1) Warum Amazons Logistikplattform schneller wachsen wird als manche denken
Amazon treibt seine Logistikanstrengungen weiter rasant voran. Neben Flex (P2P-Modell wie Uber), geht es jetzt zunehmend auch um lokale Zusteller, die die letzte Meile für Amazon übernehmen sollen. Der Unterschied zur Zusammenarbeit mit DHL: Amazon orchestriert die gesamte Zustellung. (und lässt sich das auch nach außen branden) Nur die Ausführung, der ‚dumme‘ Teil, fällt auf die Subunternehmer. Warum es wichtig ist: Wenn Amazon die eigene Logistik kontrolliert, „Ende zu Ende“, wie das Unternehmen selbst sagt, wird Amazon (und damit auch der Amazon Marktplatz) in der Lage sein, Onlinehandel in Qualität, Vielfalt und Bequemlichkeit anzubieten, wie wir ihn heute noch nicht kennen. Eben weil die klassische Paketzustellung von DHL und co. sehr enge, starre, aber trotzdem unsichtbare Grenzen zieht. [...] Logistik aufbauen braucht seine Zeit. Aber Amazons Reise wird schneller gehen als die meisten Beobachter denken. Die Gründe sind simpel:
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Plattformansatz: Auf einen Marktplatz/Plattformansatz zu setzen, erlaubt eine schnellere Expansion, als alles inhouse und klassisch mit Subunternehmen zu machen. (wie es etwa DHL macht.) In-house + lokale professionelle Zusteller + Flex heißt für Amazon: Flexible Kapazitäten schnell aufzubauen.
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Nachfrage: In Verbindung mit dem eigenen Geschäft, klassisch plus Marktplatz, wird Amazon die Nachfrage nach der eigenen Logistik nicht ausgehen. Das beeinflusst die Investmententscheidungen entsprechend. (Siehe im Gegensatz dazu etwa Logistik-Startups, die nicht auf einen 10-Jahres-Plan setzen können.)
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Digitale Koordination: Nicht nur Uber und Flexbus profitieren von der Allgegenwärtigkeit der Smartphones, um neue Transportdienste zu etablieren und zu koordinieren. Auch Amazon kann darauf aufsetzend eine Koordination von sehr vielen von einander unabhängigen Parteien zentral organisieren. Die Optimierung auf Gesamtsystemebene findet dann in den Amazon-Servern statt.
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Perspektive: Mit Amazon Key, Hub usw. usf. schafft sich Amazon weitere Flexibilitäten und, ganz nebenbei, das Fundament für das für Endkunden bequemste System. Entsprechende Effekte auf Nachfrage und Preiselastizität folgen... (Neunetz)
2) Deutschland, das Land des Digital-Trumpismus
Natürlich müssen die großen Plattformen reguliert und ihre viel zu große Macht demokratisch beschnitten werden - wir haben bloß noch nicht herausgefunden, wie das sinnvoll geschehen kann. Deshalb macht deutscher Digital-Trumpismus halt irgendwas. Leider verhindert in der Digitalpolitik erfahrungsgemäß jede Quatsch-Maßnahme, konstruktiv voranzukommen. Zum Beispiel könnte man damit beginnen, dass Plattformen in Deutschland endlich maßgeblich Steuern zahlen. Oder dass ein "Digitaler Marshall-Plan" auf den Weg gebracht wird, damit irgendwann europäische Digitalkonzerne von Relevanz entstehen. Aber nein, lieber folgt man dem Prinzip Augen zu, loslaufen und hoffen, dass sich auf magische Weise eine Brücke materialisiert, wo eben noch ein Abgrund war. Dabei gibt es viele Sachkundige in allen Parteien und auch in der Bundesregierung. Dorothee Bär zum Beispiel, die das Leistungsschutzrecht klar ablehnt. Aber sie alle konnten sich nicht gegen die in Verblendung vereinigten Digital-Trumpisten durchsetzen. [...] Ein Mann namens Sigmar Gabriel, der heute der SPD enorm wertvolle Ratschläge am laufenden Band unterbreitet, war Anfang 2017 noch Vizekanzler und Wirtschaftsminister. Auf die Frage, was Trump tun könne, damit in Deutschland mehr amerikanische Autos gekauft würden, antwortete er trocken: "Bessere Autos bauen". Stimmt - aber der deutsche Digital-Trumpismus möchte, dass es gefälligst nur für Autos stimmt. Da soll es der Markt regeln. Im Digitalen aber natürlich nicht. Digitale Bigotterie, rücksichtslos, irrational, nationalistisch. Der SPIEGEL hat vor einigen Tagen eine Geschichte über die Übermacht der amerikanischen Digitalkonzerne veröffentlicht. Dort wird die Frage gestellt, ob Deutschland aufholen könne, weil hier außer SAP keine weltweit erfolgreichen, großen Plattform-Konzerne existieren. Die Antwort: Nein. Denn deutscher Digital-Trumpismus ist eine Garantie, dass Deutschland wirklich niemals aufholen wird. (Spiegel Online)Sascha Lobos Sichtweisen sind stets eine Bereicherung. Der Mann findet Vergleiche und Denkansätze, die wirklich erhellend sind und denkt scharf nach. So, genug der Lobhudelei. Einmal mehr sind wir im Problemfeld "Digitales", wo Deutschland bekanntlich immer noch debattiert, ob sich dieses neumodische Internet-Ding wohl durchsetzen wird. Wie er das oben beschreibt hat er leider Gottes Recht. Die deutsche Sicht auf die Digitalisierung ist tatsächlich Jota für Jota dieselbe, die Trump auf den amerikanischen Fertigungssektor hat. Die Schuld für dessen relativen Niedergang liegt nicht daran, dass die eigenen Produkte nichts taugen und Politik und Gesellschaft Steine in den Weg legen, nein, nein, das muss eine finstere Verschwörung von außen sein, die es durch harte und durchgreifende Gesetze in den Griff zu gelten kriege. Die Verbreitung dieses Unsinns dieseits wie jenseits des Atlantiks zeigt sich auch in der bemerkenswerten Stille, mit der die Apologeten des Freihandels die jeweiligen Reaktionen begleiten. Sehr verhalten die Kritik den Wall Street Journals und Handelsblatts an dem krassen Protektionismus und Subventionismus, der da betrieben wird; gerade in Deutschland feuert genau die Presse, die noch vor kurzem angesichts stagnierender Löhne und "flexibler" Jobs das hohe Lied der Marktwirtschaft sang nun aus allen Rohren, um für sich einen gesetzlich eingehegten Schutzraum zu schaffen. Die Zeche zahlen wir.
3) Die falsche Furcht
Das Menschheitsproblem Klimawandel wurde in den Jahren nach Hansens Warnruf zu einem politisch verortbaren Thema unter vielen gemacht. Den Temperaturanstieg als Bedrohung zu betrachten, war irgendwie "links". Ein weiterer Spleen dieser verrückten Umweltschützer, denen die Natur wichtiger ist als die Menschen. Hierzulande und auch in anderen Teilen der Welt ist diese groteske Fehlwahrnehmung zum Glück weitgehend überwunden. In den USA aber hat sich daran bis heute nichts geändert, ja es ist sogar schlimmer geworden: Die überwältigende Mehrheit aller republikanischen Kongressabgeordneten will bis heute nicht so recht glauben, dass wir Menschen mit unseren Emissionen schuld an der Erwärmung sind - ja manche bestreiten sogar, dass die Erwärmung überhaupt existiert. [...] Interessanterweise sind zwei andere, in Wahrheit mindestens ebenso langfristige Themen politisch offenbar leichter auszuschlachten: Migration und Bevölkerungsentwicklung. Die Menge an politisch-medialer Aufmerksamkeit, die diesen Themen in den USA und Europa derzeit entgegengebracht wird, steht in keinem Verhältnis zu den realen Problemen. Es ist aber offenbar einfacher, Menschen mit dem Bild vom bösen Ausländer, der einem Arbeit, Lebensraum und Kultur wegnehmen will, der einen mit Terror bedroht, zu emotionalisieren, als mit der leider sehr realen Bedrohung, dass substanzielle Teile der bewohnten Welt im Meer versinken könnten. [...] Die Angst vor dem Fremden lässt sich politisch viel leichter instrumentalisieren als die Angst vor der Bedrohung durch ein farb- und geruchloses Gas. Folgerichtig tun gerade diejenigen Politiker, deren zentrales Thema diese Furcht vor dem Fremden ist, die Rechtspopulisten dies- und jenseits des Atlantiks, gern so, als gäbe es diese andere, sehr reale, globale Gefahr gar nicht. Das zeigt einmal wieder: Diesen Leuten ist nicht zu trauen. (Spiegel Online)
4) Victor Orban und die Europäische Volkspartei
Die interne machtpolitische Balance der EVP ist eine klare Erklärung dafür was passiert, wenn eine Partei sich in Flügel spaltet. Es ist ein Problem, das die CDU gerade in Deutschland auch hat und das hier quasi im Makrokosmos seine Entsprechung auf der Ebene der EU findet. Die Linke hat dieses Problem dagegen kaum, denn sie hat sich schon vor langer Zeit in drei gespalten: die klassischen Mitte-Links-Parteien (SPD in Deutschland, S&P im Europaparlament), die Linkspopulisten (LINKE in Deutschland, Europäische Linke im Europaparlament) und die Grün-Progressiven (Grüne in Deutschland, Grüne/EFA im Europaparlament). Die arbeiten punktuell zusammen, aber sie müssen sich nicht innerhalb einer Fraktion streiten. Die Christkonservativen dagegen waren bisher eine große Sammlungspartei; die Geschichte der CDU in Deutschland ist ja ein Aufsaugen der gesamten anderen bürgerlichen Konkurrenz. Gleiches gilt im Europaparlament. Deswegen stellt die EVP ja auch den größten Block. Man kann sich streiten, inwieweit die Liberalen da in die gleiche Tradition gestellt werden müssen (FDP in Deutschland, ALDE im Europaparlament). Wenn wir sie in die obige Matrix einpflegen, würden sie die Stelle der Grünen einnehmen. Die Rechtspopulisten wurden durch die EVP bisher teilweise (je nach Land) eingebunden; die entsprechenden europäischen Parteien arbeiteten allenfalls punktuell mit den bürgerlichen Mitte-Rechtsdemokraten (hier wertungsfrei und rein deskriptiv) zusammen. Dieses breite Bündnis hat aber das Problem aller breiten Bündnisse: es kann Fliehkräfte entwickeln. In Deutschland hatten CDU und CSU immer ein fein austariertes System zum Teilen der Macht, das diese Konflikte einhegte, aber mit der AfD - die die deutsche Innenpolitik effektiv normalisiert, indem sie eine rechtspopulistische Partei etabliert, wie sie in den meisten anderen verhältnisparlamentarisch organisierten Staaten Standard ist - geht diese Rechnung auch in Deutschland nicht mehr auf. Es stellt sich daher für CDU wie für EVP die Frage, ob man weiter die größte Partei bleiben will. Das erfordert ein breites Bündnis, mit all den Inkohärenzen, Streits und lähmenden Konflikten, die das mit sich bringt. Oder ob man die Teile, die nicht (mehr) wirklich passen, abstößt und als kleinere, aber kohärentere Partei schlagkräftiger. Es ist schwer zu sagen, welche Strategie die bessere ist. Ich bin grundsätzlich eher ein Freund des breiten Bündnisses, aber es gibt auch genügend gute Argumente für die andere Seite.Wird die Europäische Volkspartei entschlossen auf diese Provokationen reagieren? Bis jetzt sieht es nicht danach aus – was an verschiedenen Gründen liegen kann. Der eine, offensichtlichste sind die Sitze, die die Fidesz der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament bietet. Nach der aktuellen Projektion für die Europawahl 2019 wäre die EVP zwar nicht zwingend auf die Fidesz angewiesen, um im Europäischen Parlament wieder die stärkste Fraktion zu werden: In den Umfragen beträgt der Vorsprung auf die sozialdemokratische S&D-Fraktion rund 30 Sitze, von denen die Fidesz nur 12 beisteuert. Gefährlich könnte es für die EVP allerdings werden, wenn die Fidesz bei einem Austritt noch weitere Parteien des rechten Flügels mit sich zieht. Insgesamt dürften die überzeugten Orbán-Freunde aus anderen Mitgliedstaaten etwa 25 bis 30 Abgeordnete stellen. Und auch wenn es sehr unwahrscheinlich ist, dass diese geschlossen die Fraktion verlassen würden, könnte schon der Abgang eines Teils von ihnen der führenden Position der EVP im Parlament ernsthaften Schaden zufügen. Wenigstens im Fall von Manfred Weber könnte zudem noch ein weiteres, persönliches Interesse hinzukommen: nämlich seine voraussichtliche Bewerbung als EVP-Spitzenkandidat bei der Europawahl 2019. Als Favorit im parteiinternen Rennen gilt zwar nach wie vor Michel Barnier (LR/EVP), früherer Binnenmarkt-Kommissar und derzeitiger Brexit-Chefverhandler der EU. Doch auch Weber werden ernsthafte Chancen eingeräumt, auf dem Nominierungsparteitag am 8. November zum Spitzenkandidaten der Partei und (angesichts des großen Umfragenvorsprungs der EVP) damit letztlich wohl auch zum neuen EU-Kommissionspräsident gekürt zu werden. Es sind dabei im Wesentlichen drei Machtzentren innerhalb der EVP, über die Webers Weg zum Erfolg führen müsste: Erstens die jüngere Generation, für die der 67-jährige Barnier zu sehr die alte Garde repräsentiert. Zweitens die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP), nach wie vor die wohl mächtigste Einzelpolitikerin in der EVP, die Weber schon wegen der gemeinsamen nationalen Herkunft nahestehen dürfte. Und drittens eben der rechte Flügel, zu dem Weber seit jeher gute Beziehungen pflegt. (Der (europäische) Föderalist)
5) Mann rettet Kind aus Fluss - Und verliert seinen Job
Nicht auszumalen, was passiert wäre, hätte der 49 Jahre alte Mann am vergangenen Mittwoch nicht so schnell reagiert. Ein dreijähriger Junge war in Meschede in den Fluss Henne gefallen und von der Strömung mitgerissen worden. Die Eltern hatten offenbar nichts davon mitbekommen. Der 49-Jährige bemerkte das hilflose Kind im Wasser und sprang aus zweieinhalb Metern Höhe in den eiskalten Fluss, um den Jungen zu retten. Der Dreijährige und seine Eltern kamen mit dem Schock davon. Doch auf die tolle Rettungsaktion folgte für den 49-jährigen Helden eine böse Überraschung. Er hatte sich bei dem Sprung den kleinen Zeh gebrochen und wurde deshalb vom Arzt krankgeschrieben. Wie die WAZ berichtet, wurde der Mann von seinem Arbeitgeber kurzerhand dafür gekündigt. Die Leiharbeitsfirma, bei der er die letzten drei Wochen beschäftigt war, reagierte knallhart. „Wir brauchen zuverlässige Arbeitnehmer,“ erklärte der Geschäftsführer gegenüber der Zeitung. Ein solches Leiharbeitsmodell würde ausmachen, dass Mitarbeiter nie ausfallen. (RPR1)Die Konstruktion von Leiharbeit ist, wie bereits in Fundstück 1) angedeutet, eine der Ursünden der Agenda2010. Ich verstehe absolut, dass die Firma das Geschäftsmodell hat, das sie hat. Wer Leiharbeiter einstellt, braucht sie für kurze Abstände und verlässlich. Dafür sollte das dann auch entsprechend bekostet sein. Das Problem an der Konstruktion ist halt, dass die ungeheure Flexibilität und Unsicherheit, die den Arbeitnehmern aufgebürdet wird, sich im Preis der Ware Arbeitskraft eben nicht niederschlägt. Das Instrument wurde ungeheur mies konstruiert. Wer effektiv auf solch vitale Instrumente wie Kündigungsfristen oder Lohnfortzahlung (und Jobsicherheit!) im Krankheitsfall verzichtet, sollte dafür entsprechend kompensiert werden. Das war ja auch immer Stefan Pietschs nicht falsches Argument für hohe Managergehälter: die hohe Unsicherheit. Nur hat man das bei Zeitarbeit nicht eingebaut. Und da kommt dann so Mist raus.
6) The Anti-Trump right has become Trump's base
Last fall, the Pew Research Center released one of its periodic typologies of the American electorate, identifying the demographic and ideological fissures both within and between the two parties. The two most conservative factions within the Republican Party were familiar types. The first, and largest, “Core Conservatives,” holds doctrinaire positions on everything. This group is “financially comfortable,” and “overwhelmingly supports smaller government, lower corporate tax rates and believes in the fairness of the nation’s economic system,” and also “express[es] a positive view of U.S. involvement in the global economy.” This is the conservatism of Paul Ryan. Another group, “Country First Conservatives,” is “older and less educated than other Republican-leaning typology groups,” and has more populist and isolationist views. They are “highly critical of immigrants and deeply wary of U.S. global involvement,” and most likely to believe “if America is too open to people from all over the world, we risk losing our identity as a nation.” Which of these two groups do you think registered higher support for Donald Trump? The Country First Conservatives, right? Well, no. Ninety-three percent of Core Conservatives approved of Trump’s job performance, as opposed to 84 percent of Country First Conservatives. The most ideologically pure conservatives are Trumpier than the nativist and isolationist ones. The waning months of the Republican primary campaign in 2016 devolved into a contest between Trump and the purity of conservative doctrine. Ted Cruz, the last candidate standing against Trump, represented the latter, and enjoyed the vocal support of most of the organized conservative movement. Cruz called Trump a “fake conservative.” Rick Perry had termed him a “a cancer on conservatism.” Trump’s presidency has driven home the surprising reality that Trump is conservatism. [...] In October, 2016 [...] I argued that the Republican Party’s conservatism and its authoritarianism were fundamentally related strains. Anti-government conservatives had long feared that democracy would facilitate the many to confiscate the resources of the few; meanwhile demographic change has overlaid a parallel ethnic pessimism. For all the ugly anti-intellectualism of Trump’s supporters, they have grasped one underlying reality: Trumpism and conservatism are tethered, and the practical choice in American politics is to have either both or neither. (New Yorker Magazine)
Aus polit-psychologischen Gesichtspunkten ist die Wende um 180 Grad, die der organisierte Konservatismus in den USA durchgemacht hat, bemerkenswert. Noch 2016 veröffentlichte das "National Review", die Hauspostille der Gerade-Noch-Demokratischen-Rechten Intellektuellen, ein ganzes Magazin mit dem Titel "Against Trump", in dem jeder Autor sich gegen den damaligen Präsidentschaftskandidaten aussprach. Ein Jahr später ist das National Review eigentlich nur in Vokabular und Syntax, aber nicht im Inhalt, von der rechtsextremen Hauspostille "Breitbart" zu unterscheiden. Ähnliches gilt für die überwiegende Mehrheit der Republicans, die sich gegen Trump ausgesprochen hatten. Stattdessen unterstützen sie ihn zu 110% und erniedrigen sich selbst, indem sie das genaue Gegenteil dessen sagen, was sie - auf Video! - damals sagten und offensichtlichen Nonsens zur Begründung hernehmen, den sie ebenso offensichtlich selbst nicht glauben.
Das spannende ist, dass mehr frühere Gegner Trumps dem Präsidenten gegenüber bedingungslos loyal sind als seine eigenen Anhänger (wobei der Unterschied sehr klein ist). Es erinnert ein wenig an die Sowjetunion, wo nach einer Entscheidung im parteiinternen Machtstreit auch immer die vorherigen Gegner nun am lautesten eine Performance ihrer unbedingten Loyalität zelebrierten. Und Trump zwingt sie auch ständig dazu, diese Performance abzugeben. Unvergessen sein Auftritt in einer live übertragenen Kabinettssitzung, in der jeder Minister der Reihe nach etwas Lobendes sagen musste. Die für mich spannendste Frage ist, ob dasselbe auch bei gefestigteren demokratischen Parteien kann, seien es die Democrats, sei es die CDU, die SPD, die Grünen oder Labour.
Das ist übrigens die gleiche CSU, die immer von "Rechtsstaatlichkeit" schwafelt. Ich habe schon in meinem Artikel jüngst zur Disfunktionalität der rechtspopulistischen Lösungsansätze viel davon thematisiert, daher das hier eher als Nachtrag. Was hier gemacht wird ist die Schaffung eines bürokratischen Albtraums, es ist die Reduzierung von Subjekten (Menschen) auf Objekte (fiktiv nicht Eingereiste). Mit Rechtsstaat hat das wenig zu tun. Es ist stattdessen ganz unumwunden der Versuch, die Flüchtenden aus dem rechtsstaatlichen Raum herauszuholen, das wurde ja auch die letzten Wochen und Monate eins ums andere Mal thematisiert, von rechts, von links, von Mitte: Das deutsche Asylrecht hat als Konsequenz, dass es sehr schwer ist massenhaft Leute in kurzer Zeit abzufertigen und gegebenenfalls abzuschieben. Das wird als Problem empfunden, weil es die präferierte Lösung dieser Leute ist. Und weil es offensichtlich ist, dass eine entsprechende Änderung des Grundgesetzes irgendwo zwischen "sehr schwer" und "unmöglich" liegt, wird versucht, stattdessen einfach die Menschen aus dem Geltungsbereich es Grundgesetzes herauszuschieben. Das ist für alle Beteiligten eine bequeme Lösung, weil man die Fiktion der Rechtsstaatlichkeit durch die Fiktion der Nicht-Einreise rettet. Und formal stimmt das ja auch. Realiter aber ist es nur das: eine Fiktion. Sie erlaubt es anständigen deutschen Bürgerlichen ruhig zu schlafen und empört von sich zu weisen, dass man irgendwie an Tod und Elend wenigstens beteiligt wäre, und erlaubt das Beschimpfen derer die darauf hinweisen als "Hypermoralisten" mit reinem Gewissen. Um nichts anderes geht es.Wie erfunden die Idee der Grenzlinie ist, wie real hingegen der Grenzzustand, belegt das Einigungspapier zwischen CDU und CSU. Darin findet sich die Formulierung: „Zurückweisung auf Grundlage einer Fiktion der Nichteinreise“. Das bedeutet also, dass Asylsuchende, die die deutsche Grenze passiert haben, obwohl sie schon in einem anderen EU-Land registriert sind, so behandelt werden, als hätten sie die Grenze nicht überschritten. „Fiktion der Nichteinreise“, also. Diese Idee macht den Grenzübertritt, das Überschreiten einer Linie die von einem Territorium in das nächste führt, unmöglich, und zwar unabhängig davon, ob dieser Übertritt körperlich vollzogen wurde. Die Grenze verlässt somit ihren ohnehin fiktiven Ort. Sie wird stattdessen um Menschen gezogen, die auf diese Weise ganz rechtskonform überall als Rechtlose behandelt werden können. Flüchtende sollen in Lagern gehalten und daran gehindert werden, vollständig in den Wirkungsbereich bürgerlicher (d.h. auch: einklagbarer) Rechtsnormen einzutreten. Sollte es ihnen dennoch gelingen, Ketten und Barrieren zu sprengen, soll nun vorsorglich der Bannkreis der „Fiktion der Nichteinreise“ um sie gezogen werden. Das Ganze mag für's Erste den Eindruck einer eher akademischen Übung erwecken, hat jedoch sehr konkrete Auswirkungen. Zunächst wird ganz offensichtlich der Zugang zu rechtsstaatlichen Asylverfahren erneut erschwert. Daneben stellt sich die Frage, wie genau ermittelt werden soll, auf wen die „Fiktion der Nichteinreise“ angewandt werden kann – wenn sich die betreffenden Personen nicht mehr in geografischer Grenznähe befinden, aber rein fiktional noch nicht eingereist sind. (taz)Entscheidend ist der Wortbestandteil "Transit" - für sich genommen in puncto Framing kein sonderlich stark besetztes Wort. Allerdings gewinnt es deutlich an Kraft als maßgeschneiderte Lösung für die Problemdefinition, die ein anderer, stark konnotierten Begriff mit sich bringt: "Asyltourismus". Vor allem die CSU hat diesen in den vergangenen Wochen immer wieder benutzt und damit etabliert. Asyltourismus deutet die Flucht vor Gewalt, Krieg, Folter, Verfolgung, Hunger oder Armut zur Quasi-Urlaubsreise um. Wer "Tourismus" hört, denkt schließlich an Dinge wie Strand, Sonne, Berge, Meer, Swimmingpool, Pina Colada. Und fühlt, eine Ebene darüber, etwas wie Freiheit, Leichtigkeit, Sorglosigkeit und auch Wohlstand. Außerdem begegnet er auf internationalen Flügen Transitzonen, jenen Bereichen auf Flughäfen also, die es erlauben, in ein Flugzeug zur Weiterreise umzusteigen, ohne dass es zwischendrin eine Einreisekontrolle bräuchte. Ein praktischer, harmloser Vorgang. Für Touristen. Der Begriff "Transitzentrum" nimmt nun das Denkschema von Tourismus auf: Schutzsuche als Reise. Wo es "Asyltourismus" gibt, lautet die schnell hergestellte Verknüpfung auf der assoziativen Ebene, braucht es "Transitzentren". Womit eine scheinbar harmlose und sehr praktische Lösung gefunden wäre. (SZ)
8) Fröhliche Wissenschaft
Jüngst wird vermehrt über Fälle groben Machtmissbrauchs an Universitäten berichtet, zum Beispiel in Stanford und Zürich. Für Diskussionen sorgt nun ein Vorfall an der New York University (NYU), bei dem einer prominenten Professorin Fehlverhalten vorgeworfen wird. Die persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse im Wissenschaftsbetrieb treten in diesem Fall offen zutage. Seit über einer Woche kursiert ein Brief prominenter Kulturwissenschaftlerinnen und Kulturwissenschaftler im Internet. Der an den Präsidenten und Provost der NYU adressierte Brief legt offen, dass die Universität eine Art Disziplinarverfahren („Title IX“) gegen die berühmte Literaturwissenschaftlerin Avital Ronell durchführt. Title-IX-Verfahren an US-amerikanischen Hochschulen beschäftigen sich mit sexueller Gewalt und Diskriminierung. Der in einer Entwurfsfassung geleakte Brief ist am 10. Juni 2018 auf dem Blog „Leiter Reports“ veröffentlicht worden und ist an erster Stelle von Adorno-Preisträgerin Judith Butler unterzeichnet. An dieser Stelle kann es nicht um die Vorwürfe gegen Ronell oder gar die Frage gehen, ob sie sich etwas hat zuschulden kommen lassen. Aufschlussreich aber sind die Argumente, die von ihren Kollegen zu ihrer Verteidigung vorgebracht werden. Die Unterzeichner des Briefes betonen, dass ihnen keine Details des Verfahrens bekannt seien und ihnen die entsprechenden Akten nicht vorlägen. Dennoch sprechen sie sich gleich zu Anfang gegen „jedwede Verurteilung“ von Ronell aus. Sie betonen, dass Ronell die Germanistik als Fach geprägt habe, dass ihr intellektuelles Wirken weit ausgestrahlt habe, dass ihre Studierenden an führenden internationalen Forschungseinrichtungen tätig seien und dass sie die „wohl wichtigste Literaturwissenschaftlerin der New York University“ sei. „Sollte sie entlassen oder ihrer Pflichten enthoben werden“, so schreiben die Professoren weiter, „würde diese Ungerechtigkeit breit wahrgenommen werden und Ablehnung erfahren“. Nicht nur gehen sie von vornherein davon aus, dass es sich bei einer möglichen Verurteilung Ronells nur um eine Ungerechtigkeit handeln könne. Es erscheint ihnen zudem erforderlich, Ronells akademische Verdienste im Verlauf des Verfahrens zu berücksichtigen: „Wir fordern Sie dazu auf, dass Sie sich in der Durchsicht der Unterlagen das internationale und wohlverdiente Renommee als brillante Wissenschaftlerin klar vor Augen halten.“ Die rund 50 Unterzeichner schreiben außerdem, dass ihnen die Person, die die Vorwürfe erhoben hat, bekannt sei. Diese Einzelperson, so die Professoren, führe einen „niederträchtigen Feldzug“ gegen Ronell. Weiterhin dürften „die Anschuldigungen gegen Professor Ronell nicht im eigentlichen Sinne als Beweise angesehen“ werden. Im Gegenteil müsse berücksichtigt werden, dass „böse Absicht“ diesen „rechtlichen Albtraum inspiriert und am Leben gehalten“ habe. Der Brief schließt mit der Forderung, Professor Ronell verdiene eine faire Anhörung. (Freitag)
Es ist sowohl schön zu sehen, dass sowohl Frauen nicht gegen die Vorwürfe sexuellen Missbrauchs gefeit sind - was von Gegnern der #MeToo-Debatte gerne insinuiert wird - als auch, dass hier ein wichtiges Thema angesprochen wird. Denn selbstverständlich können auch Frauen sexuellen Missbrauch und sexuelle Belästigung begehen. Die Vorstellung, dass sie das nicht könnten, etwa weil Männer anders sein oder gar, wie immer wieder wohlmeinende Gesellen verkünden, einen derart ausgeprägten Sexualtrieb hätten dass jede solche Avance grundsätzlich positiv betrachtet werde (kommt viel öfter vor als wünschenswert wäre) ist selbst sexistisch, und zwar gegenüber Männern. Auch Männer haben ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und sind Herr ihrer Sinne und Gefühle.
Wichtiger erscheint mir hier aber der zweite Punkt, den der Artikel thematisiert. Denn die reflexhafte Schutzstellung, die für Avita Ronnell eingegangen wird, ist atemberaubend. Wie in so vielen anderen Fällen auch listen ihre Verteidiger, die nicht einmal wissen, was ihr vorgeworfen wird, ihre akademischen und sonstigen charakterlichen Meriten zu ihrer Verteidigung auf. Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun? Die Konsequenz, wenn man diese Argumentationslinie zu Ende denkt, ist dass Brillanz oder Prominenz ein anderes, milderes Strafrecht mit sich bringen. Bist du berühmt, kannst du Verbrechen begehen ohne dass es die gleichen Konsequenzen hat wie bei Nicht-Promis. Kann das sein? Es wäre wünschenswert, dass die Leute nachdenken, bevor sie solche Briefe unterzeichnen.
Kann man nur unterschreiben. Die Radikalisierung der Konservativen ist ein nun schon mehrere Jahre andauernder Trend, hat sich aber in den letzten anderthalb Jahren (und in Deutschland besonders seit der Bundestagswahl) deutlich verschärft. Man sieht bei den Republicans, wo aktuell der Endpunkt dieser Entwicklung in westlichen Demokratien ist, und wenn man wissen will, wie es danach weitergehen kann, muss man nur ein beliebiges Geschichtsbuch über das Ende der Weimarer Republik bemühen. Ich empfand es deshalb auch, wie ich beschrieben habe, als so ungeheuer wichtig und nachahmenswert, dass die französischen konservativen Eliten unter Fillon klar für die demokratische Mitte ausgesprochen haben und sich dezidiert vom rechten Rand abgrenzten, statt mit ihm zu paktieren. Die Konsequenzen, die solche mangelnde Abgrenzung auf die eigene Partei und das eigene Regierungshandeln hat, kann man in Europa an mehreren Stellen begutachten. Am offensichtlichsten ist es in Großbritannien, wo die Tories beständig mit dem Randbereich von UKIP flirteten und jetzt auf völlig irrsinnige rechtspopulistische Positionen festgelegt sind, die ihnen effektive Verhandlungen mit der EU fast unmöglich machen und eine Mini-Regierungskrise nach der anderen bescheren (nicht davon zu reden, dass das #Brexit-Desaster hätte verhindert werden können). In Österreich sind die Unterschiede zwischen FPÖ und Kanzler Kurz auch kaum erkennbar; ebensowenig ist in Italien klar, wo denn der Konservatismus endet und der Rechtspopulismus beginnt. In Polen und Ungarn wie in den USA herrschen die Rechtspopulisten direkt. Und nun schickt sich die CSU an, dieses "Erfolgsmodell" auch nach Deutschland zu importieren, wenigstens in den bayrischen Sonderweg. Ein Glück bleibt die CDU standhaft.Klar hingegen ist, dass die vergangenen zwei Wochen zutiefst beunruhigend waren. Denn wie die Partei wegen eines Details eine Regierungskrise ausgelöst hat, das deutet darauf hin, dass sie in Teilen politikunfähig geworden ist; nicht mehr in der Lage ist, Risiken zu bewerten und Kompromisse vorzubereiten. Das ist nicht nur ein Problem für die CSU, sondern für das ganze Land. Denn ihr Verhalten ist Ausdruck einer Radikalisierung, die bedeutende Teile des konservativen Milieus ergriffen hat. Und die die deutsche Politik bald dauerhaft so unberechenbar und erratisch machen könnte, wie sie es in diesen Tagen war. Es ist etwas Schwerwiegendes passiert in jenem Teil der Gesellschaft, der sich bis heute konservativ nennt. Es wird Zeit, es als das zu benennen, was es ist: Eine Gefahr für die Demokratie. [...] Nicht wenige deutsche Konservative sind auf einem ähnlichen Weg. Es waren schließlich nicht Pegida und die AfD selbst, die die ethischen Maßstäbe an die Politik in den letzten drei Jahren dramatisch nach rechts verschoben haben. Es waren ihre Nachahmer im demokratischen Spektrum. Mehr noch: Sie haben ethische Ansprüche an Politik generell zu etwas Linkem, Unaufrichtigem umdefiniert. Sie nennen es Hypermoralismus. [...] Wahrscheinlich glauben auch Teile der CSU-Führung an das, was in den rechtspopulistischen Blasen so geschrieben wird. [...] Es gebe linksgrüne, akademische Eliten und es gebe das normale Volk, dessen Willen die CSU repräsentiere. [...] An dieser Stelle müsste jeder Flirt mit dem Rechtspopulismus enden, denn hier beginnt die Demagogie. Hinter dieser Außengrenze der Realität wollen alle anständigen Bürger geschlossene Grenzen, und die, die es nicht tun, sind entweder ideologisch verbohrt oder korrupt. Wer so denkt, der muss den politischen Gegner nicht überzeugen, auch keinen Deal mit ihm schließen, sondern ihn besiegen. Hier müsste eine bürgerliche, demokratische Partei längst gebremst haben. Stattdessen werden Demagogen wie Viktor Orbán gar nicht so heimlich bewundert für ihre Härte gegen Merkel. [...] Es sind eher rechtskonservative, bildungsbürgerliche Milieus, und nicht die Durchschnittswähler, bei denen die Anti-Merkel-Hysterie am meisten zu spüren ist. Ihre Filterblase wird immer wieder neu befüllt von Journalisten, Buchautoren, Politikern, Ex-Bürgerrechtlern. Von Leuten, die dem demokratischen Mainstream irgendwann zwischen Helmut Kohls Abgang 1998 und der Ankunft der Flüchtlinge 2015 abhandenkamen, und die nun euphorisiert sind von der Vorstellung, die Geschichte endlich wieder bis mindestens in die Achtziger zurückdrehen zu können. [...] Seehofers Desaster muss ein Wendepunkt sein. Es muss wieder eine klare rote Linie zwischen den Konservativen und den Rechtspopulisten erkennbar sein. Sonst braucht man sich nicht zu wundern, wenn eines Tages kein Unionswähler mehr versteht, was denn nun so unwählbar an der AfD sein soll. (Zeit)
10) Stundenlohn rauf, Arbeitszeit runter
Seit dreieinhalb Jahren gibt es nun den Mindestlohn - und die Bilanz ist bislang positiv. Die von vielen Ökonomen befürchteten Schäden sind nicht eingetreten, weder gingen Hunderttausende Arbeitsplätze verloren, noch leiden Unternehmen im internationalen Wettbewerb. Laut Berechnungen des gewerkschaftsnahen IMK-Instituts kurbelt der Mindestlohn sogar die Konjunktur spürbar an. [...] Die Forscher bezogen nun diese unterschiedlichen Eingriffstiefen in verschiedenen Regionen Deutschlands in ihre Berechnungen ein. So konnten sie die Wirkungen des Mindestlohns isoliert betrachten - oder anders ausgedrückt: Sie konnten abschätzen, welchen Anteil der Mindestlohn allein an den höheren Verdiensten im Niedriglohnbereich hatte. Das Ergebnis: Der Mindestlohn hat die Stundenlöhne deutlich nach oben getrieben - im Schnitt allein von 2014 bis 2015 um 6,5 Prozent. Allerdings hat er gleichzeitig dafür gesorgt, dass seine Empfänger nun kürzer arbeiten. Beides wiegt sich fast auf. Im Rechenmodell ergab sich für das untere Einkommensfünftel ein leichter Anstieg von 1166 Euro brutto im Monat im Jahr 2014 auf 1193 Euro im Jahr 2015 - doch selbst dieser ist statistisch nicht signifikant. Die Forscher sprechen daher von einem "Null-Effekt" des Mindestlohns "für die Bruttomonatsverdienste im unteren Lohnbereich". Nicht geklärt ist allerdings die Frage, weshalb die Arbeitszeit in dem Maße sinkt, in dem die Stundenlöhne steigen. Denkbar ist, dass Unternehmen Mindestlohnempfänger entsprechend weniger arbeiten ließen, um die Kosten im Griff zu behalten. Doch ebenso ist möglich, dass Arbeitnehmer selbst nicht über eine bestimmte Verdienstschwelle kommen wollten. Etwa, um den Anspruch auf Sozialleistungen wie den Wohn- oder Kinderzuschlag zu behalten. Oder um die 450-Euro-Grenze bei Minijobs einzuhalten - was relativ häufig eine Rolle gespielt zu haben scheint: Die Arbeitszeit für betroffene Minijobber hat sich jedenfalls deutlich stärker verringert als für Mindestlohn-Empfänger mit einem regulären Arbeitsplatz. So lässt sich die DIW-Studie natürlich auch lesen: Für nicht wenige Arbeitnehmer mag der Mindestlohn zwar nicht mehr Geld auf dem Konto gebracht haben - aber dafür mehr Freizeit. (SpiegelOnline)
11) Es geht um viel mehr
Das alles hat auch Beobachter, die Merkel nicht mit dem pathologischen Hass eines völlig enthemmten nationalkonservativen Milieus begegnen, zu der Ansicht verleitet, ein personeller Neuanfang im Kanzleramt könnte die Lage entspannen und ein unverbrauchter Nachfolger parteiinternen Querschlägern glaubwürdiger die Grenzen aufzeigen. Dieser Gedanke, der zuletzt immer wieder formuliert wurde, mag naheliegend erscheinen, hier sei er aber vor allem deshalb aufgeführt, weil er so perfekt den Fehler der deutschen Debatte versinnbildlicht: Alle Probleme, ob echt oder eingebildet, werden verabsolutiert, mögliche positive Aspekte konsequent ausgeblendet oder negiert. Und bei all dem schafft es der deutsche Blätterwald noch, den Blick soweit zu senken, dass schon die Existenz eines Tellerrandes zunehmend in Vergessenheit gerät. Während aber hierzulande ein wachsender Chor der Unbedarften täglich neu das Lied von der schwächelnden Kanzlerin anstimmt, der ein würdevoller Abgang ebenso guttun würde wie dem Land, stehen sowohl die EU als auch die NATO vor existenziellen Herausforderungen. Deutschland, dessen Bürger und Politiker sich das Denken in strategischen Kategorien schon lange abgewöhnt haben, erlebt dabei die zumindest rhetorische Wiedergeburt der Bündnispolitik – leider aber fast nur in Form der ständigen blaubraunen Beschwörung einer Verbundenheit mit „unserem Nachbarn Russland“. Der Dauerbeschuss der überstaatlichen Systeme durch Donald Trump gilt hingegen immer noch hauptsächlich als Nebenschauplatz der Politik eines unfähigen US-Präsidenten. Dass die Bundesrepublik diesen Systemen sowohl ihren Wohlstand als auch ihre nationale Sicherheit verdankt, gehört zu den Wahrheiten, über die die Vox Populi in Deutschland schon seit Langem souverän hinwegsieht. (Salonkolumnisten)Tatsächlich ist die Fixierung auf Angela Merkel ein Kuriosum. Die CDU hat zwar einen rechten Flügel, der gerade aufmuckt, aber es sieht nicht so aus, als schickte sich dieser an, die Macht zu übernehmen. Der linke Flügel der SPD kritisierte Schröder 2005 auch am lautesten, aber als der Kanzler abtrat waren es die Seeheimer, die den Laden übernahmen. Die Wahrscheinlichkeit, dass in der CDU ein Erbe Merkels übernehmen wird ist höher als dass Jens Spahn eine konservative Restauration startet. Es ist natürlich nicht ausgeschlossen - überraschende Verwerfungen gibt es immer wieder, da muss man nur Funktionäre der Republicans oder Labour fragen - aber auch nicht das Wahrscheinlichste. Und bei aller berechtigten Kritik an Merkel, sie ist tatsächlich eine der wenigen, die, wie unzureichend auch immer, den Laden zusammenhält. Ich würde sie lieber heute als morgen abgelöst sehen, wenn denn das, was nachkäme, in irgendeiner Art und Weise eine Verbesserung darstellte. Nur ist das halt nicht der Fall.
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