Donnerstag, 31. Oktober 2019

Männer trainieren bei Bernd Lucke Ungleichheit in Thüringen und Chile - Vermischtes 31.10.2019

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Women At Ernst & Young Instructed On How To Dress, Act Nicely Around Men
The training was billed to participants as advice on how to be successful at EY, according to Jane, a training attendee and former executive director at the firm who’s in her early 40s. [...] A long list of “Invisible Rules” for men and women on Page 13 paints a bleak portrait of contrasting communication styles. It says that women often “speak briefly” and “often ramble and miss the point” in meetings. By comparison, a man will “speak at length ― because he really believes in his idea.” Women don’t interrupt effectively like men. Women “wait their turn (that never comes) and raise their hands.” [...] The so-called masculine traits included “Acts as a Leader,” “Aggressive,” “Ambitious,” “Analytical,” “Has Leadership Abilities,” “Strong Personality” and “Willing to Take a Stand.” The so-called feminine traits included “Affectionate,” “Cheerful,” “Childlike,” “Compassionate,” “Gullible,” “Loves Children” and “Yielding.” None of the feminine traits involved leadership ― ostensibly a focus of the training. [...] Jane said the message was that women will be penalized, by both men and women, if they don’t adhere to feminine characteristics or if they display more masculine traits. And that if you want to be successful, you have to keep this in mind. [...] Jane said that at the PPP training she attended last year, Clark coached the group in how to interact with men in the workplace ― advice that Jane wrote down in her notes and shared with HuffPost: 
  • Don’t directly confront men in meetings, because men perceive this as threatening. (Women do not.) Meet before (or after) the meeting instead.
  • If you’re having a conversation with a man, cross your legs and sit at an angle to him. Don’t talk to a man face-to-face. Men see that as threatening.
  • Don’t be too aggressive or outspoken.
“You have to offer your thoughts in a benign way,” Jane said, recalling the seminar. “You have to be the perfect Stepford wife.” It felt like they were being turned into someone who is “super-smiley, who never confronts anyone,” she said. (Emily Peck, Huffington Post)
Diese Fortbildung ist einfach der blanke Irrsinn. Eine einzige Ansammlung billigster Geschlechterklischees auf dem Level eines Herrenwitzes, verkauft als Erkenntnisse. Da bezahlen die Top-Leute der Top-Branchen hunderttausende von Dollar, um ihre Leute mit solcher gequirlten Kacke auszubilden und richten auch noch ihr ganzes Unternehmen danach aus. Und das sind diese angeblich so rational, pragmatisch agierenden, hochqualifizierten Götter der freien Wirtschaft, die um so vieles besser sind als der öffentliche Dienst. Wer mit so einer Fortbildung im öffentlichen Dienst aufschlagen würde, den würde man aus dem Raum lachen. Und solche Indoktrination wird dann als natürliche Ordnung und/oder wirtschaftliche Realität verkauft. Erst drangsaliert man seine weiblichen Nachwuchskräfte in ideologischen Brainwashingseminaren, und dann bestätigt sich die Herrenriege gegenseitig nickend, dass die Frauen ja ohnehin kein Interesse an Führungspositionen hätten und, leider, leider, doch wieder ein weißer, geschniegelter BWL-Schnösel befördert werden müsse, mangels Alternativen, Sie wissen schon. Es wäre zum Lachen, wenn es nicht so zum Heulen wäre.

2) Von wegen „Nazi-Methoden“: Die falsche Inszenierung von Bernd Lucke als Opfer
Nun kehrt Lucke also an die Uni zurück, als wäre nichts gewesen. Dass ein gescheiterter Parteigründer und Prediger des reinen Wassers des Neoliberalismus selbst doch lieber den Wein des sicheren Beamtenverhältnisses trinkt, stößt einigen übel auf. Doch das geltende Recht räumt ihm diese Möglichkeit ein. Doch es wären von einer kritischen Öffentlichkeit durchaus Fragen zu stellen: Was hat einer, der sich politisch so verzockt hat, der die Bedrohung durch völkische Nationalisten in seiner Partei entweder nicht erkannt oder so lange geduldet hat, bis sie ihn hinfort jagten, jungen Studierenden beizubringen? Wie berufen ist jemand, „Makroökonomie“ zu unterrichten, dessen ökonomische Einschätzungen und Untergangsszenarien im Hinblick auf den Euro und den EU-Wirtschaftsraum– Stand heute – samt und sonders nicht eingetroffen sind? Auch Luckes wissenschaftliches Renommee ist umstritten. [...] Dass dieser Jargon, dieses Kokettieren mit ethnischer Säuberung auf die Bühne der deutschen Politik zurückgekehrt ist, verdanken wir nicht zuletzt Bernd Lucke. Man mag sich ausmalen, was es für Studierende mit Migrationshintergrund heißt, bei einem zu studieren, der Flüchtlinge für „Bodensatz“ hält. Man mag sich hineinfühlen in diejenigen, deren berufliche Karrieren nun wieder vom Votum eines Bernd Lucke in Berufungskommissionen und Prüfungsausschüssen abhängen. [...] Wo waren die ganzen Freiheitsmahner und Demokratiewächter eigentlich, als es darum gegangen wäre, Lucke zu konfrontieren? Nie wurde er von der medialen Öffentlichkeit für das zur Verantwortung gezogen, was er an Zerstörung von politischer Kultur in diesem Land angerichtet hat. Dafür, dass er eine Partei geschaffen hat, die das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlichster Herkunft und Ansichten in diesem Land infrage stellt. Um es mit Alexander Gauland zu sagen: Eine gestörte Vorlesung ist dagegen ein Vogelschiss. (Andre Reijsin, Übermedien)
Ich möchte gleich vorwegstellen, dass ich kein Fan der Blockade von Luckes Vorlesung an der Hamburger Uni bin. Aber der Untergang des Abendlandes ist es sicher nicht. Es ist ein Studentenprotest. Studentenproteste ohne Störung von irgendwelchen Vorlesungen oder des Universitätsbetriebs sind schlechterdings unvorstellbar. Dumme Protestaktionen zu machen ist quasi Teil der studentischen Erfahrung. Ich erinnere mich noch an unsere Proteste gegen die Einführung der Studiengebühren 2005. Das Eindringen in die Bannmeile des Landtags schien damals Höhepunkt strategischer Weisheit, und das Hineinbrüllen von "reiche Eltern für alle" in irgendwelche Vorlesungen war bewundernswerter Aktionismus. In Baden-Württemberg steht die Demokratie und Wissenschaftsfreiheit noch. Was Lucke erreichen will ist Selbstinszenierung und Selbstüberhöhung auf der einen und das Vergessenmachen seiner schmutzigen Vergangenheit auf der anderen Seite. Bisher hat Lucke noch keinerlei Aufarbeitung betrieben oder seine Verantwortung in der Etablierung von Rassismus und Rechtsextremismus im öffentlichen Raum thematisiert. Solange er sich als bürgerlicher Saubermann darzustellen versucht, werde ich sicherlich keine Krokodilstränen weinen, wenn er in der Öffentlichkeit nicht ohne Störung auskommt. Wer in der öffentlichen Arena mit Schmutz um sich wirft muss mit Echo rechnen. Aber Verantwortung für die eigenen Taten wird im bürgerlichen Bereich ja bekanntlich eher klein geschrieben.

3) "Narzissten trauen wir Führungspotenzial zu" (Interview mit Tomas Chamorro-Premuzic)
ZEIT ONLINE: Das heißt, dass Unternehmen sich mehr Mühe geben müssten, das Führungspotenzial der Chefs richtig einzuschätzen. Gibt es eine Möglichkeit, schon im Vorstellungsgespräch zu erkennen, dass jemand ungeeignet ist?

Chamorro-Premuzic: Das geht, ist aber schwierig. Denn auch Narzissten und Psychopathen schneiden in Interviews sehr gut ab. Um zu vermeiden, dass unsere Intuition uns in die Irre führt, müssen die Fragen sorgfältig ausgewählt sein, sie müssen allen Bewerbern gestellt werden und die Antworten müssen nach einem vordefinierten Algorithmus ausgewertet werden. Wenn man jemanden nur als charismatisch bezeichnet, ist das nicht rational.
ZEIT ONLINE: Und welche rationalen Faktoren machen jemanden zu einem guten Chef?
Chamorro-Premuzic: Lernfähigkeit, emotionale Intelligenz, soziale Kompetenz und Integrität. Ein kompetenter Chef ist jemand, der einen Haufen Menschen dazu bringt, ihre persönliche Agenda beiseitezulegen, um etwas zu erreichen, das sie alleine nicht schaffen könnten. Kompetente Führungskräfte sorgen dafür, dass sich die Teammitglieder vertrauen, alle sich einbringen und zusammen Leistungen bringen, mit denen sie andere Teams übertreffen. [...] 

ZEIT ONLINE: Was können Frauen in Unternehmen tun, damit sie selbst in Führungspositionen kommen?
Chamorro-Premuzic: Diese Frage – die ich immer wieder höre – ist nicht die richtige. Das eigentliche Problem ist das System. Ratschläge wie: Sei selbstbewusst! Bring dich ein! Bau dir eine Marke auf! Oder: Lean in – wie es das Buch der Facebook-Geschäftsführerin Sheryl Sandberg sagt –, können bei einzelnen Personen wirken, aber sie verstetigen ein System, das sich zu sehr auf die falschen Funktionen konzentriert. Die richtige Frage wäre: Was sollen wir tun?
ZEIT ONLINE: Gut. Was sollen wir also tun?

Chamorro-Premuzic: Wenn Sie es kompetenten Frauen leichter machen wollen, befördert zu werden, sollten Sie damit beginnen, es für inkompetente Männer schwieriger zu machen. Denn die belegen leider viele Plätze, die sowohl von kompetenten Frauen als auch von kompetenten Männern besetzt werden könnten. (Maria Mast, ZEIT)
Das Fundstück hier passt gut zu Fundstück Nummer 1. Die Freie Wirtschaft hebt absurd bescheuerte ideologisch motivierte Werte aufs Podest und erklärt diese dann zum Naturgesetz. Dabei zeigt die Forschung beständig in eine andere Richtung. Aber die Selbstreproduktion ist deutlich stärker. Narzissten und aggressiv-dominant auftretende Chefs ziehen ebenso narzisstische und aggressiv-dominant auftretende Nachfolger heran. Und da Aggression männlich konnotiert ist, werden tendenziell männliche Führungskräfte rekrutiert. Auch hier bietet der öffentliche Dienst mit seinen völlig anders strukturierten Beförderungsmodellen ein interessantes Gegenmodell, das die Privatwirtschaft einmal zur Kenntnis nehmen sollte, wenn sie über den eigenen ideologischen Schatten springen können.

4) Worte, die vergiften

"Aber Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewusster ich mich ihr überlasse", schreibt Victor Klemperer in "LTI - Notizbuch eines Philologen", und ergänzt: "Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da." Vielleicht haben sich wirklich viele den Worten unbewusst überlassen und nicht bemerkt, wie sie nach und nach alles vergiften, wie die Rede von der "politischen Korrektheit", wie Arsen, nach und nach alles zerstört. [...] Das Fatale ist nicht allein, dass dies genau der politischen Absicht der rechtsextremen Bewegungen und ihrer politischen Marionetten entspricht. Der Trigger-Begriff des "politisch Korrekten" (ähnlich wie der der "Umvolkung" oder des "Genderwahns") war immer schon Kern jenes Product-Placements, das das eigene antidemokratische, völkisch-autoritäre Dogma unbemerkt ins Herz der Gesellschaft transportieren wollte. Da ist es nun angekommen. Alice Weidel und Björn Höcke können sich gelassen zurücklehnen, weil der rhetorisch-affektive Kitt zwischen den rechtsradikalen Fanatikern und der bürgerlichen Mitte jetzt auch ohne ihr Zutun wirkt. [...] Deshalb reicht es nicht, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit nur dann zu registrieren, wenn gerade ein terroristischer Anschlag verübt wurde, es reicht nicht, "Nie wieder" zu deklarieren, wenn im Alltag immer wieder jene Hierarchisierungen von Menschen als "echte" oder "unechte", als "von hier" oder "Gesindel", als "zugehörig" oder "anders" toleriert werden. Es reicht nicht, sich auf einmal für Rassismus und Antisemitismus zu schämen, wenn im Alltag schamlos all jene alleingelassen werden, die sich ihm in Schulen oder Vereinen, in Kirchen oder Clubs entgegenstellen. All die vollmundigen Erklärungen und Maßnahmen gegen rechtsradikale, völkische Fanatiker nützen nichts, wenn gleichzeitig all jene Bürgerinnen und Bürger herablassend bespöttelt werden, für die Respekt vor anderen keine elitäre Zumutung, sondern eine soziale Selbstverständlichkeit bedeutet. Es ist trostlos, dass das Plädoyer für universale Menschenrechte, für rechtsstaatliche Institutionen und politische Vernunft mittlerweile als radikale, randständige Position gilt. (Carolin Emcke, Süddeutsche Zeitung) 
Ich habe hier im Blog immer wieder darauf hingewiesen, wie problematisch es ist, Sprache und Framing der Rechten zu übernehmen. Das betrifft gerade Begriffe wie "Genderwahn" oder Ähnliches. Wie Emcke überzeugend darstellt, hat ihre Legitimierung durch die Verwendung eben nicht rechtsextremer Akteure - wie sie hoffentlich alle Leser dieses Blogs sind - eine toxische Wirkung. Das entspricht nicht einem Sprach- und Diskussionsverbot. Für alle diese im rechtsradikalen und rechtsextremen Spektrum verwendeten Phrasen gibt es Entsprechungen oder wenigstens Umschreibungen, mit denen man die Übernahme und Normalisierung vermeiden kann. Ich schreibe auch nicht von Begriffen wie "Revolution" oder "Klassenkampf" oder bezeichne die Besetzung des Hambacher Forsts als "gesellschaftliche Notwehr" oder solchen Blödsinn, weil ich die Legitimation des spinnerten linken Rands ebenso vermeiden will wie meine Assoziation damit. Das geht manchmal nur um den Preis, sich von etwas distanzieren zu müssen, dem man eigentlich zustimmt. Aber damit gilt eben umgekehrt auch: Wer das nicht tut, der macht sich gemein mit dem extremen Rand, der hat kein Problem mit der Assoziation. Und muss sich die entsprechenden Angriffe auch gefallen lassen.

 5) “How Will You Pay For It?” Is the New “But Her Emails”
Every Democratic candidate is stuck in between two unsavory positions on healthcare: either open yourself to unfair GOP attacks by proposing the same sort of system that gives people better care at lower cost in nearly every developed country in the world, or avoid those attacks but promote a half-measures plan that doesn’t actually solve the cost problem. But whether one takes the cautious and ineffectual Biden approach, the cagey Warren approach, or the open yet politically risky Sanders approach, everything is predicated on the notion that a candidate’s healthcare plan must be paid for. Meanwhile, Trump and the GOP have blown open a nearly $1 trillion dollar deficit hole, a 26% increase from 2018 despite benefiting from an economy that is running at full tilt by traditional metrics. They’ve done this mostly through a combination of giant tax cuts for corporations and the wealthy, as well as through huge increases to the military budget and handouts to make up for Trump’s self-inflicted trade war. None of this Republican spending was paid for, any more than the Reagan tax cuts were, or the Bush tax cuts, or the invasion of Iraq, or any of the other federal largesse Republicans have doled out over the decades to wealthy corporations, shareholders, military contractors, fossil fuel interests and industries disproportionately benefiting their rural/exurban white male base. Not only was none of it paid for, there was barely any debate over paying for it, either in the halls of Congress or on the campaign trail. The Republican debates in 2016 featured nary a word about how to pay for their tax cut and spending proposals. Despite the power of the supposed Tea Party, none of the GOP candidates were forced back to the policy table to add pay-fors to their plans. (David Atkins, Washington Monthly)
Der Analyse von Atkins ist wenig hinzuzufügen. Die Democrats sind gut beraten, diese Angriffe zu ignorieren. Sie sind nichts weiter als Ablenkungsmanöver. Niemand ist daran interessiert, wie die Gesundheitsreformen bezahlt werden sollen. Jeder, der diese Frage stellt, will einfach nur, dass der jeweilige Kandidat erklärt, die Steuern erhöhen zu wollen. Die Journalisten wollen das, weil sie dann ihre billigen Schlagzeilen haben und wochenlang die gleichen Texte schreiben können, die sie immer schreiben; die Republicans wollen es aus dem gleichen Grund, aber sie müssen dann nicht mal mehr arbeiten. Es ist eine völlige Scheindebatte, die das Messen mit zweierlei Maß deutlich zeigt. Keine Sau fragt je Konservative, wie sie ihre Pläne zu finanzieren gedenken.

 6) William Taylor's testimony should be game over for Trump
For those who might be inclined to believe that "we do that all the time," in the now-infamous words of soon-to-be-under-the-bus Mulvaney, and for the 46 percent of Americans who told New York Times pollsters that this is more or less what they expect of government officials anyway, it is worth a reminder that even by the incredibly lax standards of a city overrun by lobbyists, grifters and rent-seekers, Trump and Giuliani's Ukraine plot was both illegal in a legal sense and totally insane as a foreign policy. It was illegal because it violated the Federal Election Campaign Act's prohibition on soliciting a thing of value (dirt on Biden and the Democrats) from a foreign national, and it would be so even if Hunter Biden spent 2015 stuffing his pants with laundered Ukrainian cash, which he did not. In less dry terms, the nonsense investigations that Trump's henchmen sought from Zelensky would have immediately destroyed Joe Biden's campaign and led to endless, negative speculation about the DNC, all based on a pile of b.s. so high it would eclipse Trump Tower. It is an incredible abuse of power, the act of a madman drunk on his power and operating with the not-unreasonable belief that his impunity is total and timeless, a crook who surrounds himself with other crooks who are too dumb to get away with their crimes. [...] The bigger picture is this: The president of the United States is a corrupt, oafish criminal willing to twist American foreign policy to benefit his re-election prospects, and willing to brazenly violate the law and abuse the powers of his office to do so. In a sane country with properly functioning political institutions and parties, this maniac would be forced to slink out of the White House tomorrow and hold his arms out for the handcuffs. That he still has, as of today, the support of both his congressional sycophants as well as the enthusiastic admiration of his rank-and-file voters suggests that this country is much more vulnerable to a slow-motion authoritarian takeover than even the most alarmist critics suspected at the outset of this nightmare presidency. (David Farris, The Week)
Es lohnt sich immer wieder darauf aufmerksam zu machen, wie krass die Verfehlungen Trumps sind und wie eindeutig seine Schuld. Es ist nur für das Thema völlig belanglos. Wie ich in meinem Artikel zum Thema beschrieben habe, ist das Impeachment ein politischer Prozess, kein juristischer. Alles, was zählt, sind Mehrheitsverhältnisse. Das Vorgehen der Republicans im Allgemeinen und Trumps im Speziellen ist es, alle mit sich hinunter in den Dreck zu ziehen. Es ist republikanische Strategie seit spätestens Ronald Reagan, die politischen Institutionen, in denen man selbst arbeitet, zu sabotieren und mit Schmutz zu bewerfen. Das Ansehen des Kongresses als Institution ist im mittleren einstelligen Prozentbereich! Das ist kein Zufall, sondern eine mittlerweile jahrzehntelange Strategie von rechts. Ihr Versuch ist es, alle Seiten als gleich schmutzig, gleich verwerflich darzustellen. Deswegen ist der weit verbreitete Politik-Zynismus ("alle korrupt", "alle lügen") auch so zersetzend. Den Rechten hilft es, weil sie lügen und korrupt sind, und sie können es mittlerweile so offen tun, weil wegen des permanenten Bothsiderismus ohnehin jeder immer das Schlimmste annimmt. Wenn man sich mit den Schweinen im Schlamm wälzt, werden alle schmutzig, aber den Schweinen gefällt es so. Die alte Weisheit bleibt wahr.

 7) If Anyone Should Be Complaining About Unfair Political Attacks It’s Hillary Clinton
This is also why, other than the importance of congressional fiscal responsibility, few canards are more sacred to mainstream elites than the political independence of the Federal Reserve. Ask any mainstream economist or economics reporter why it's bad for the Fed to obey President Trump's whims, and the answer you'll get is: if politicians controlled the Fed's monetary policy, we'd get runaway inflation. The theory here is that elected officials cannot be trusted to manage the competing priorities of jobs versus price stability. The task must be given to well-trained technocrats — i.e. the officials at the Fed. What no one notices is that the logic justifying the Fed's design and role also just happens to completely negate the logic behind demanding balanced budgets from Congress. If Congress ever threw caution to the wind and just massively deficit spent, driving us past full employment and into a serious bout of inflation, the Fed could always step in and hike interest rates — shaving just enough demand off the top to keep the economy trucking without pitching into overheating. In short, if giving the central bank political independence and control over interest rates is a good idea that works, it cannot simultaneously be the case that Congress needs to adhere to "fiscal discipline." The whole point of setting up the Fed this way is to inoculate the economy against willy-nilly fiscal excess — to remove the need for congressional discipline. Let's return to our hypothetical Warren scenario: She wants to pass Medicare-for-all. When reporters ask how she'll pay for it, she could simply respond, "I won't. I'm going to finance the whole thing with deficits, and the Fed can do whatever it needs to do to keep inflation in check." That would be a 100-percent serious and legitimate response. (Jeff Spross, The Week)
Ich erinnere an meinen Artikel über MMT, in dem ich darauf hingewiesen habe, wie diese Theorie (die vor allem von Bernie Sanders' ökonomischer Beraterin Stephanie Kelton populär gemacht wurde) für die Progressiven dieselbe Funktion einnehmen kann, wie es das Gerede von der Laffer-Kurve und dem selbsttragenden Aufschwung seit mittlerweile 40 Jahren für die Konservativen tut. In dem Moment, in dem die Medien und die Öffentlichkeit diese Argumentationslinie als möglich akzeptieren, löst sich das politische Problem der Staatsverschuldung und Programmfinanzierung in Luft auf. Ich wiederhole noch einmal meine Einschätzung aus dem Artikel damals: Ich habe keine Ahnung, wie tragfähig das ökonomisch ist. Politisch allerdings bietet es einen so attraktiven Ausweg aus dem aktuellen Dilemma, dass es an ein Wunder grenzte, wenn nicht in näherer Zukunft ein Kandidat darauf zurückgreift. Artikel wie der obige mögen erste Zeichen einer Trendwende sein.

 9) Und nun wieder gaaanz viel zuhören
Nun ist es vielleicht im Einzelnen müßig zu klären, woher die mentalen Verwahrlosungen stammen, die einen dazu bringen, für eine offen rassistische und offen antidemokratische Partei zu stimmen, nur weil der Bus nicht kommt oder ein Windrad den freien Blick auf eine Kuhwiese trübt. In etlichen Kommentaren zur Thüringen-Wahl aber wurde eine offensichtliche Erklärung einfach verworfen, indem es dort hieß: Knapp 24 Prozent hätten für die AfD gestimmt, obwohl an ihrer Spitze ein Rechtsextremer steht, als sei dies ein Beweis für die dramatische Lage des Seelenhaushalts, aus der heraus sich diese 24 Prozent nicht anders zu helfen wüssten. Dass sie allein deshalb für Höcke stimmten, weil er ein Rechtsextremer ist, scheint den Kommentatoren wohl zu abwegig gewesen zu sein. Den einen womöglich aus unerschütterlicher Gutmütigkeit, den anderen womöglich aus kalkuliertem Opportunismus, der in der AfD-Wählerschaft bloß verirrte Menschlein sieht, die fürderhin noch potenzielle Wähler, Zuschauer oder Leser sein könnten. Wenn man selbst nur eine Idee hätte, welches Angebot man ihnen machen müsste. Seit einiger Zeit hat sich im Umgang mit der AfD und ihrer Klientel die sozialtherapeutische Vorstellung eingeschliffen, man müsse einfach "mehr zuhören" und der Fall erledige sich von selbst. Kaum eine Floskel ist in den vergangenen Jahren so hyperinflationär strapaziert worden wie die vom "Reden" und die vom "Zuhören". Sie suggeriert nicht nur, hier gehe es vor allem um fehlgeleitetete Befindlichkeiten und um akutes Emotionsmanagement und weniger um manifeste Gesinnungen. Sie suggeriert auch, der große Zuspruch der AfD sei vor allem das Produkt eines zuvor verfehlten Kommunikationsprozesses der anderen Parteien und nicht etwa der eines geglückten der AfD selbst. Diese autorisiert Ressentiments, sie legitimiert einen Du-darfst-Rassismus, den offenbar viele schon mit sich herumgetragen haben könnten. (David Hugendick, ZEIT)
Hugendicks Argumentation ist ebenfalls eine, die ich seit längerem hier vertrete. Ich hasse diese Infantilisierung der Wähler, als ob die alle zu blöd seien zu sehen, für was sie da ihre Stimme abgeben. Es ist völlig irrelevant, wie angepisst jemand ist und wie berechtigt die Wut auf die generellen Umstände sein mag. Nazis zu wählen ist keine akzeptable Alternative, ist kein Denkzettel, ist zu verachten. Die 24% der Thüringer Wähler, die ihre Stimme einer Neonazi-Partei gegeben haben, geben ein Bekenntnis gegen die pluralistische Demokratie ab. Ich höre diesen Leuten zu. Sie sagen "ja" zu Gewalt, "ja" zu Diktatur, "ja" zu Unterdrückung, "ja" zu Rassismus, "ja" zu Sexismus. Wie lange soll ich ihnen noch zuhören?

 10) Chile Is a Victim of Its Own Success
But the question inevitably follows: If Chile is so successful, why are the streets exploding in rage? One possibility is that the common metrics cited above simply miss some important elements of social or economic failure. Chileans might be feeling more economically precarious. They may feel that a narrow elite dominates the political process and denies them a true voice. Or they might simply care a lot about prices of certain daily goods, such as train tickets. Alternatively, protests like Chile’s might simply be an outgrowth of the rise of social media. In his book “The Revolt of The Public and the Crisis of Authority in the New Millennium,” former CIA analyst Martin Gurri theorizes that social media has made large protests so easy to start that essentially any reason for discontent -- anger about history, a vague feeling of being cheated by elites, disappointment with government’s failure to live up to grand promises -- now tend to spill into the streets. But it’s possible that Chile’s very success during the past three d ecades is what’s driving discontent now. Although Chile’s growth was fast for 22 years, it has slowed down recently, possibly due to falling commodity prices. In 2018, real per capita income was only 5% higher than in 2013. And most of the drop in inequality ended by 2006. A generation raised on expectations of steadily rising living standards, burgeoning freedom and increasing equality might be enraged that those expectations weren’t fulfilled. This idea, called a revolution of rising expectations, has been used to explain protests and revolutions across the centuries, from the French Revolution to the unrest of the 1960s and 1970s. It implies that rapid bursts of progress followed by pauses tend to stoke uprisings. Chile may well be a victim of its own success. If that’s the case, Chile has little option but to wait out the unrest. (Noah Smith, Bloomberg)
Ich habe diese Theorie mittlerweile an mehreren Stellen gelesen, und sie klingt grundsätzlich sehr überzeugend. Ich denke, die Anwendung lohnt sich auch auf Ostdeutschland. Geht man rein von statistischen Indikatoren aus, geht es der Bevölkerung dort unzweifelhaft besser als 1990, geht es ihnen besser als 2000, geht es ihnen besser als 2010. Die Zahlen zeigen beständig nach oben, der Aufbau Ost ist grundsätzlich eine Erfolgsgeschichte. Aber: So was passiert halt nicht in einem Vakuum. Der Mensch vergleicht sich doch immer mit den Nachbarn, und den Menschen in Westdeutschland geht es deutlich besser als denen im Osten, und das Gesamtdeutsche, ja, fast weltweite Phänomen eines erlahmenden Aufschwungs trägt massiv zur Unruhe bei. Was Smith hier vorschlägt - einfach abwarten - ist vermutlich tatsächlich das Einzige, was man tun kann. Die Frage ist nur, ob Demokratie und Rechtsstaat diese Wartezeit überleben. Siehe auch Fundstück 11 zum Thema.

 11) Chile: The poster boy of neoliberalism who fell from grace
While Chile leads Latin America in GDP per capita, it also leads it terms of inequality. In 2015, its level of income inequality was higher than in any other Latin American country except for Colombia and Honduras. It exceeded even Brazil’s proverbially high inequality. The bottom 5% of the Chilean population have an income level that is about the same as that of the bottom 5% in Mongolia. The top 2% enjoy the income level equivalent to that of the top 2% in Germany. Dortmund and poor suburbs of Ulan Bataar were thus brought together. Chilean income distribution is extremely unequal. But even more so is its wealth distribution. There, Chile is an outlier even compared to the rest of Latin America. [...] Such extraordinary inequality of wealth and income, combined with full marketization of many social services (water, electricity etc.), and pensions that depend on the vagaries of the stock market have long been “hidden” from foreign observers by Chile’s success in raising its GDP per capita.  But the recent protests show that the latter is not enough. Growth is indispensable for economic success and reduction in poverty. But if there Is no social justice and minimum of social cohesion, the effects of growth will dissolve in grief, demonstrations, and yes, in the shooting of people. (Branko Milanovich, Global Inequality)
Eine andere Interpretation der chilenischen Krise findet sich hier. Für Branko Milanovic ist Ungleichheit der Quell des Übels. Wo Smith in Fundstück 10 noch betont, dass die Ungleichheit gegenüber der Pinochet-Zeit stark abgenommen habe - ein Teil des Erfolgs, der in seinem Artikel angesprochen wird - betont Milanovic, wie hoch sie immer noch ist. Vermutlich arbeiten beide Faktoren zusammen. Denn diese riesigen Ungleichheiten mit einer schmalen Klasse von Superreichen und einer armen Bevölkerung finden sich oft auf der Welt. Relevant ist ja vielmehr, dass es nach oben ging - aber eben nicht genug und nicht für alle. Der Erfolg Chiles bringt diese Ungleichheiten, die durch den Erfolg geringer werden, ja überhaupt erst aufs Tablett. Es ist der gefährlichste Punkt für solche Gesellschaften: Zum ersten formuliert eine neu entstandene Mittelschicht Forderungen und Erwartungen, die es vorher nicht gab, und zeigt sich massiv enttäuscht, wo diese nicht erfüllt werden können. Das steht einigen Staaten der Welt, wie etwa China oder Indien, noch aus.

Freitag, 25. Oktober 2019

Ein Blick auf die Never-Trumper

Dieser Tage habe ich einen Podcast zwischen Charlie Sykes und Tom Nichols angehört. Beide sind Konservative, die 2016 aus prinzipiellen Gründen in Opposition zu Trump gegangen sind. Die kleine Gruppe dieser prinzipientreuen Konservativen, zu denen auch Namen wie David Frumm, Max Boot und Rick Wilson gehören, wurden von den Republicans zu persona non grata erklärt und aus Partei und Bewegung verstoßen. Trump selbst tweetete jüngst, dass die Never-Trumper human scum, also menschlicher Abschaum, seien. Da Trump aber kein Progressiver ist, hat diese Beleidigung für genauso wenig Aufschrei gesorgt wie seine vorhergehende Abqualifizierung von Wählern der Democrats als Volksverräter. Aber ich schweife ab. Das Gespräch zwischen Nichols und Sykes war aus zwei Gründen interessant: einerseits wegen ihrer Position zum impeachment, und andererseits wegen ihrer Haltung zu den progressiven identity politics.

Die Never-Trumper

Bevor wir in dieses Thema einsteigen, noch einmal kurz die wichtige Vorbemerkung, dass die Never-Trumper keine Parteigänger der Democrats sind. Es handelt sich dezidiert um Konservative, die aus Sorge um das Land beschlossen haben, alles zu tun was nötig ist, um Trump zu verhindern (Stand 2016) beziehungsweise zu blockieren (Stand 2019) und aus dem Amt zu bekommen (Stand 2020). Sie sind dazu bereit, gegen ihre eigenen Interessen zu wählen, was sie von den seichten innerparteilichen Kritikern Trumps unterscheidet. Tom Nichols etwa erklärte mehrfach und nachdrücklich, selbst einen Bernie Sanders zu wählen, wenn es Trumps Niederlage mit sich brächte. Never-Trumper betrachten Trump als existenzielles Risiko für die US-Demokratie und ordnen dem ihre ideologischen Präferenzen unter. Das ist ebenso bemerkens- wie bewundernswert. In ihrer Haltung sind diese Leute tatsächlich konservativ, anders als die GOP, die längst keine konservative Partei mehr ist - was auch Never-Trumper offen anerkennen. So, nach dieser Vorrede kurz zu den zwei großen Themen, die Nichols und Sykes besprochen haben und die von den anderen erwähnten prominenten Never-Trumpern Frumm, Boot und Wilson auch geteilt werden.

Impeachment

Das erste Thema ist das impeachment. Die Never-Trumper sind sich ziemlich einig, dass das Verfahren trotz der gegen Null gehenden Aussicht eine unbedingte Notwendigkeit ist. Sie argumentieren, dass es möglichst schnell über die Bühne gehen soll - vor Thanksgiving - damit im Wahljahr nicht der Eindruck entsteht, es handle sich um ein wahltaktisches Manöver. Ihr Vorwurf an die Democrats lautet, dass sie viel zu sachte vorgehen. Nichols formulierte es im Podcast als "bringing a nerfbat to a gunfight", und der notorisch polarisierende Wilson findet sogar noch deutlichere Worte. Ich habe selbst keine starke Meinung zum Timing des impeachment-Prozesses. Es ist völlig offenkundig, dass Trump schuldig ist, genauso wie offenkundig ist, dass die Republicans aktuell nicht bereit sind, mit ihm zu brechen. Ob sich das in Zukunft ändern wird, ist unklar. Die Argumente beider Seiten - impeachment jetzt und schnell oder gut vorbereitet nächstes Jahr - machen auf Basis ihrer eigenen Prämissen Sinn; garantiert ist gar nichts. Die Verantwortung liegt letztlich bei Nancy Pelosi. Die Zeit wird zeigen, ob ihrem strategischen Urteil zu vertrauen ist.

Messer zur Schießerei

Die Kritik der Never-Trumper beschränkt sich nicht auf das impeachment. Rick Wilson etwa bietet in seinem Buch "Everything Trump Touches Dies" diversen Seitenplatz auf Seitenhiebe auf die Weichheit demokratischer Wahlkämpfer auf. Und das ist der für diese Diskussion wesentlich relevanter. Denn genauso wie für die Frage der Sicht auf das eigene politische Führungspersonal (wie im letzten Vermischten angesprochen) sind die Progressiven notorisch schlecht im schmutzigen (Wahl-)Nahkampf. Immer wieder aufs Neue werden sie von der Ruchlosigkeit und Effizienz ihrer rechten Gegner überrascht. Es ist deswegen spannend, die Never-Trumper dabei zu beobachten, wie sie sich den Mund fusselig reden, die Democrats dazu anzuhalten, endlich die Samthandschuhe auszuziehen. Es zeigt zwei Dinge.

Andere Parteien, andere Sitten

Erstens: Die Never-Trumper sind nicht einfach ideologische Wechsler zu den Progressiven; sie bleiben Konservative und tun sich schwer damit, zu verstehen, wie die Progressiven ticken. Aus ihrer Sicht ist deren Zurückhaltung einfach nur Schwäche. Die Probleme mit der von ihnen geforderten Strategien in Bezug auf die Basis und die Medien sehen sie nicht wirklich, weil es ihnen nicht möglich ist, in die Innensicht zu gehen - verständlicherweise, ich tue mich auch schwer damit, in den mental space eines republikanischen Wahlkampfstrategen zu gehen (was auch die offene Haltung der Never-Trumpers, die nichts mehr zu verlieren haben, so ungeheuer wertvoll macht). Aber: Weder goutiert die progressive Basis (aktuell) solches Vorgehen, noch tun es die notorisch mit zweierlei Maß messenden Medien. Beleidigungen, Flüche, "auf die Kacke hauen", all das kommt bei den Wählerschichten der Progressiven einfach nicht besonders gut an. Das musste etwa im Wahlkampf 2013 Peer Steinbrück feststellen, der versuchte, mit Schröder'schem Proletentum zu reüssieren und krachend scheiterte (er verlor durch seine Stinkefinger-Aktion fast 20% bei den weiblichen Wählern!). Aber auch die Medien sind ein Problem, weil sie Progressive für solche Ruchlosigkeit massiv kritisieren und es bei Konservativen oder Rechten als Stärke feiern. Mein Seitenhieb auf Trump im Einstieg kam nicht von ungefähr. Die Democrats unterliegen schlichtweg anderen Anreizsystemen und Zwängen als ihre Konkurrenten, was die ganze Situation noch unübersichtlicher macht als ohnehin. Ich teile die Frustration der Never-Trumper, aber ich sehe die strukturellen Herausforderungen, glaube ich, deutlicher als sie.

Sag, wie hältst du's mit der Homo-Ehe?

Zweitens: Nichols und Sykes arbeiteten sich, wie alle konservativen Kritiker, an dem aktuellen "Reinheitswettbewerb" der demokratischen primaries ab. Das ist nachvollziehbar; wie bereits gesagt sind die Never-Trumper weiterhin Konservative. Dass ihnen die Diskussionen über LGTBQ-Rechte, Homo-Ehe und Intersektionalität nicht behagen, liegt auf der Hand. Konkreter Anlass im Podcast war eine Antwort Elizabeth Warrens auf einer Townhall, in der sie gefragt wurde, was sie einem Wähler entgegnen würde, der eine Ehe ausschließlich als die zwischen Mann und Frau begreift. Ihre schnippische Entgegnung war, dass derjenige eine Frau heiraten soll - so er eine findet. Nichols und Sykes hatten aus zweierlei Gründen Bauchschmerzen mit dieser Äußerung.

Wo liegt das Problem?

Der erste ist wahltaktisch. Sie verwiesen beide darauf, dass die für Democrats entscheidende Wählerschicht der Schwarzen (und besonders der schwarzen Frauen) deutlich gespaltener bei dieser Frage ist als die weißen Progressiven. Ihre Befürchtung ist, dass diese (aus ihrer Sicht) progressive Nabelschau entscheidende Wählerschichten demobilisiert. Der zweite Grund hängt damit zusammen; Nichols verwies explizit darauf, dass die Antwort Warrens geplant war. Sie hatte sie vorher geübt und nur auf eine Gelegenheit gewartet, sie loszuwerden. Nichols und Sykes erklärten dies im Zusammenhang mit Faktor eins für noch problematischer als Clintons eher unabsichtlichen Fauxpas vom "basket fo deplorables" (und nannten Warrens Äußerung entsprechend "Deplorables 2.0"), weil die Democrats wohl der Meinung seien, diese Reinheitswettbewerbe seien wichtiger als die Frage der Wählbarkeit in der general election. Haben Sykes und Nichols Recht, so ist die sicherste Bank der Democrats mit Sicherheit der Umfragenfavorit Joe Biden. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, ob einerseits Kandidaten wie Warren gegenüber diesen Dynamiken blind sind oder andererseits Sykes, Nichols et al schlicht Unrecht haben. Ich habe aber eine Vermutung, warum Warren sich bewusst dazu entschieden hat, eine solche Abgrenzung zum Teil ihres Wahlkampfs zu machen. Nur eine Vermutung, sicher, aber es ist zumindest ein Erklärungsversuch. Die Folie, vor der der gesamte Wahlkampf 2020 sich abspielt, ist die Dynamik von 2016. Und jeder hat seine eigene Erklärung dafür, was damals wirklich passiert ist. Während Joe Biden eher auf der Schiene läuft, dass die Wähler einfach nur eine Rückkehr zur Normalität (beziehungsweise, auf 2016 gemünzt, eine Fortführung derselben) wollen und dass Hillary Clintons Schwächen als Kandidat, vor allem ihre Skandalträchtigkeit, der beherrschende Faktor war, stehen Sanders und Warren eher für die Idee, dass die Amerikaner einen Wechsel wollen und dieser 2016 eben nur von Trump geboten wurde und dass es eine progressive Wechsel-Alternative zur reaktionären Trumps bräuchte.

Ein Erklärungsversuch

Wer von beiden Recht hat, ist schwer letztgültig zu klären. Jeder hat seine Meinung dazu. Ich denke aber, dass Warrens Logik ungefähr so geht: Die amerikanische Bevölkerung ist ungeheuer polarisiert. Die Wahl wird sich nicht daran entscheiden, ob Trump-Wähler zurückgewonnen werden können, sondern an der Mobilisierung der eigenen Basis. Hillary Clinton verlor 2016 unter anderem deshalb, weil die eigene Wählerschaft unzureichend mobilisiert und enthusiastisch war, während umgekehrt eine große Begeisterung bei der republikanischen Wählerschaft vorherrschte. Ihr Weg ist daher zu versuchen, die Begeisterungslevel von 2018 nach 2020 zu transferieren und auf der Stärke der demokratischen Basis alleine zu gewinnen. Diese Strategie ist quasi die Übernahme der republikanischen Wahlkampfstrategie. Vor diesem Hintergrund ist es allzu ironisch, dass die Never-Trumper ein so großes Problem damit haben, wenngleich menschlich sehr verständlich. Ich möchte noch einmal betonen dass ich keine Ahnung habe, ob diese Strategie erfolgversprechender ist als der Ansatz eines Biden oder Buttigieg (oder Clinton!), die moderate Mitte zu gewinnen. Aber die Kandidaten haben sich für eine theory of change entschieden. Im Vorwahlkampf geht es daher mindestens genauso sehr um diese strategische Frage und damit die Ausrichtung der Partei wie um die eigentlichen Themen.

Fazit

Ich habe an dieser Stelle kein großes Fazit anzubieten. Es waren nur Gedanken, die sich mir beim Hören des Podcasts aufdrängten (und auch immer wieder bei der Lektüre der genannten Never-Trumper). Ich möchte die Fragen daher gerne zur Diskussion geben.

Donnerstag, 24. Oktober 2019

Trump verlegt Truppen für eine Modeschau zu den Uiguren nach Afrika - Vermischtes 24.10.2019

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Wo Zara und H&M zu langsam sind
Doch warum sind die Ultrafast Fashion-Firmen so erfolgreich? "Weil sie den ständig wachsenden Hunger der jungen Generation nach Neuem befriedigen", sagt Juliane Laufer, Geschäftsführerin der Trendberatung Laufer Fashion Consulting. Dass besonders die Jungen sich nicht mehr mit einer Winter- und einer Sommerkollektion zufriedengeben, haben Fast-Fashion-Firmen wie Zara und H&M mit ihren Kollektionen im Zweiwochenrhythmus schon vor Jahrzehnten erreicht. Doch nun treibt die digitale Revolution diese Entwicklung noch deutlich weiter: "Früher dauerte es etwa eineinhalb Jahre, bis ein Trend vom Laufsteg auf dem Massenmarkt ankam. Heute wird er sofort am Laufsteg kopiert und in Echtzeit über Social Media verbreitet", sagt Laufer. Über Influencer und Nutzerfeedback kristallisieren sich außerdem ständig neue, wechselnde Sub-Trends heraus. "Insgesamt sind die Trends viel schneller geworden. Was die Kunden zeitnah wollen, weiß man - und muss es schnell produzieren. Was dagegen in fünf Monaten angesagt ist, kann man immer schwerer voraussagen", erklärt Laufer. [...] Für jene Teile, die ASOS und Co. doch noch aus Asien beziehen, setzen sie gerne auch mal das Flugzeug ein - auch wenn es nur um 40-Euro-Pullover-geht. [..] Und was macht das mit dem Konsum der Kunden? Der wächst noch schneller als vorher: Im Durchschnitt kauft eine Person heutzutage 60 Prozent mehr Kleidungsstücke als vor 15 Jahren, behält sie aber nur halb so lang wie früher, wie die Unternehmensberatung McKinsey in einer Studie herausgefunden hat. Jede dritte junge Frau findet Kleidung alt, nachdem sie sie ein bis zwei Mal getragen hat. Und jede siebte hält es für einen Fashion-Faux-Pas, wenn sie zwei Mal im selben Outfit fotografiert wird. Zwar bieten auch die Ultrafast-Marken erste Teile aus Recyclingfasern und Biobaumwolle an und versprechen auf ihren Websites Nachhaltigkeit. Doch eins ist klar: Dieses Geschäftsmodell ist auf noch schnelleren Kleidungskonsum ausgerichtet. Das geht zu Lasten der Umwelt, denn: Je mehr Teile, desto höher der Verbrauch an knapper werdenden Ressourcen wie Wasser, Chemikalien, Energie. (Carolin Wahnbaeck)
Die Modeindustrie hat zugegebenermaßen schon immer nach ihren eigenen Regeln funktioniert, die für Außenstehende etwas wild sind. Ich will daher meinen Fokus weniger auf die Frage der Trendwechsel per se legen, die der Branche seit jeher inhärent sind und für ihren wirtschaftlichen Erfolg unabdingbar, sondern auf die gesellschaftliche Konstruktion der Mode. Es ist schon auffällig, dass das beschriebene Phänomen komplett gegendert ist: jungen Frauen wird eingeredet, ihr Wert bemesse sich direkt am Attraktivitätsgrad ihrer Kleidung. Ebenfalls interessant ist, dass diese Wertfestsetzung - anders als der Körperkult - praktisch ausschließlich von weiblicher Seite betrieben wird. Mir sind keine Männer bekannt, die sich sonderlich für die Kleidung von Frauen interessieren. Das ist eher ein geschlechtsinterner Wettbewerb. Das alles ist natürlich nicht neu, aber festzuhalten ist dennoch, dass es sich um eine ungeheuer erfolgreiche Setzung handelt, die über Jahrzehnte das Frauenbild (mit) definierte. Am Ende behauptet dann wieder irgendjemand, die weibliche Fixierung auf Mode sei "natürlich" und durch die Biologie in die Wiege gegeben... Die völlig perverse Umweltbelastung, die diese Trends mit sich bringen, lasse ich einfach mal unkommentiert stehen.

2) Afrikas Beste kommen
Fast drei Viertel (71 Prozent) der befragten Einwanderer kommen aus dem vergleichsweise wohlhabenden und friedlichen Westafrika, allen voran aus Nigeria und dem Senegal. Zudem sind die Einwanderer besser gebildet als der Bevölkerungsdurchschnitt in ihren Heimatländern: 58 Prozent gingen in ihrer Heimat einer regelmäßigen Arbeit nach oder waren in einer Schulausbildung, ehe sie aufbrachen. Und ihr Verdienst war höher als im Landesdurchschnitt [...] Aus all dem leiten die Forscher einen - auch an anderer Stelle gut dokumentierten - Schluss ab: Migration ist ein Schritt, der erst durch eine ökonomische oder gesellschaftliche Verbesserung möglich wird. Steigt der Wohlstand, kommen die Menschen erst auf die Idee und erhalten die Möglichkeit, sich auf die Reise zu machen. [...] Allerdings weisen die Forscher darauf hin, dass das fast nie der einzige Grund war. Fast alle nannten zwei oder mehr Gründe. Dabei ist die Reihenfolge interessant: Das am häufigsten genannte Argument - neben dem Geld - war für 26 Prozent die schlechte Regierungsführung und die Sicherheitslage in der Heimat. [...] Daran schließt die Frage an: Was hätte sie von der beschwerlichen, teuren und gefährlichen Reise abhalten können? Vor dem Hintergrund europäischer Kampagnen zur Abschreckung von Migranten bereits vor ihrer Abreise sind dabei vor allem zwei Antworten spannend: Weder mehr Informationen über das tatsächliche Leben in Europa, noch mehr Informationen über die Gefahren der Reise hätten die Migranten abgehalten, sich auf den Weg zu machen. Vielmehr lautete auf die Frage "Was hätte Sie abhalten können?", die Antwort in den meisten Fällen: "nichts". An zweiter Stelle nannten die Befragten: "eine bessere wirtschaftlichen Lage im Heimatland". (Christoph Titz, SpiegelOnline)
Es ist immer wieder erhellend zu beobachten, wenn lang gehegte Narrative auf die Realität treffen. Weder kommen nur die Ärmsten der Armen aus Afrika, wie allgemein gerne behauptet wird, noch helfen ein harscheres Grenzregime, verstärkte Abschiebungen, gekürzte Unterstützungsgelder, das Versenken von Flüchtlingsbooten, unterlassene Hilfeleistung oder sonst irgendetwas dabei, diese Leute fernzuhalten. Alles, was diese Maßnahmen schaffen, ist das Leid zu vergrößern, nicht aber, den Fluchtdruck zu mildern. So sehr es auch dem Wunsch breiter Schichten besonders im konservativen Spektrum entspricht, dieses Leid zu verursachen - zielführend ist es nicht. Spannend finde ich vor allem den Faktor, dass es gerade steigender wirtschaftlicher Wohlstand in den Fluchtländern ist, der dort zur Flucht anregt. Das ist wiederum ein Kritikpunkt, der richtigerweise gerade aus dem konservativen Spektrum oftmals vorgebracht wurde und der auf der Linken eher ungern diskutiert wird. Das heißt nicht, dass sich die komplexen Fluchtursachen ausschließlich auf das Schlagwort "Wirtschaftsflüchtlinge" zurückführen ließen; dafür ist die Lage in den Ursprungsländern, was Sicherheit und Wahrung der Menschenrechte angeht, dann doch zu schlecht. Aber komplett beiseite lassen kann man es auch nicht. Welche Schlüsse man daraus für die konkrete Politik ziehen soll, erschließt sich mir allerdings noch nicht. Die grundlegenden Dilemmas werden dadurch ja nicht aufgelöst, und gerade die im ersten Absatz diskutierten Erkenntnisse zeigen ja, dass die Erhöhung des Leidensdrucks keinen Effekt hat. Das mittlerweile zur Phrase geronnene "Fluchtursachen bekämpfen" klingt ja nett und ist nach den obigen Werten auch der relevante Part - steigt der Wohlstand im Fluchtland, so sinkt die Fluchtrate. Nur, was folgt daraus konkret? Die Entwicklungspolitik hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ja nicht eben mit Ruhm bekleckert.

3) Tweet
Dass eine Bewegung, die sich einen solch stupiden, von rechten identity politics durchsetzten Namen wie "Fridays for Hubraum" gibt gewalttätig und radikal ist, ist glaube ich wenig überraschend. Für die Diskussion insgesamt relevant scheint mir eher der größere Punkt zu sein: Es handelt sich um eine isolierte Blase innerhalb der Sozialen Netzwerke, die sich mit großer Geschwindigkeit selbst radikalisiert. Das ist eher ein Phänomen solcher Subszenen als von Autoliebhabern. Und es scheint, ob Schwarzer Block oder Hubraumfans, jedes Mal zu einer solchen mit Gewaltphantasien durchsetzten Radikalisierung zu kommen.

4) A Million People Are Jailed at China's Gulags. I Managed to Escape. Here's What Really Goes on Inside
Twenty prisoners live in one small room. They are handcuffed, their heads shaved, every move is monitored by ceiling cameras. A bucket in the corner of the room is their toilet. The daily routine begins at 6 A.M. They are learning Chinese, memorizing propaganda songs and confessing to invented sins. They range in age from teenagers to elderly. Their meals are meager: cloudy soup and a slice of bread. Torture – metal nails, fingernails pulled out, electric shocks – takes place in the “black room.” Punishment is a constant. The prisoners are forced to take pills and get injections. It’s for disease prevention, the staff tell them, but in reality they are the human subjects of medical experiments. Many of the inmates suffer from cognitive decline. Some of the men become sterile. Women are routinely raped.Such is life in China’s reeducation camps, as reported in rare testimony provided by Sayragul Sauytbay (pronounced: Say-ra-gul Saut-bay, as in “bye”), a teacher who escaped from China and was granted asylum in Sweden. [...] The camp’s commanders set aside a room for torture, Sauytbay relates, which the inmates dubbed the “black room” because it was forbidden to talk about it explicitly. “There were all kinds of tortures there. Some prisoners were hung on the wall and beaten with electrified truncheons. There were prisoners who were made to sit on a chair of nails. I saw people return from that room covered in blood. Some came back without fingernails.” Why were people tortured? “They would punish inmates for everything. Anyone who didn’t follow the rules was punished. Those who didn’t learn Chinese properly or who didn’t sing the songs were also punished.” [...] Sauytbay says she witnessed medical procedures being carried out on inmates with no justification. She thinks it was done as part of human experiments that were carried out in the camp systematically. “The inmates would be given pills or injections. They were told it was to prevent diseases, but the nurses told me secretly that the pills were dangerous and that I should not take them.” [...] Tears stream down Sauytbay’s face when she tells the grimmest story from her time in the camp. “One day, the police told us they were going to check to see whether our reeducation was succeeding, whether we were developing properly. They took 200 inmates outside, men and women, and told one of the women to confess her sins. She stood before us and declared that she had been a bad person, but now that she had learned Chinese she had become a better person. When she was done speaking, the policemen ordered her to disrobe and simply raped her one after the other, in front of everyone. While they were raping her they checked to see how we were reacting. People who turned their head or closed their eyes, and those who looked angry or shocked, were taken away and we never saw them again. It was awful. I will never forget the feeling of helplessness, of not being able to help her. After that happened, it was hard for me to sleep at night.” (David Stavrou, Hareetz)
Die chinesische Unterdrückung der Uiguren gehört zu den größten Menschenrechtsverbrechen unserer Zeit. Es ist nicht übertrieben, von ethnischen Säuberungen zu sprechen. Der relevante Vergleich aber ist ein anderer. Ich bin sehr vorsichtig mit Holocaust-Vergleichen, sehe ihn hier aber angebracht. Nicht, weil China Vernichtungslager einrichten würde. Die Uiguren werden ja nach allem was wir wissen auch nicht planmäßig ermordet. Was allerdings den Vergleich einlädt ist die Reaktion der Weltgemeinschaft und die Position Chinas. Was meine ich damit? Wir haben seit 1945 wahrhaftig genug Völkermorde erlebt. Üblicherweise finden diese in Ländern der Dritten Welt statt, oder in Ländern, die politische Rivalen sind. Während der Westen zwar nur in den wenigsten Fällen (wie etwa Serbien) aktiv gegen Völkermord vorging (und noch seltener mit dauerhaftem Erfolg), war zumindest die rhetorische Verurteilung, die Verhängung von Sanktionen und die Isolierung des betroffenen Staates trotz aller Ineffektivität dieser Maßnahmen immer dabei. China aber ist von seiner geopolitischen Lage her durchaus mit dem nationalsozialistischen Deutschland der 1930er Jahre vergleichbar. Eine aufstrebende Macht, die massiv aufrüstet und die Balance der ganzen Region außer Kontrolle bringt, für Konflikte sorgt und zwar keine Weltmacht ist und in Punkto Wirschaftsleistung und Wohlstand den führenden Weltmächten hinterherhängt, aber wesentlich zu stark ist, als dass jemand freiwillig den Konflikt sucht. So wie man NS-Deutschland in den 1930er Jahren keinesfalls provozieren wollte, schon gar nicht wegen einer kleinen religiösen Minderheit ohne große Lobby, so will niemand einen potenziell gefährlichen, mindestens aber wirtschaftlich sehr schädlichen Streit mit China provozieren, "nur" um die merkwürdige, unbekannte religiöse Minderheit der Uiguren zu schützen - was ohnehin nicht gegen den Willen Chinas möglich wäre, so man nicht im Land einmarschieren will. Die Quadratur dieses Kreises ist unmöglich und das Kerndilemma einer wertebasierten Außenpolitik.

5) Migrant children may be adopted after parents are deported
Holes in immigration laws are allowing state court judges to grant custody of migrant children to American families without notifying their deported parents, the Associated Press reported Tuesday. The AP scoured hundreds of court documents and immigration records to reveal several cases of children being permanently, legally taken from their families after initial separations. The report focuses on the case of Alexa Ramos, who was separated from her mother, Araceli, for 15 months, to explain issues of the legal standing for children placed under the Office of Refugee Resettlement. Araceli Ramos and her daughter fled from El Salvador to the U.S. to escape from the children's abusive father and were arrested upon crossing into the country by U.S. Customs and Border Protection. Normally, running from abuse mean that Ramos would be granted asylum, but she was denied because of criminal charges against her. After months of Ramos being in detention and Alexa being in foster care, the mother was deported after being unable to get a lawyer to defend her asylum request. She says she was forced by an agent to sign a waiver to leave her daughter behind. Legally, when a parent is deported without their child, that child is not supposed to be allowed to be permanently adopted. “And the reality is that for every parent who is not located, there will be a permanent orphaned child," U.S. District Judge Dana Sabraw said in August. However, the foster family that Alexa was placed into by Bethany Christian Services, allegedly ignored repeated requests from a variety of institutions, including from the Department of Homeland Security (DHS), to return her to Araceli. When officially ordered to return Alexa to her mother in December of 2016, the foster parents, Sherri and Kory Barr, sued claiming that she would be abused if returned home. A Michigan judge granted them guardianship. (Chris Mills Rodrigo, The Hill)
Die schiere Grausamkeit und Bösartigkeit der Republicans in den USA kennt einfach keine Grenzen. Mit völligen Nazimethoden - die waren auch gut darin, verachteten Minderheiten Kinder für die Arisierung zu stehlen - werden Kinder erst von ihren Eltern getrennt und dann vom Staat als vorbildlich eingestuften Familien als Mündel anvertraut. In der evangelikalen Parallelgesellschaft der USA ist die Idee, die niedrigen Geburtenraten des "real America" durch gezielte Adoption von als formbar betrachteten Immigrantenkindern aufzupeppen. In der Trump-Regierung wird, was vorher Fiebertraum von Rechtsextremisten war, plötzlich Regierungspolitik. Es ist einfach nur widerlich.

6) The neuroscientist shattering the myth of the gendered brain
The latest science, she says, shows that brains are ‘plastic’ and develop according to experiences. “If you have an expectation of somebody, what we now know is it will change how the person views themselves, it will change the experiences the world exposes them to, like giving boys and girls different toys to play with, and it will change the attitudes that people have of those individuals. “The type of games you play will change your brain. We know that from judo and juggling to violin and keyboard playing. By definition, moving the body differently according to the demands of the skill you are acquiring will change the brain. So not playing football will have a direct effect on the brain. But making sure we are doing the right things to stay part of our social group is also an important driver. “Our brains are gathering the rules of behaviour and if those rules are gendered, then our brains will make us gendered. “It becomes a self-fulfilling prophecy. Some research may find differences, but then you say, ‘have you looked at the education level of those participants, have they been at school for the same amount of time, have you looked at the sports they play or their occupation?’ To which the answer is always ‘no’. So how do you know what you are finding is a sex difference and not an excludence difference.” The idea of the gendered brain comes from the 19th century, says Prof Rippon, and it was used to prove the superiority of ‘white, upper class men’ and justify their actions. “It started what I call ‘the hunt the difference agenda’, where the emerging brain research said here we are with the cultural and social status quo – let’s explain it in terms of our emerging understanding of our brain. “So they spent a long time twisting themselves into contortions trying to prove the female brain was inferior to the male brain. This intersected with race science as well. So whatever metric they came up with had to determine that white, upper class-educated males were at the top.” Prof Rippon would like to see something called ‘gender irrelevance’. “People talk about rearing their children gender neutral,” she says. “But I think gender irrelevance is probably the way forward where, OK, biologically you are male or female, but it does not represent the whole story and what we might do in society.” (Alex Spencer, Cambridge Independent)
Ich lasse das vor allem mal als Hinweis für die "Gender Studies sind keine Wissenschaft"- und "alle Geschlechtsunterschiede sind natürlich"-Fans da. Unsere Identitäten sind kulturell geprägt. Und diese kulturelle Prägung lässt sich ändern.

7) Dieser Mann will Trudeau ablösen
Trotzdem macht die Klimapolitik des Regierungschefs ihn auch für Angriffe von links anfällig - und gefährdet seinen Rückhalt unter jungen Wählern. "Was ist mit der Pipeline?", riefen ihm Ende September junge Teilnehmer einer Klimademo zu, bei der Trudeau mitlief. Umfragen zufolge ist die Unterstützung, die der Premier unter jungen Wählern erfährt, im Vergleich zum Wahlkampf 2015 deutlich zurückgegangen. Manche unter ihnen könnten ihre Stimme einer der Parteien links von Trudeaus Liberal Party geben: etwa den Grünen oder der New Democratic Party (NDP) mit ihrem charismatischen Chef Jagmeet Singh. Andere junge Kanadier könnten der Wahl fernbleiben. "Wenn sie nicht aufkreuzen, könnte das die Lage sehr schnell verändern", warnte Anna Gainey in der "New York Times". Die frühere Parteichefin der Liberalen gilt als eine der Architektinnen hinter Trudeaus Aufstieg. Sie weist darauf hin, dass Menschen unter 35 inzwischen die größte Wählergruppe im Land ausmachen. Die Arbeitslosigkeit in Kanada ist niedrig; die Wirtschaft wächst, wenn auch moderat. Es ist ein Verdienst der Regierung Trudeau, dass auch die Trump-Präsidentschaft daran nichts geändert hat - trotz persönlicher Attacken gegen den Premier und eines protektionistischen Wirtschaftskurses des US-Präsidenten. Das zeigt nicht zuletzt das Nafta-Nachfolgeabkommen USMCA. Auch konnte Trudeau mit der Legalisierung von Marihuana und der Aufnahme von Flüchtlingen bei der linksliberalen Basis punkten. Sein Image als progressiver Musterknabe hat im Lauf seiner ersten Amtszeit dennoch beträchtlichen Schaden genommen. Das liegt nicht nur am Pipeline-Deal, sondern auch an zwei Skandalen:
  • Eine Ethikkommission des Parlaments in Ottawa kam im August zu dem Schluss, dass Trudeau im Bestechungsfall um die Firma SNC-Lavalin versucht habe, die Ermittlungen der damaligen Justizministerin, Jody Wilson-Raybould, auf unangemessene Weise zu beeinflussen. Wilson-Raybould war die erste indigene Frau auf dem Posten. Bessere Beziehungen zu den First Nations, den Ureinwohnern Kanadas, hatten 2015 ebenso wie ein betont feministisches Profil zu den Säulen der Kandidatur Trudeaus gezählt. 
  • Im September wurde dann ein Foto aus dem Jahr 2001 öffentlich, das Trudeau auf einem Kostümball mit Turban und dunkler Gesichtsbemalung zeigt.
(Alexander Sarovic, SpiegelOnline)
Trudeau hat die Wahl mittlerweile ja gewonnen (wenngleich mit Verlusten); ich will in diesem Fall auch auf etwas völlig anderes hinaus. Was wir hier sehen können ist die größte Schwäche aller linken und progressiven Bewegungen: die ständige Neigung dazu, die eigenen Leute wegen Verstößen gegen die reine Lehre zu geißeln und entweder frustriert nicht zur Wahl zu gehen oder radikalen Alternativen zuzuneigen. Es fehlt einfach ein Verständnis für das Mögliche. War Obama aus linker Sicht ein perfekt effizienter Präsident? Sicher nicht. War er unzweifelhaft die bessere Alternative als John McCain und Mitt Romney? Natürlich! Genauso ist Trudeau seinem konservativen Kollegen vorzuziehen, Olaf Scholz Wolfang Schäuble, und so weiter. Rechte und Konservative verstehen das instinktiv. Hat Trump die Mauer gebaut? Einen Scheiß hat er, aber seinen Anhängern ist das egal. Sie wissen, dass jede Alternative für sie schlechter wäre, egal wie viel Trump tatsächlich liefert. Und so weiter. Dieser Trend auf der Linken ist zum Haare raufen. Trudeau hat eine Pipeline gebaut. Okay. Glaubt jemand ernsthaft, ein anderer kanadischer PM hätte das nicht? Trudeau hat aber auf der (für Progressive) Haben-Seite massenhaft Leistungen erbracht, die man dagegen aufrechnen kann. Wo ein GOP-Anhänger die nicht gebaute Mauer locker gegen Richterernennungen und die ständigen identity politics aufrechnen kann, sieht ein Democrat immer nur das halb leere Glas. Nichts macht die Progressiven als Regierungsparteien ineffizienter als diese Neigung.

8) The lost art of exiting a war
Why develop a strategy at all? After all, circumstances will change before the strategy gets implemented and will thus require revisions. Strategy also serves as a mechanism through which we can reasonably judge the costs and benefits. Developing an exit strategy before the war begins allows us to make a more informed decision as to the value and worthiness of actually engaging in the war in the first place. It also allows us to reasonably assess if the war can achieve its aims at all. If you’re unable to develop an acceptable exit strategy before chaos, you will most likely not find an acceptable exit strategy during chaos, and chaos doesn’t often resolve itself. Critics of exit strategies often complain about the damage done by setting exit timelines, and other public facing declarations. Articulating a strategy for the public in order to sell the costs that are about to come is very different than civilian and military leaders engaging in the strategic process and “articulating” for themselves what the plan for a war will be. We should care much less about how leaders plan to sell a war than we do about what they’re doing to actually insure a war is fought justly and decisively with as minimal destruction of life as possible. Ultimately, exit strategies should be developed before a war begins. Critics of exit strategies argue that successful interventions are about planning for the initiation of the conflict and for the likely aftermath. A lack of any contemplation about how a war plausibly ends enables war planners’ misplaced confidence about what can reasonably be achieved within the costs they’re willing to bear. (Adam Wunische, War on the Rocks)
Nachdem der Artikel zu Exit-Strategien im letzten Vermischten für viel Widerspruch gesorgt hat war ich sehr froh zu sehen, dass das auf "War on the Rocks" nicht anders war und einen Gegenartikel von Adam Wunische provoziert hat. Ich muss sagen, dass ich in beiden Artikeln viel Zustimmenswertes finde. Intellektuell ist das auf der einen Seite sehr fruchtbar, weil beide gut argumentieren und Kopfnicken auslösen, aber auf der anderen Seite habe ich jetzt beide Artikel gelesen und stehe ohne eine klare Überzeugung da. Was das Thema Exit-Strategie angeht, sehe ich mich gerade formal als "unentschlossen". Ich finde die Argumente beider Seiten gleich überzeugend. Wie geht es euch da? Wie geht ihr mit so was um?

9) Trump is recreating America's Syria dilemma — in Saudi Arabia
The discrepancy between Trump's statements and his policies is conspicuous. While he regularly speaks of ending endless wars, the president so far has done little to meaningfully apply his critique to U.S. foreign policy. But that inconsistency isn't the only problem here: Sending these troops to Saudi Arabia also sets up a new version of the dilemma we just faced with the Kurds in Syria. In each case, deployment comes with a strong suggestion that we'd fight for the partner in question. Would we really fight for Saudi Arabia? [...] That's how this deployment repeats the mistake of overcommitting U.S. support for non-treaty partners that we've seen play out with disastrous results for the Kurds this month. And the same disappointment may well follow, as the Trump administration is setting up a perverse incentive for Saudi Arabia and Iran as well as a future predicament for the United States. [...] If mutual escalation continues, however, Washington eventually will have to choose: Do we follow through on the pledge to fight for Saudi Arabia, becoming embroiled in a major new conflict? Or do we disentangle from the region's squabbles, declining to wage war at Saudi behest after years of suggesting we would do exactly that? Neither option is good, but both can be avoided by changing course now. Saudi Arabia is unworthy of unconditional U.S. support. Like the Kurds, it is not a treaty ally of the United States — nor should it be, as its government is a brutal dictatorship well known to contribute to regional chaos, most visibly at present through its U.S.-enabled war in Yemen. Unlike the Kurds, it is a wealthy state perfectly capable of handling its own defense. Rather than deploying more American forces to protect an oppressive regime that has no obligation to do the same for us, Trump should finally make good on his many promises to bring U.S. soldiers home. (Bonnie Kristian, The Week)
Diese Entwicklung verkörpert die Grundtendenz von Trumps Außenpolitik: Grundsätzlich richtige Instinkte und null Kompetenz. Sollten die USA ihre Präsenz im Mittleren Osten reduzieren? Unbedingt. Aber im Resultat wird dann der wertvolle Verbündete der Kurden aufgegeben und stattdessen einem diktatorischen Menschenrechtsverbrecher wie dem Haus Saud ein Freifahrtschein gegeben. Genauso: Ist es sinnvoll, China mehr als Rivalen denn als Partner zu begreifen? Ziemlich sicher. Ist dafür die Brechstange des Trump'schen Handelskriegs das beste Mittel? Zweifelhaft. Und so weiter. Das bestmögliche Szenario ist vermutlich, dass die außenpolitischen Spielräume, die Trump mit seinem Elefant-im-Porzellanladen-artigen Abräumen bisheriger Tabus im sicherheitspolitischen Establishment der USA eröffnet hat, von einem zukünftigen Präsidenten auf professioneller Basis genutzt werden können. Das, was dieser Mann fabriziert, ist ein blankes Irrlichtern.

10) How one Alabama city could split in half along racial lines
The Davises bought the house for about $400,000 in 2006. She now fears it may take a $100,000 price cut to find a buyer. [...] Today Davis is open to a new, seemingly radical alternative: Splitting the City of Anniston in half and leaving its troubled school district and conflict-ridden government behind. The secession would largely track racial lines. [...] De-annexation, says Councilman David Reddick, is about the fears of some white residents that they may soon lose control. Reddick, who is mixed race, thinks blacks will win a city council majority or even the mayor’s office in the next election. [...] The schools are simply better in the next town over, says Davis. Few families would choose Anniston, she said. [...] Turner says separating about half of the roughly 22,000 population of Anniston and forming a new city, with better schools, would mean a jump in home values. “It seemed to me that all we had to do was just realign ourselves as far as political jurisdiction and that value would be back in the market,” he said. [...] Anniston is split roughly in half demographically, with a slightly higher black population, but its public schools are 95 percent black. [...] Proponents of Annexit say the areas proposed for de-annexation make up more than a third of the city’s property tax revenue base. The city did not immediately provide the corresponding data by district. But the prospect of bankruptcy resulting from lost tax revenue from the wealthier neighborhoods of Anniston doesn’t scare Ray. “Blacks been bankrupt for years. You ain’t never done anything for the black community, so how am I going to get hurt if the city goes bankrupt?” said Ray. (Sarah Whites-Kodischek, Alabama.com)
Dieser Artikel ist gleich aus zwei Gründen irre. Grund eins ist schlichtweg der Inhalt. Im amerikanischen Süden werden Gemeinden segregiert, als ob Plessy v Ferguson (seperate but equal, wir erinnern uns) immer noch gültig wäre. Der Subtext der ganzen Formulierungen ist so offensichtlich Code, dass er eigentlich schon Text ist. "Better schools" ist ein Synonym für "white schools". Die Sorge um die Grundstückswerte ist direkt an das Vorhandensein von Schwarzen gekoppelt. Und so weiter. Es ist krassester Rassismus als Regierungspolitik in genau den Staaten, in denen das schon immer ein massives Problem war. Im Jahr 2019. Irre ist aber auch, wie die Seite selbst die Geschichte framed (framet? framt?). Die Frage von Segregation vs. Integration wird in bester Tradition des Bothsiderismus als gleichwertige Debatte zweier völlig gleichberechtigter Positionen geführt. Wollen wir die Schwarzen abtrennen und in einem Ghetto versauern lassen? Manche sagen so, andere anders. Wer wöllte da ein Urteil fällen? Dieses Totalversagen der Medien bei solchen Themen steht zu großen Teilen hinter den Beharrungskräften für diesen Dreck.

11) Who is Pete Buttigieg running for?
Another cynical politician talking out of both sides of his mouth. To quote a certain upjumped municipal official, "this is why people here in the Midwest are so frustrated with Washington[.]" So what happened to the bright-eyed young mayor — a guy who seemed like the face of an upcoming generation of progressive leaders? I have a theory: Buttigieg started taking tons and tons of money from the ultra-rich. He's been doing mega-fundraisers with the top 1 percent, gladhanding billionaires from coast to coast — especially in Silicon Valley and from Big Medical. Indeed, his campaign recently shamefacedly announced that one Steve Patton was dropping out of co-hosting a big-dollar fundraiser on account of being the Chicago city attorney who helped then-Mayor Rahm Emanuel cover up the shooting of Laquan McDonald. Whoops. [...] It's not difficult to see why American plutocrats might find a young, ideologically malleable guy who evinces a great desire to become rich and powerful and keep that revolving door a'spinning to their taste. But it's hard to see why any Democratic voters would. (Ryan Cooper, The Week)
Der Kandidat Pete Buttigieg ist aus den oben genannten Gründen tatsächlich interessant. Er wird massiv von den Gruppen unterstützt, die Großspenden an Kandidaten der Democrats leisten. Das waren in den letzten Zyklen Clinton und Obama. Wir haben dieses Mal zum ersten Mal die Situation, dass diese Leute und Interessen mehr als je zuvor von den Prozessen ausgeschlossen werden. 2016 war es Sanders, der sich diesen Geldquellen verschloss; dieses Mal sind es Sanders und Warren, die zusammen je nach Umfragenlage 40-50% der Stimmen auf sich vereinen. Mein Eindruck ist, dass Buttigieg viel von diesem Geld auf sich ziehen wird, in der Hoffnung, im Zweifel Joe Biden zu beerben, aber dass die Kohle ultimativ in einer Art schwarzem Loch verschwinden wird. Buttigieg scheint mir mehr im Wahlkampf zu bleiben, um sich als Vizepräsident oder Minister zu empfehlen, weniger, um zu gewinnen (erneut, außer im Fall einer Implosion Bidens). Aber es ist ersichtlich, dass die Idee eines ideologisch unbestimmten und äußeren Einflüssen gegenüber völlig offenen Kandidaten der feuchte Traum dieser finanziellen Interessen ist. Wenig verwunderlich, dass diese immer mehr zur GOP abwandern.

Freitag, 18. Oktober 2019

Viktorianische Engländer lügen im Internet über antisemitische Quotenregelungen - Vermischtes 18.05.2019

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) When are Exit Strategies viable?
Articulating an exit strategy before operations begin often causes more harm than good. At best, it is a political tool for selling a war in advance; at worst, it creates unrealistic expectations and adversely influences the strategic calculations of all warring factions. Missed deadlines can erode public support at home and timetables can create perverse incentives for opponents to keep fighting in order to better position themselves for when the clock expires. This complicates America’s ability to achieve its goals, and paradoxically makes it that much harder to come home in the future. The downsides of exit strategies are perhaps most obvious in interventions that lead to counterinsurgency campaigns like Iraq and Afghanistan, but the same lessons apply to more traditional conventional wars and peacekeeping or humanitarian operations. The open-ended presence in South Korea runs counter to preset exit strategies, and interventions like the ones in Bosnia and Kosovo are less effective if the number-one priority is getting out as soon as possible. More recently, Libya’s continued instability lays bare the risk of intervening when there is no appetite for a prolonged presence. Besides, any prebaked exit strategy will quickly become obsolete. Things will undoubtedly change after a military intervention commences, and strategies that are based on outdated information or original goals will not work. Conditions change, goals evolve, and political objectives shift. Departures need to properly assess the realities on the ground, including the military balance and capabilities of remaining actors, as this will shape both the pace of withdrawal and determine the best — or least-bad — option available for minimizing future dangers to American interests. (David Kampf, War on the Rocks)
Das sind interessante Gedanken, finde ich. In der Diskussion zu Auslandseinsätzen ist die Betonung von Exit-Strategien besonders in der amerikanischen Debatte auffällig. Ich konnte nie wirklich artikulieren, was mich daran mit einem leichtem Unwohlsein zurückließ, bis ich den Artikel von David Kampf gelesen habe. Besonders der politische Aspekt - dass Exit-Strategien vor allem der Legitimation des Einsatzes dienen sollen - scheint mir hervorzuhebenswert. Die Idee ist allzu häufig, dass man schnell rein und wieder rausgeht, mit minimalen Verlusten - quasi die "Weihnachten sind wir wieder zuhause"-Variante des frühen 21. Jahrhunderts. Aber dieses Versprechen ist aus vier Gründen problematisch. Einmal ist, wie Kampf richtig hervorhebt, schwer zu sagen, wie sich der Konflikt überhaupt entwickeln wird. Zweitens ist es ein bescheuertes Signal an den Gegner, eine Zeitgrenze zu setzen, die er nur abwarten muss ehe er per default gewinnt. Drittens verleitet es dazu, grobe Keile zu setzen, um das Ziel mit Brachialgewalt zu erreichen ("Sie machten eine Wüste und nannten es Frieden"). Und viertens sind die Ziele, für die man ostentativ in Auslandseinsätze zielt (vor allem Friedenssicherung) eigentlich nur langfristig erreichbar. Die Konsequenz daraus muss sein: Wenn ein Land sich für einen Auslandseinsatz entschließt, dessen Ziel nicht tatsächlich problemlos absehbar ist (und das ist selten der Fall), muss es sich darüber im Klaren sein, dass es ein Einsatz mit offenem Ende ist. Wenn das Land dazu nicht nicht bereit ist, sollte es den Einsatz erst gar nicht durchführen, weil dann entweder ein vorzeitiger Rückzug stattfindet und so mehr Schaden als Nutzen angerichtet wird, oder man sich in einem weiteren "forever war" verstrickt, von dem wir gerade wahrlich genügend haben.

2) Joe Biden: The only conservative running for president
All of this makes Biden a conservative — not in an ideological sense, but in a temperamental one. His instincts are to resist intense partisanship, to appeal to the American people as a whole, to place his trust in institutions, to seek common ground and strike deals with his opponents, and to defer to public opinion while also balancing it with  other, higher considerations. [...] That's because this is a populist moment in American politics (and in politics throughout much of the democratic world) — and populism is profoundly unconservative. Instead of opposing demagoguery, populism weaponizes it. Instead of seeking to cool passions, populism seeks to intensify them for political gain. Instead of deferring to established norms and institutions, populism targets them for abuse because they stymie the popular will. Instead of working to defuse polarization, populism seeks to magnify it. Instead of working to build a broad-based, cross-partisan consensus in favor of the common good, populism treats electoral opponents as enemies of "the people." There are many reasons why Biden is struggling to maintain his early lead in the race, including his advanced age and difficulty holding his own in debates with his fellow Democrats. But the biggest reason of all may be that he is a temperamental conservative at a time when that kind of conservatism has fallen out of favor almost everywhere. (Damon Linker, The Week)
Es ist wenig verwunderlich, dass Linker zu einer solchen Charakterisierung Bidens kommt. Der Mann war Vizepräsident von Barack Obama, und es ist wenig überraschend, dass dieser sich einen Stellvertreter suchte, der seine eigene Mentalität teilte. Es ist eine der großen Tragiken von Obamas Amtszeiten, dass so weite Teile der Öffentlichkeit diese Mentalität nie verstanden oder wahrhaben wollten. Und dies auch heute nicht tun, wie man in den Diskussionen hier im Blog immer wieder sehen kann. Ironischerweise haben sowohl Obamas als auch Bidens linke Kritiker das immer sehr gut verstanden. Vermutlich hatten sie bereits 2009 recht, als Obama den Republicans noch permanent die Hand zur überparteilichen Zusammenarbeit und dem Kompromiss ausstreckte. Er trieb das bis weit über die Grenze der Weisheit hinaus, als er noch 2013 glaubte, sie für so etwas gewinnen zu können. Wer allerdings im Jahr 2019 noch glaubt, auch nur einen Blumentopf auf diese Art gewinnen zu können, hat den Schuss nicht gehört. Die Republicans haben die Tür längst zugeschlagen. Der Riegel liegt, um im Bilde zu bleiben, auf der Innenseite. Es ist daher nicht an den Democrats, sie wieder zu öffnen. Das kann die GOP nur alleine tun. Aber die Wahl eines Moderaten wie Biden wird dazu von sich aus nichts tun, egal wie sehr er das seinem Publikum einzureden versucht.

3) "Der Halle-Täter war eingebettet in größere Netzwerke" (Interview mit Julia Ebner)
Können Sie beschreiben, wie die Mitglieder ihre Community selbst wahrnehmen? Als Schicksalsgemeinschaft, als Imageboard-Community, als Kameradschaft, als Volk? Es gibt da keine einheitliche Wahrnehmung. Da sind Leute, die das Spielerische der Trollkultur oder Gaming-Szene faszinierend finden, aber auch überzeugte Ideologen, die mit politisch Gleichgesinnten reden wollen. Viele sprechen von Kameradschaft oder sogar Freundschaft und man merkt, dass sich die meisten Anerkennung, Applaus oder Zustimmung von der Community, also ihren "fellow anons", erarbeiten wollen. [...] Welche Rolle spielen die großen Plattformen wie YouTube und Facebook? Kann man sie wie Vorfeldorganisationen des Rechtsextremismus verstehen, die Menschen mit weniger extremen Inhalten in die Szene ziehen sollen? Ja, die Indoktrinierung findet auf kleineren Plattformen und in Gruppen statt, die eher abgeschottet werden. Auf Seiten wie YouTube und Facebook versuchen die Rechtsextremen, bekannter zu werden, die Politik zu beeinflussen und neue Mitglieder zu werben. Die werden "Normies" genannt, Normalmenschen, die noch nicht die Wahrheit erkannt haben – die noch nicht die "red pill" geschluckt haben. [...] Wie kommt es dann trotzdem immer wieder zu Terroranschlägen? Die Radikalisierung hin zur Gewaltbereitschaft ist ein Nebenprodukt dieser Strategie, das macht sie so gefährlich. Viele Rechtsextreme glauben an einen unvermeidlichen Rassen-, Kultur- und Religionskrieg. Einige Untergruppen gehen weiter und wollen den Ausbruch eines Bürgerkriegs mit Terroranschlägen beschleunigen. Vor allem, wenn Mitglieder den Glauben an politische und metapolitische Mittel aufgeben, können die Ideologien schnell zu einer erhöhten Gewaltbereitschaft führen. (Jonas Schaible/Johannes Bebermeier, T-Online)
Man muss sehr vorsichtig sein, Täter wie in Halle in eine Ecke mit den Neonazi-Glatzen zu stellen, die durch ostdeutsche Straßen ziehen. Zwar teilen sie durchaus einige verquere Ideen der Springerstiefel-Fraktion, aber sie kommen aus völlig anderen Milieus und haben mit den Neonazis klassischer Prägung recht wenig Gemeinsamkeiten. Eines der größten Potenziale zur Radikalisierung dieser Subgruppe ist das angesprochene Trolling. Es handelt sich um gezielte Provokation, und es liegt in der Natur der Sache, dass diese sich beständig steigern muss. Aber dazu in näherer Zukunft ein eigener Artikel. Hier genügt der Hinweis auf das Interview.

4) Tweet
Plasberg war noch nie ein sonderlich ansprechender Zeitgenosse, aber dieser völlige Aussetzer ist die logische Konsequenz eines völlig überdrehten wie unreflektierten Bothsiderismus, ein logischer Eskalationspunkt von "mit Rechten reden". Genau davor warne ich permanent: Die Normalisierung rechtsradikaler Talking-Points. Wo irgendwann Antisemitismus als Pro-Contra-Debatte aufgemacht wird, ständig mit dem Verweis, dass die andere Seite (also Nicht-Antisemiten) ja mit ihrem Absolutheitsanspruch auch nicht richtig liegen könnten und das ständige Positionieren zwischen zwei Polen das Maß aller Dinge ist, muss der demokratische Konsens zusammenbrechen. Es gibt einfach Themen, bei denen der Mittelweg den Tod bringt und eine Positionierung unabdingbar ist. Leute wie Plasberg wollen aber den einfachsten und bequemsten Weg gehen. Hart ist daran gar nichts, und fair noch weniger.

5) Gender quotas and the crisis of the mediocre man
Subdividing the men into leaders and followers reveals another interesting finding; there is clear evidence of a reduction in the proportion of male leaders (those at the top of the ballot) with mediocre competence. This suggests that quotas work in part by shifting incentives in the composing party ballots. Mediocre leaders are either kicked out or resign in the wake of more gender parity. Because new leaders – on average – are more competent, they feel less threatened by selecting more able candidates, which starts a virtuous circle of higher competence.While we have focused on politics, the results may also be relevant for judging gender quotas in other organisations. Quotas for company boards currently exist in roughly ten countries and are on the agenda of various countries, as well as in the European Union. Arguably, analysing the impacts of board quotas is more complex than for politics. The policies often have long implementation periods as well as “pre-announced” plans or warnings. There are also ways around the rules, such as delisting from the stock market. These factors make it difficult to identify who precisely is affected by the change and who to compare them with. Nevertheless, some lessons from political parties could still apply. Many firms have a history of male-dominated leadership and are sometimes accused of having “locker-room” mentalities and cosy selection rules. These reinforce the selection of men, and leaders may feel comfortable being surrounded by non-threatening mediocrity. Just as in politics, therefore, a quota has the potential to undercut the dominance of a mediocre elite. (Tim Besley/Olle Folke/Torsten Persson/Johanna Rickne, LSE Business Review)
Spannend, da mal eine empirische Untersuchung dazu zu sehen. Das Ergebnis ist gleichzeitig überraschend und nicht überraschend. Letztlich sind Quoten eine Art der Regulierung, und wie jede neue Regulierung setzen sie neue Wettbewerbsanreize und Druck. Das ist nichts generisch Positives oder Negatives; logischerweise kann nicht jede Quote von sich aus qualitätsfördernd wirken. Aber in Umgebungen, in denen strukturelle Diskriminierung besteht - etwa wegen der Idee, dass Frauen normalerweise einfach andere Karrieren wie Erzieherin wählen - entsteht auf eine komplette Führungshierarchie plötzlich ein Rechtfertigungsdruck, der vorher nicht vorhanden war. Und die Notwendigkeit, die eigene Position zu beweisen beziehungsweise den eigenen Wert unter Beweis zu stellen, führt zu besseren Ergebnissen. Es ist auch gut zu sehen, dass die häufig geäußerte Befürchtung, die Qualität nehme ab, nicht zutrifft, sondern vielmehr das Gegenteil wahr ist. Die Quote bringt sehr gute Leute nach oben. Es macht daher Sinn, auch über andere Quotenregelungen nachzudenken. Vor allem eine Migrationshintergrundquote wird ja immer wieder diskutiert und etwa bei der SPD ja auch  schon eingeführt.

But watching a full presidential Trump press conference while visiting the US this week I realised how much the reporting of Trump necessarily edits and parses his words, to force it into sequential paragraphs or impose meaning where it is difficult to detect. [...] In writing about this not-especially-important or unusual press conference I’ve run into what US reporters must encounter every day. I’ve edited skittering, half-finished sentences to present them in some kind of consequential order and repeated remarks that made little sense. In most circumstances, presenting information in as intelligible a form as possible is what we are trained for. But the shock I felt hearing half an hour of unfiltered meanderings from the president of the United States made me wonder whether the editing does our readers a disservice. I’ve read so many stories about his bluster and boasting and ill-founded attacks, I’ve listened to speeches and hours of analysis, and yet I was still taken back by just how disjointed and meandering the unedited president could sound. Here he was trying to land the message that he had delivered at least something towards one of his biggest campaign promises and sounding like a construction manager with some long-winded and badly improvised sales lines. I’d understood the dilemma of normalising Trump’s ideas and policies – the racism, misogyny and demonisation of the free press. But watching just one press conference from Otay Mesa helped me understand how the process of reporting about this president can mask and normalise his full and alarming incoherence. (Lenore Taylor, The Guardian)
Ich halte es für grundsätzlich eine richtige Einstellung von Journalisten, grundlegenden good faith zu beweisen und erst einmal die bestmögliche Interpretation einer Politikeräußerung zu nutzen. Das Aus-dem-Kontext-Reißen von scheinbar skandalträchtigen Versprechern oder Satzbaufehlern (Man denke nur an "you didn't build that") ist uper ätzend und blockiert die Debatte mit komplettem Unfug.
Nur sehen wir im Falle Trumps jetzt schon seit drei Jahren, dass der Mann offenkundig keine Ahnung hat, von was er redet, und reine Assoziationsbrücken baut. Da seine geistige Gesundheit ebenfalls immer wieder im Mittelpunkt der Diskussion stand, mag das wörtliche Wiedergeben seiner Zitate durchaus zum Erkenntnisgewinn beitragen, wo sie etwa bei Mitch McConnell oder Paul Ryan wenig verraten hätten, was nicht durch eine sinngemäße Wiedergabe des Gesagten nicht auch hätte erreicht werden können. Trump ist eine solche Kategorie für sich selbst, dass es komplett eigene Regeln braucht, und wir sind nach mittlerweile vier Jahren (wenn man die primaries mitrechnet) nicht näher dran als zu Beginn.

7) ‘Sovereignty Doesn’t Exist in a Globalized World’: An Interview with Guy Verhofstadt
Maybe the Leave campaign was right, maybe the liberal EU is the product of yesterday? Well, I’m more euroskeptic than the euroskeptics! There are so many things that don’t work properly in the EU. The only difference is my conclusion: I want to reinvent the union, not destroy it. The EU might become yesterday’s news—because we didn’t have the guts to reform it. How to reform it then? In a world dominated by civilizations, not nation-states, like China, India, and the US, Europe will mean something only if it acts together. This union has no chance to survive without reforms. [...] But doesn’t he want a French Europe, a Europe that is a projection of French power? That’s old-style French thinking about Europe, characteristic of former French presidents. “We are pro-European, as long as France leads Europe.” That’s not the thinking of Macron. There’s a whole generation of politicians who believe that if we want to solve problems, we need a reformed Europe. Listen, it’s a Philadelphia moment. American readers will know exactly what I mean. We are a loose confederation based on unanimity, which needs to be turned into a federation, based on decisions taken by majority. [...] Are member states ready to renounce their sovereignty? Well, their sovereignty doesn’t exist in a globalized world. Sovereignty means that you can decide your own path. European states on their own are not able to do that. There’s only European sovereignty, if any. Only then can we decide on the European way of life. (Michal Matlak, New York Review of Books)
Guy Verhofstadt ist mir als ALDE-Abgeordneter zwar politisch etwas fern, aber ich fühle seine Positionen zu Europa völlig nach. Das Interview ist in seiner Gänze lesenswert; ich habe hier nur einige wichtige Punkte angerissen. Was mir vor allem imponiert ist seine Synthese von liberaler Kritik am Nicht-Funktionieren bestehender Institutionen mit der Übernahme der Verantwortung, hier auch Lösungen und Lösungswillen anzubieten. Gerade die FDP ergeht sich viel zu oft darin, zwar die Kritik zu äußern (oft genug durchaus berechtigt), aber das Korsett ideologischer Staatsfeindlichkeit nicht zu verlassen und deswegen nicht Teil des Lösung sein zu können, sondern ultimativ Teil des Problems zu bleiben. Das ständige Benennen eines Missstands, gepaart mit der beharrlichen Weigerung, ihn aufzuheben, kann aber nicht liberal sein. Es ist nur destruktiv.

8) Were the Victorians really happier than we are?
As any history undergraduate can tell you, the first task for historians is to analyse the biases in our sources and the context in which they were made. Books and newspapers can tell us an enormous amount about the values, opinions and worldviews of the people who produced them – predominantly male, middle- and upper-class publishers and writers, who wrote for a predominantly middle- and upper-class audience. If we listen to their words, we will hear much more about their confidence and optimism than we will about how the working classes felt about urban overcrowding, slum housing, child employment, unemployment, factory conditions, workhouses, domestic service, infant mortality, cholera or typhoid – let alone the feelings of British “subjects” under colonial rule abroad. It is possible that in an age where emotional expression was ruled by the stiff-upper-lip, people simply “muddled through” or “got on with it,” and that ordinary men and women “knew their place” and accepted their lot as an unavoidable fact of life – though there are a wealth of sources, from Victorian enquires into urban poverty to working-class autobiographies, that tell a very different story. But the point is that books and newspapers give us an uneven account of history, and need to be read alongside an awareness of who historically had access to literacy and publication. And we need to read them critically, by taking into account the purposes for which they were written. (Hannah Rose Woods, The New Statesman)
Als Historiker nervt mich nichts so sehr wie der "früher war alles besser"-Reflex, den so viele Leute haben. Ganz besonders nervig ist er, wenn er auf Zeiten projiziert wird, die so lange in der Vergangenheit liegen wie das viktorianische Zeitalter. Ich glaube sofort, dass man als männliches Mitglied der Upper-Class damals mehr Zufriedenheit in dem Sinne genoss, als dass die eigene Stellung in der Gesellschaft wesentlich hervorgehobener war als heute. Aber wie Woods in ihrem Artikel völlig zurecht herausarbeitet, ist dieses "goldene Zeitalter" eigentlich immer nur zu haben, indem man viele strukturell diskriminierte Gruppen ausklammert. Das sieht man auch in Deutschland, wo die Wirtschaftswunderzeit gerne als das verlorene Goldene Zeitalter herhalten muss. Das funktioniert natürlich nur, wenn man ignoriert, dass eine riesige Unterschicht von Gastarbeitern völlig isoliert und weitgehend entrechtet die ungeliebten niederen Tätigkeiten erledigt hat, dass Frauen nicht die gleichen Rechte hatten wie Männer oder dass Homosexuelle ins Gefängnis gesteckt und misshandelt wurden. Da lösen sich diese goldenen Zeitalter dann immer ganz schnell auf, aber das erfordert mehr Introspektive, als es den Nostalgikern oftmals recht ist. Übrigens ist das kein Phänomen von Rechts oder Links; auch Linke sind sehr gut darin, irgendwelche sozialdemokratischen Paradiese von früher (man denke nur an die New-Deal-Folklore) zu beschwören und darüber die Schattenseiten zu vergessen.

9) Wie das Netz den Faschismus befeuert
Der Attentäter von Halle hat neben einem livegestreamten Videoclip eine Art Manifest veröffentlicht, in Kombination sind die wirksamen Elemente von Diagnose, Prognose und Motivation erkennbar. Wenn man die Videos und Manifeste der anderen Täter abgleicht, ergibt sich ein mögliches Muster, nämlich eine unheilige Dreifaltigkeit der Radikalisierung im Netz:
Vor allem mithilfe von rassistischen Verschwörungstheorien wie dem "großen Austausch" wird die Selbstviktimisierung betrieben, die Konstruktion einer Welt, in der man sich als Opfer fühlt. Dieses Opfer-Gefühl erlaubt, noch die blutrünstigsten Taten als diejenige Form von Gewalt zu betrachten, die von den meisten Menschen als legitim betrachtet wird: Notwehr. Die Opferpose ist die Vorbereitung von Gewalt. Alle drei Elemente der unheiligen Dreifaltigkeit der Manifesterzählungen lassen sich in drei Sätzen kondensieren: Der "weiße Mann" in Europa solle durch Schwarze und Muslime ersetzt werden, weil diese leichter beherrschbar seien. Feminismus bringe Frauen dazu, sich nicht mehr als Gebärmaschinen für weiße Kinder zu begreifen. Gesteuert werde das alles von den Juden. Quer durch das Netz lassen sich verschiedene Kombinationen dieser Verschwörungserzählung beobachten. (Sascha Lobo, SpiegelOnline)
Lobo ist da definitiv etwas auf der Spur. Ich schreibe gerade an einem Artikel, der in eine ähnliche Richtung geht. Das Ganze passt gut zu Fundstück 3. Ich habe da auf Twitter einen Thread zum Thema Anschlag in Halle dazu geschrieben gehabt: Horst Seehofer lag tatsächlich nicht falsch damit, die Gamerszene ins Visier nehmen zu wollen. Aber an dieser Stelle erst einmal genug dazu; lest Lobos Artikel, es lohnt sich. Meiner kommt hoffentlich auch bald.

10) Tweet
Ein weiterer Bereich, wo durch Trump eine völlig neue Kategorie entstanden ist (siehe auch Fundstück 6) ist dieses Verkünden offensichtlichen Blödsinns im Brustton der Überzeugung. Vor Trump logen Politiker nicht derart offenkundig, und, vor allem, nicht in dieser Intensität. Wie geht man mit solchen Aussagen um? Entweder Don Jr. ist das dümmste Stück Mensch, das je über diesen Erdball ging (nicht auszuschließen) oder er sagt solche Dinge im vollständigen Bewusstsein, dass es kompletter Quatsch ist und für ihn ja ihn viel höherem Maße gilt. Zu Teilen ist dieses offenkundige Lügen eine beliebte Strategie von Autokraten; man kennt das etwa aus "1984" und geistesverwandten Diktaturen, weil sie die Anhänger zwingen, offen völligen Unsinn zu bekennen. Man bindet sie so an sich. Das mag für die Dynamiken im kultischen Anhängerlager der Trump-Fans ja durchaus gelten, aber die Medien sind nicht gezwungen, diesen Bullshit mitzumachen. Etwas ähnliches auf Policy-Ebene statt mit diesem persönlichen Blödsinn erleben wir aktuell in der Syrienkrise, wo Trump verkündet, dass amerikanische Truppen aus der Region abgezogen werden, obwohl in Wahrheit welche HIN verlegt werden. Man weiß nicht einmal, ob er bewusst lügt oder einfach nur nicht weiß, was da in seinem Zuständigkeitsbereich abläuft. Aber auch hier haben, siehe erneut Fundstück 6, die Medien und die Gesellschaft bisher keine Antwort darauf gefunden, wie damit umzugehen ist.