit dem Rassisten vor fünf Jahren: Der Mann verließ den Supermarkt im Bewusstsein, alles richtig gemacht zu haben. Mit seinem Handeln lediglich dem Willen der stillen Mehrheit Ausdruck verliehen zu haben. Ich erinnere mich nicht mehr daran, wie der Mann aussah, der mich angriff. Ich werde aber nie das Gesicht der Kassiererin vergessen, die nichts sagte. Ich werde mich für immer daran erinnern, wie die zwei Männer aussahen, die an der Kasse direkt hinter uns standen und stumm blieben. Die stille Mehrheit macht sich mitschuldig an dem, was zurzeit passiert, wenn sie weiterhin still bleibt. Die stille Mehrheit kann mich mal, denkt man sich an solchen Tagen. Wenn sie still ist, bringt es überhaupt nichts, dass sie die Mehrheit ist. (SpiegelOnline) Diese Katastrophe, diese Unfähigkeit oder Unwilligkeit Deutschlands zur echten Integration, hängt unmittelbar mit der deutschen Angst zusammen. Denn jedes öffentliche Schweigen in öffentlichen Debatten und Situationen, wo es darauf ankäme, wird gefüllt von den Immerlauten. Zum Beispiel von der "Bild"-Zeitung, die eine Kampagne gegen Özil fuhr, wie man sie gegen Gauland noch nie gesehen hat. In ihrem Özil-Furor hat diese Zeitung die Vorwürfe zu seiner Erklärung - "Im Internet!" und "Auf Englisch!" - auf den Titel gehoben. Das heißt übersetzt: Özil hat über soziale Medien direkt mit seinen Fans kommuniziert, er hat nicht mit uns gesprochen, er hat der "Bild"-Zeitung Wissensvorsprung und Deutungshoheit über das deutsche Fußballgeschehen genommen. Rache! Hier schließt sich der Schweigekreis, denn die Stille des DFB und der Nationalmannschaft haben sehr viel mit der deutschen Angst vor der "Bild"-Zeitung zu tun. [...] Wenn zu viele Menschen ihren Mund halten, obwohl sie laut sein sollten, können die Immerlauten sich und der Öffentlichkeit einreden, sie repräsentierten die Mehrheit. Und so traurig das ist, es handelt sich um eine selbst erfüllende Prophezeiung. Die schweigende Mehrheit ist in einer liberalen Demokratie keine Mehrheit. Eine stumme Mehrheit kann ohne großen Aufwand Extremisten an die Macht schweigen. (SpiegelOnline)
Beide Artikel von SpiegelOnline beleuchten wichtige Dimensionen der Schweigespirale. Wie ich in meinem Artikel zu der erstmaligen politischen Verwendung des Begriffs durch Richard Nixon beschrieben habe: wer schweigt, stimmt zu. Das Wort von der Zivilcourage ist etwas aus der Mode gekommen, aber der Widerstand der anständigen Bürger gegen diese braune Soße, gegen den Alltagshass, ist umso wichtiger, je mehr er sich in die Mitte der Gesellschaft schleicht. Es ist die Fraktion des "Ja Aber", die hier am aktivsten schweigt. "Ja, schon schlimm der Rassismus, aber irgendwie ist der Ärger der Leute ja verständlich", ihr kennt die Leier. Verständnis hab ich auch, aber stehen lassen kann man den Dreck halt leider nicht. Und das ist extrem unangenehm. Aber auch das gehört dazu, wenn man anständig sein will. Und Anstand ist ja immer ein wichtiges Thema der Bürgerlichen. Deswegen ist es gerade wichtig, dass Konservative sich distanzieren - ich schreibe da gerade immer wieder darüber, ich weiß, aber es sind Signale aus der CDU und der CSU, die im politischen Bereich hier die wichtigsten sind, nicht der Grünen. Die Union ist es, die der Mitte signalisieren kann, was satisfaktionsfähig ist und was nicht. Und hier wurde schon viel zu viel zugelassen. In dem Zusammenhang ist auch das nächste Fundstück sehr erfreuchlich.

8) Wegen AfD: Dominikaner distanzieren sich von Ockenfels // Kirche muss die "Anstößigkeit" des Kreuzes erklären
Die Dominikaner nehmen laut Stellungnahme eine besorgniserregende Entwicklung in den europäischen Gesellschaften wahr. "Nationalistische Tendenzen werden zunehmend über die Idee eines gemeinsamen Europas gestellt – so auch festgehalten im Grundsatzprogramm der AfD", so Kreutzwald. Damit einher gehe eine verrohende und plakativ-vereinfachende Sprache der Abgrenzung und Abschottung. Auffällig sei eine Fokussierung auf die europäische Flüchtlingsthematik, die seit Monaten andere wichtige gesellschaftliche Fragestellungen ins Abseits dränge, heißt es weiter. "Rechtsgerichtete Parteien wie die AfD profitieren davon und suchen mit vereinfachender Polemik, Menschen an sich zu ziehen." Allerdings sei die Sachlage so komplex, dass sie viele Länder und politische Zusammenhänge beträfe. Daher könne sie nicht national, sondern nur gemeinsam angegangen und gelöst werden. "Dabei kann nicht oft genug deutlich gemacht werden, dass es nicht um eine 'Sache' geht, sondern um Menschen", schreibt Kreutzwald. Die Aufgabe des Ordens sehe man zudem ausdrücklich in der Verkündigung der guten Botschaft Jesu "zum Heil aller Menschen". (Katholisch.de) Gegenwärtig werde das Kreuz entweder "in Talkshows verharmlosend als Zeichen der Zugehörigkeit zu einer Konfession diskutiert, so Mertes. "Oder es wird kulturkämpferisch instrumentalisiert, am sinnenfälligsten wenn es schwarz-rot-gold angestrichen wird, um das Abendland gegen die 'Islamisierung' zu verteidigen." Aber in keinem der beiden Fälle werde die Kreuzigung Jesu als der "Skandal" begriffen, für den ein christlicher Missionar wie Paulus noch ein Gespür gehabt habe. Sogar klar ablehnende Äußerungen gegenüber dem Kreuz könnten für die öffentliche Diskussion "hilfreich" sein, betont der Jesuit. "Sie fordern gerade Christen im guten Sinne des Wortes heraus, das Kreuz ernst zu nehmen - oder wenigstens zu überprüfen, ob das Gespür für den Skandal des Kreuzes bei ihnen wirklich noch da ist." Dieses Gespür sei ein "Schlüssel für gelingende missionarische Kommunikation in der Welt". (Katholisch.de)
Ich bin ja wahrlich nicht der größte Fan der Amtskirchen, aber sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche fallen in den letzten Monaten äußerst positiv auf, was ihre entschiedene Abgrenzung nach rechts angeht. Die Amtskirchen leisten gerade genau das, was sie immer für sich beansprucht haben: Dass sie das Gewissen der christlichen Mehrheitsgesellschaft verkörpern. Offensichtlich wird diese klare Haltung, in der sie sich bewusst gegen die billige und populistische Kooptierung der AfD und CSU wehren, auch belohnt. Zum ersten Mal seit langem hat sich 2018 der Trend umgedreht und die Zahl der Kircheneintritte übertrifft den der Austritte. Diese Entwicklung kann übrigens auch in anderen kirchlichen beziehungsweise mit den Amtskirchen affiliierten Einrichtungen beobachtet werden, die sich in der Flüchtlingsarbeit engagieren. Dieser Trend unterscheidet sich in Deutschland auch augenfällig von den USA, wo gerade die Evangelikalen (von denen es in Deutschland dankenswerterweise nur wenige gibt) zu den größten Treibern der Radikalisierung gehören und dabei mehr und mehr zu einer Karikatur ihrer selbst werden. Bei aller berechtigten Kritik an der Verflechtung und Verfilzung der Amtskirchen mit dem deutschen Staat, wenn die Amtskirchen sich in der Krise dann wenigstens bewähren statt einfach umzufallen ist das sehr erfreulich.

9) The Future is going to be great!
So prepare yourself for a few things:
  • We will discover the genetic wellsprings of things like memory, artistic talent, mathematical ability, extroversion, laziness, aggression, ability to swot up foreign languages, and a hundred other things. And that’s not even counting fast-twitch muscles, balance, speed, stamina, and other traits that make great athletes.
  • Thanks to CRISPR (or perhaps CRISPR+) we’ll be able to fine-tune these abilities in babies. Maybe in adults too. The era in which we argued about the ethical implications of this stuff will be over. We’ll just do it and see the results.
  • How much does parental upbringing affect any of this? I’m going to put my money on “not much,” but it’s hardly worth making guesses anymore. In a decade or two we’ll know.
  • How much effect does the entire environment outside the womb have starting with the day a baby is delivered? I’m going to put my money on “some,” but that’s as far as I’ll go.
  • The effects on social justice will be profound. Once it becomes irrefutable that certain people just flatly have more talent than others, and furthermore, that they can probably buy even greater talents, the philosophical justification for paying the talented more than the untalented disappears. In what way do the talented deserve any more money if we can literally draw a map showing where their talents are located on their genomes and where their ambition, focus, and zeal for hard work comes from? (Mother Jones)
Ähm...nicht die Überschrift, die ich gewählt hätte. Wenn das tatsächlich eintrifft und wir im Endeffekt "Gattaca" Realität werden lassen, dann bin ich mir ganz und gar nicht sicher wie klasse das ist. Wenn es möglich wird, durch Gentherapie "Talent" (was auch immer der Begriff dann noch wert ist) in Babys einzuspeisen, dann wird das garantiert eine Menge Geld kosten, die nicht jedermann zur Verfügung steht - und warum Unternehmen nicht NOCH MEHR als vorher dieses "Talent", das sich nun betriebswirtschaftlich zweifelsfrei quantifizieren lässt, als Grundlage für Bezahlung hernehmen und damit die Reproduktion einer Elite garantieren sollten, ist mir völlig unklar.

10) So raffiniert wie zwielichtig
Zur erfolgreichen deutschen Geschichte gehört aus AfD-Sicht auch die Kolonialzeit. Das hat Höcke in seinem neuen Buch "Nie zweimal in denselben Fluss" klargestellt. Man dürfe "Kolonisation" (gemeint ist der Kolonialismus), "nicht ausschließlich negativ betrachten", schreibt er und schwärmt vom "Wohlstandsaufbau, der in der Zeit von 1850 bis 1918 aus dem Geist und der praktischen Tüchtigkeit der Deutschen" in den Kolonien erwuchs. Kein Wunder also, dass sich die AfD auch in die Debatte um die aus der Kolonialzeit stammenden Objekte im künftigen Humboldt-Forum einschalten würde. Im März schrieb Marc Jongen: "Die Parteigänger des 'Postkolonialismus' versuchen den Eindruck zu erwecken, die ethnologischen Sammlungen ... seien samt und sonders gestohlen und müssten restituiert werden. ... Am Pranger stehen der angebliche westliche 'Rassismus' und der 'Kolonialismus' als Quellen alles Bösen." [...] Das AfD-Papier funktioniert nicht zuletzt deshalb so gut, weil es die Entwicklung der Debatte Schritt für Schritt nachvollzieht. Statt sich wirklich mit den Theorien der Postkolonialisten zu beschäftigen, statt über Machtverhältnisse im Museum oder die Konstruktion des Fremden nachzudenken, setzen die meisten Tonangeber der deutschen Kulturpolitik darauf, das Thema auf die Verfahrensebene hinunterzukochen, an Kommissionen zu delegieren und im Kleinklein minutiöser Untersuchungen versickern zu lassen. So fällt es der AfD leicht, erst Widersprüche zwischen Absichten und Umsetzung zu entlarven und dann mit der mangelhaften Umsetzung die Absichten zu diskreditieren. Und auch die Tatsache, dass es in der AfD-Anfrage nur um Deutschland geht und kaum um Afrika, ist kein Zufall. Es gab die eine oder andere Politikerrede, es gibt ein paar Sätze im Koalitionsvertrag. Doch keine Angela Merkel, keine Monika Grütters, keine Michelle Müntefering hat laut gesagt, worum es bei der Frage nach den geraubten Objekten in den Museen wirklich geht: weder um Wiedergutmachung noch um akademische Theorien oder bloße Eigentumsfragen, sondern darum, das Verhältnis zu Afrika auf eine grundlegend neue Basis zu stellen. (SZ)
Es verwundert nicht, dass die AfD neben der Zeit des Nationalsozialismus auch gerne die deutsche Kolonialgeschichte in ein positiveres Licht gerückt sehen möchte. Die Argumentation von den großen zivilisatorischen Segnungen der Kolonialzeit ist aus deutschem Mund genauso großer Unsinn wie von britischen oder französischen Kolonial-Apologeten. Auch der im Artikel angesprochene Strategiewechsel der AfD ist sehr interessant, ich empfehle ihn ganz zu lesen. Ich möchte an dieser Stelle aber etwas mehr auf den Wechsel im Verhältnis zu Afrika eingehen. In den Schlagzeilen war das hauptsächlich auf Basis der Frage, ob Deutschland Reparationen für den Völkermord an den Herero zahlt. Ich halte das wegen der juristischen und finanziellen Folgen im Hinblick auf andere solche Forderungen für unwahrscheinlich. Es wäre allerdings absolut begrüßenswert, wenn Deutschland - wie sich das aktuell abzeichnet - die Verantwortung für diese Taten übernimmt und Restitution über die Rückgabe von Raubgut und kulturelle und wirtschaftliche Zusammenarbeit leistet. Eventuell könnte hier auch ein Modellfall entstehen, wie man mit der kolonialen Vergangenheit umgeht, der gerade auch für Großbritannien lehrreich sein könnte.

11) Natürlich blond
Denn klar, die Ostdeutschen „kehren zurück“. Sie tun dies aber, weil in den neuen Ländern inzwischen gute wirtschaftliche Bedingungen herrschen. Die aber sind eine Folge der unvorstellbaren Summen, mit denen unsere Brüder und Schwestern in den Westzonen nach 1990 – erfolgreich – die rauchenden Trümmer der jahrzehntelangen DDR-Misswirtschaft abgelöscht haben. Die AfD war da noch Quark im Schaufenster. Und auch wenn heute im Landkreis Eichsfeld die Arbeitslosenquote unter vier Prozent liegt, so zieht es doch nur wenige „Rückkehrer“ oder Zuzügler in Orte wie Heilbad Heiligenstadt und weit mehr in die ostdeutschen Schmelztiegel wie Leipzig. Dessen Stellung als kulturell herausragende und wirtschaftlich aufstrebende Stadt verdankt sich denn auch weniger ethnischer Homogenität oder einer besonders facebookkachelkompatiblen Altstadt. Nein, dass Leipzig heute überhaupt wieder auf den Radarschirmen auftaucht, ist Folge einer Eigenschaft, die das genaue Gegenteil der von der AfD so brachial appropriierten DDR-Identität darstellt und die Leipzig genau wie andere Städte im Osten sich überaus mühsam zurückerkämpfen musste: Internationalität. Das kosmopolitische Flair, das Städte wie Leipzig, Jena, Potsdam, Erfurt und, ja, auch Dresden heute mindestens abschnittsweise durchweht, ist die auf kommunale Ebene heruntergebrochene Variation der gesellschaftlichen Öffnung, in die die gesamte ehemalige DDR mit dem Ende ihres gemischten Geschäftsmodells aus wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Unterdrückung hineingezwungen wurde – sehr wohl zu ihrem eigenen Besten. Der Erfolg wenigstens der großen Städte ist nicht darin begründet, dass sie ethnisch blütenweiß geblieben wären, sondern an den konstruktiven Reibungen, die ein gesteigertes Maß an Vielfalt bekanntermaßen mit sich bringt. [...] Denn was bewirken solche, eine wirr zusammenimaginierte „Ostidentität“ abfeiernde Posts anderes, als dass Deutsche sich auch heute, im Jahr 28 nach der Wiedervereinigung, noch immer zuvörderst als „Ossis“ oder „Wessis“ verstehen und damit alles hintertreiben, wofür die „Ossis“ damals unter Gefahren auf die Straße gegangen sind? Ist das der „Mut zu Deutschland“, von dem die Gaulands dieser Welt uns immer vorschwärmen? Die AfD ist, das haben schon mehrere Kommentatoren zurecht festgestellt, eine Schande für Deutschland. Sie ist dies aufgrund der geistigen Beschränktheit ihres Programms, aufgrund der Lust, mit der sie alsbald nach der Gründung den politisch-moralischen Grundkonsens der Bundesrepublik über Bord geworfen hat, sie ist es aufgrund ihrer Xenophobie, und sie ist es eben nicht zuletzt auch, weil sie – das verbindet sie mit der Linkspartei – die Emanzipation der Deutschen vom Trauma der jahrzehntelangen Teilung behindert. (Salonkolumnisten)
Genauso wie der Ausländerhass immer dort am Größten ist, wo (fast) keine Ausländer sind, so ist der Zorn auf den Westen nirgendwo so groß wie dort, wo die ganze Region eigentlich nur wegen großzügiger Wirtschaftshilfen von eben dort überlebt. Das gleiche Phänomen kann man ja auch in anderen Ländern bewundern. Gerade die Bundesstaaten, die die größten Wirtschaftshilfen von Washington erhalten, hassen den Bund am meisten. Die Regionen Englands, die am meisten von der EU-Strukturförderung profitierten, lärmten für den Brexit. Das Mezzogiorno beklagte sich jahrzehntelang über die böse Politik in Rom, die die Region am Tropf hatte. Und so weiter. Der Artikel nennt auch die richtige Gegenmaßnahme dafür: Kosmopolität, ein Aussetzen der Leute für fremde Kulturen, Offenheit. Wo das gegeben ist, beginnen Vorurteile zu schmelzen. Es ist kein Zufall, dass gerade die Regionen Deutschlands, in denen die meisten Flüchtlinge tatsächlich leben, diejenigen sind, die am wenigsten AfD-Wähler aufweisen - und umgekehrt. Auch der Anklang im Artikel auf die großen offenen Städte als Fortschrittsmacher gegenüber dem geschlossenen, unter sich bleibenden Land ist absolut richtig.

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