Freitag, 18. Oktober 2019

Viktorianische Engländer lügen im Internet über antisemitische Quotenregelungen - Vermischtes 18.05.2019

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) When are Exit Strategies viable?
Articulating an exit strategy before operations begin often causes more harm than good. At best, it is a political tool for selling a war in advance; at worst, it creates unrealistic expectations and adversely influences the strategic calculations of all warring factions. Missed deadlines can erode public support at home and timetables can create perverse incentives for opponents to keep fighting in order to better position themselves for when the clock expires. This complicates America’s ability to achieve its goals, and paradoxically makes it that much harder to come home in the future. The downsides of exit strategies are perhaps most obvious in interventions that lead to counterinsurgency campaigns like Iraq and Afghanistan, but the same lessons apply to more traditional conventional wars and peacekeeping or humanitarian operations. The open-ended presence in South Korea runs counter to preset exit strategies, and interventions like the ones in Bosnia and Kosovo are less effective if the number-one priority is getting out as soon as possible. More recently, Libya’s continued instability lays bare the risk of intervening when there is no appetite for a prolonged presence. Besides, any prebaked exit strategy will quickly become obsolete. Things will undoubtedly change after a military intervention commences, and strategies that are based on outdated information or original goals will not work. Conditions change, goals evolve, and political objectives shift. Departures need to properly assess the realities on the ground, including the military balance and capabilities of remaining actors, as this will shape both the pace of withdrawal and determine the best — or least-bad — option available for minimizing future dangers to American interests. (David Kampf, War on the Rocks)
Das sind interessante Gedanken, finde ich. In der Diskussion zu Auslandseinsätzen ist die Betonung von Exit-Strategien besonders in der amerikanischen Debatte auffällig. Ich konnte nie wirklich artikulieren, was mich daran mit einem leichtem Unwohlsein zurückließ, bis ich den Artikel von David Kampf gelesen habe. Besonders der politische Aspekt - dass Exit-Strategien vor allem der Legitimation des Einsatzes dienen sollen - scheint mir hervorzuhebenswert. Die Idee ist allzu häufig, dass man schnell rein und wieder rausgeht, mit minimalen Verlusten - quasi die "Weihnachten sind wir wieder zuhause"-Variante des frühen 21. Jahrhunderts. Aber dieses Versprechen ist aus vier Gründen problematisch. Einmal ist, wie Kampf richtig hervorhebt, schwer zu sagen, wie sich der Konflikt überhaupt entwickeln wird. Zweitens ist es ein bescheuertes Signal an den Gegner, eine Zeitgrenze zu setzen, die er nur abwarten muss ehe er per default gewinnt. Drittens verleitet es dazu, grobe Keile zu setzen, um das Ziel mit Brachialgewalt zu erreichen ("Sie machten eine Wüste und nannten es Frieden"). Und viertens sind die Ziele, für die man ostentativ in Auslandseinsätze zielt (vor allem Friedenssicherung) eigentlich nur langfristig erreichbar. Die Konsequenz daraus muss sein: Wenn ein Land sich für einen Auslandseinsatz entschließt, dessen Ziel nicht tatsächlich problemlos absehbar ist (und das ist selten der Fall), muss es sich darüber im Klaren sein, dass es ein Einsatz mit offenem Ende ist. Wenn das Land dazu nicht nicht bereit ist, sollte es den Einsatz erst gar nicht durchführen, weil dann entweder ein vorzeitiger Rückzug stattfindet und so mehr Schaden als Nutzen angerichtet wird, oder man sich in einem weiteren "forever war" verstrickt, von dem wir gerade wahrlich genügend haben.

2) Joe Biden: The only conservative running for president
All of this makes Biden a conservative — not in an ideological sense, but in a temperamental one. His instincts are to resist intense partisanship, to appeal to the American people as a whole, to place his trust in institutions, to seek common ground and strike deals with his opponents, and to defer to public opinion while also balancing it with  other, higher considerations. [...] That's because this is a populist moment in American politics (and in politics throughout much of the democratic world) — and populism is profoundly unconservative. Instead of opposing demagoguery, populism weaponizes it. Instead of seeking to cool passions, populism seeks to intensify them for political gain. Instead of deferring to established norms and institutions, populism targets them for abuse because they stymie the popular will. Instead of working to defuse polarization, populism seeks to magnify it. Instead of working to build a broad-based, cross-partisan consensus in favor of the common good, populism treats electoral opponents as enemies of "the people." There are many reasons why Biden is struggling to maintain his early lead in the race, including his advanced age and difficulty holding his own in debates with his fellow Democrats. But the biggest reason of all may be that he is a temperamental conservative at a time when that kind of conservatism has fallen out of favor almost everywhere. (Damon Linker, The Week)
Es ist wenig verwunderlich, dass Linker zu einer solchen Charakterisierung Bidens kommt. Der Mann war Vizepräsident von Barack Obama, und es ist wenig überraschend, dass dieser sich einen Stellvertreter suchte, der seine eigene Mentalität teilte. Es ist eine der großen Tragiken von Obamas Amtszeiten, dass so weite Teile der Öffentlichkeit diese Mentalität nie verstanden oder wahrhaben wollten. Und dies auch heute nicht tun, wie man in den Diskussionen hier im Blog immer wieder sehen kann. Ironischerweise haben sowohl Obamas als auch Bidens linke Kritiker das immer sehr gut verstanden. Vermutlich hatten sie bereits 2009 recht, als Obama den Republicans noch permanent die Hand zur überparteilichen Zusammenarbeit und dem Kompromiss ausstreckte. Er trieb das bis weit über die Grenze der Weisheit hinaus, als er noch 2013 glaubte, sie für so etwas gewinnen zu können. Wer allerdings im Jahr 2019 noch glaubt, auch nur einen Blumentopf auf diese Art gewinnen zu können, hat den Schuss nicht gehört. Die Republicans haben die Tür längst zugeschlagen. Der Riegel liegt, um im Bilde zu bleiben, auf der Innenseite. Es ist daher nicht an den Democrats, sie wieder zu öffnen. Das kann die GOP nur alleine tun. Aber die Wahl eines Moderaten wie Biden wird dazu von sich aus nichts tun, egal wie sehr er das seinem Publikum einzureden versucht.

3) "Der Halle-Täter war eingebettet in größere Netzwerke" (Interview mit Julia Ebner)
Können Sie beschreiben, wie die Mitglieder ihre Community selbst wahrnehmen? Als Schicksalsgemeinschaft, als Imageboard-Community, als Kameradschaft, als Volk? Es gibt da keine einheitliche Wahrnehmung. Da sind Leute, die das Spielerische der Trollkultur oder Gaming-Szene faszinierend finden, aber auch überzeugte Ideologen, die mit politisch Gleichgesinnten reden wollen. Viele sprechen von Kameradschaft oder sogar Freundschaft und man merkt, dass sich die meisten Anerkennung, Applaus oder Zustimmung von der Community, also ihren "fellow anons", erarbeiten wollen. [...] Welche Rolle spielen die großen Plattformen wie YouTube und Facebook? Kann man sie wie Vorfeldorganisationen des Rechtsextremismus verstehen, die Menschen mit weniger extremen Inhalten in die Szene ziehen sollen? Ja, die Indoktrinierung findet auf kleineren Plattformen und in Gruppen statt, die eher abgeschottet werden. Auf Seiten wie YouTube und Facebook versuchen die Rechtsextremen, bekannter zu werden, die Politik zu beeinflussen und neue Mitglieder zu werben. Die werden "Normies" genannt, Normalmenschen, die noch nicht die Wahrheit erkannt haben – die noch nicht die "red pill" geschluckt haben. [...] Wie kommt es dann trotzdem immer wieder zu Terroranschlägen? Die Radikalisierung hin zur Gewaltbereitschaft ist ein Nebenprodukt dieser Strategie, das macht sie so gefährlich. Viele Rechtsextreme glauben an einen unvermeidlichen Rassen-, Kultur- und Religionskrieg. Einige Untergruppen gehen weiter und wollen den Ausbruch eines Bürgerkriegs mit Terroranschlägen beschleunigen. Vor allem, wenn Mitglieder den Glauben an politische und metapolitische Mittel aufgeben, können die Ideologien schnell zu einer erhöhten Gewaltbereitschaft führen. (Jonas Schaible/Johannes Bebermeier, T-Online)
Man muss sehr vorsichtig sein, Täter wie in Halle in eine Ecke mit den Neonazi-Glatzen zu stellen, die durch ostdeutsche Straßen ziehen. Zwar teilen sie durchaus einige verquere Ideen der Springerstiefel-Fraktion, aber sie kommen aus völlig anderen Milieus und haben mit den Neonazis klassischer Prägung recht wenig Gemeinsamkeiten. Eines der größten Potenziale zur Radikalisierung dieser Subgruppe ist das angesprochene Trolling. Es handelt sich um gezielte Provokation, und es liegt in der Natur der Sache, dass diese sich beständig steigern muss. Aber dazu in näherer Zukunft ein eigener Artikel. Hier genügt der Hinweis auf das Interview.

4) Tweet
Plasberg war noch nie ein sonderlich ansprechender Zeitgenosse, aber dieser völlige Aussetzer ist die logische Konsequenz eines völlig überdrehten wie unreflektierten Bothsiderismus, ein logischer Eskalationspunkt von "mit Rechten reden". Genau davor warne ich permanent: Die Normalisierung rechtsradikaler Talking-Points. Wo irgendwann Antisemitismus als Pro-Contra-Debatte aufgemacht wird, ständig mit dem Verweis, dass die andere Seite (also Nicht-Antisemiten) ja mit ihrem Absolutheitsanspruch auch nicht richtig liegen könnten und das ständige Positionieren zwischen zwei Polen das Maß aller Dinge ist, muss der demokratische Konsens zusammenbrechen. Es gibt einfach Themen, bei denen der Mittelweg den Tod bringt und eine Positionierung unabdingbar ist. Leute wie Plasberg wollen aber den einfachsten und bequemsten Weg gehen. Hart ist daran gar nichts, und fair noch weniger.

5) Gender quotas and the crisis of the mediocre man
Subdividing the men into leaders and followers reveals another interesting finding; there is clear evidence of a reduction in the proportion of male leaders (those at the top of the ballot) with mediocre competence. This suggests that quotas work in part by shifting incentives in the composing party ballots. Mediocre leaders are either kicked out or resign in the wake of more gender parity. Because new leaders – on average – are more competent, they feel less threatened by selecting more able candidates, which starts a virtuous circle of higher competence.While we have focused on politics, the results may also be relevant for judging gender quotas in other organisations. Quotas for company boards currently exist in roughly ten countries and are on the agenda of various countries, as well as in the European Union. Arguably, analysing the impacts of board quotas is more complex than for politics. The policies often have long implementation periods as well as “pre-announced” plans or warnings. There are also ways around the rules, such as delisting from the stock market. These factors make it difficult to identify who precisely is affected by the change and who to compare them with. Nevertheless, some lessons from political parties could still apply. Many firms have a history of male-dominated leadership and are sometimes accused of having “locker-room” mentalities and cosy selection rules. These reinforce the selection of men, and leaders may feel comfortable being surrounded by non-threatening mediocrity. Just as in politics, therefore, a quota has the potential to undercut the dominance of a mediocre elite. (Tim Besley/Olle Folke/Torsten Persson/Johanna Rickne, LSE Business Review)
Spannend, da mal eine empirische Untersuchung dazu zu sehen. Das Ergebnis ist gleichzeitig überraschend und nicht überraschend. Letztlich sind Quoten eine Art der Regulierung, und wie jede neue Regulierung setzen sie neue Wettbewerbsanreize und Druck. Das ist nichts generisch Positives oder Negatives; logischerweise kann nicht jede Quote von sich aus qualitätsfördernd wirken. Aber in Umgebungen, in denen strukturelle Diskriminierung besteht - etwa wegen der Idee, dass Frauen normalerweise einfach andere Karrieren wie Erzieherin wählen - entsteht auf eine komplette Führungshierarchie plötzlich ein Rechtfertigungsdruck, der vorher nicht vorhanden war. Und die Notwendigkeit, die eigene Position zu beweisen beziehungsweise den eigenen Wert unter Beweis zu stellen, führt zu besseren Ergebnissen. Es ist auch gut zu sehen, dass die häufig geäußerte Befürchtung, die Qualität nehme ab, nicht zutrifft, sondern vielmehr das Gegenteil wahr ist. Die Quote bringt sehr gute Leute nach oben. Es macht daher Sinn, auch über andere Quotenregelungen nachzudenken. Vor allem eine Migrationshintergrundquote wird ja immer wieder diskutiert und etwa bei der SPD ja auch  schon eingeführt.

But watching a full presidential Trump press conference while visiting the US this week I realised how much the reporting of Trump necessarily edits and parses his words, to force it into sequential paragraphs or impose meaning where it is difficult to detect. [...] In writing about this not-especially-important or unusual press conference I’ve run into what US reporters must encounter every day. I’ve edited skittering, half-finished sentences to present them in some kind of consequential order and repeated remarks that made little sense. In most circumstances, presenting information in as intelligible a form as possible is what we are trained for. But the shock I felt hearing half an hour of unfiltered meanderings from the president of the United States made me wonder whether the editing does our readers a disservice. I’ve read so many stories about his bluster and boasting and ill-founded attacks, I’ve listened to speeches and hours of analysis, and yet I was still taken back by just how disjointed and meandering the unedited president could sound. Here he was trying to land the message that he had delivered at least something towards one of his biggest campaign promises and sounding like a construction manager with some long-winded and badly improvised sales lines. I’d understood the dilemma of normalising Trump’s ideas and policies – the racism, misogyny and demonisation of the free press. But watching just one press conference from Otay Mesa helped me understand how the process of reporting about this president can mask and normalise his full and alarming incoherence. (Lenore Taylor, The Guardian)
Ich halte es für grundsätzlich eine richtige Einstellung von Journalisten, grundlegenden good faith zu beweisen und erst einmal die bestmögliche Interpretation einer Politikeräußerung zu nutzen. Das Aus-dem-Kontext-Reißen von scheinbar skandalträchtigen Versprechern oder Satzbaufehlern (Man denke nur an "you didn't build that") ist uper ätzend und blockiert die Debatte mit komplettem Unfug.
Nur sehen wir im Falle Trumps jetzt schon seit drei Jahren, dass der Mann offenkundig keine Ahnung hat, von was er redet, und reine Assoziationsbrücken baut. Da seine geistige Gesundheit ebenfalls immer wieder im Mittelpunkt der Diskussion stand, mag das wörtliche Wiedergeben seiner Zitate durchaus zum Erkenntnisgewinn beitragen, wo sie etwa bei Mitch McConnell oder Paul Ryan wenig verraten hätten, was nicht durch eine sinngemäße Wiedergabe des Gesagten nicht auch hätte erreicht werden können. Trump ist eine solche Kategorie für sich selbst, dass es komplett eigene Regeln braucht, und wir sind nach mittlerweile vier Jahren (wenn man die primaries mitrechnet) nicht näher dran als zu Beginn.

7) ‘Sovereignty Doesn’t Exist in a Globalized World’: An Interview with Guy Verhofstadt
Maybe the Leave campaign was right, maybe the liberal EU is the product of yesterday? Well, I’m more euroskeptic than the euroskeptics! There are so many things that don’t work properly in the EU. The only difference is my conclusion: I want to reinvent the union, not destroy it. The EU might become yesterday’s news—because we didn’t have the guts to reform it. How to reform it then? In a world dominated by civilizations, not nation-states, like China, India, and the US, Europe will mean something only if it acts together. This union has no chance to survive without reforms. [...] But doesn’t he want a French Europe, a Europe that is a projection of French power? That’s old-style French thinking about Europe, characteristic of former French presidents. “We are pro-European, as long as France leads Europe.” That’s not the thinking of Macron. There’s a whole generation of politicians who believe that if we want to solve problems, we need a reformed Europe. Listen, it’s a Philadelphia moment. American readers will know exactly what I mean. We are a loose confederation based on unanimity, which needs to be turned into a federation, based on decisions taken by majority. [...] Are member states ready to renounce their sovereignty? Well, their sovereignty doesn’t exist in a globalized world. Sovereignty means that you can decide your own path. European states on their own are not able to do that. There’s only European sovereignty, if any. Only then can we decide on the European way of life. (Michal Matlak, New York Review of Books)
Guy Verhofstadt ist mir als ALDE-Abgeordneter zwar politisch etwas fern, aber ich fühle seine Positionen zu Europa völlig nach. Das Interview ist in seiner Gänze lesenswert; ich habe hier nur einige wichtige Punkte angerissen. Was mir vor allem imponiert ist seine Synthese von liberaler Kritik am Nicht-Funktionieren bestehender Institutionen mit der Übernahme der Verantwortung, hier auch Lösungen und Lösungswillen anzubieten. Gerade die FDP ergeht sich viel zu oft darin, zwar die Kritik zu äußern (oft genug durchaus berechtigt), aber das Korsett ideologischer Staatsfeindlichkeit nicht zu verlassen und deswegen nicht Teil des Lösung sein zu können, sondern ultimativ Teil des Problems zu bleiben. Das ständige Benennen eines Missstands, gepaart mit der beharrlichen Weigerung, ihn aufzuheben, kann aber nicht liberal sein. Es ist nur destruktiv.

8) Were the Victorians really happier than we are?
As any history undergraduate can tell you, the first task for historians is to analyse the biases in our sources and the context in which they were made. Books and newspapers can tell us an enormous amount about the values, opinions and worldviews of the people who produced them – predominantly male, middle- and upper-class publishers and writers, who wrote for a predominantly middle- and upper-class audience. If we listen to their words, we will hear much more about their confidence and optimism than we will about how the working classes felt about urban overcrowding, slum housing, child employment, unemployment, factory conditions, workhouses, domestic service, infant mortality, cholera or typhoid – let alone the feelings of British “subjects” under colonial rule abroad. It is possible that in an age where emotional expression was ruled by the stiff-upper-lip, people simply “muddled through” or “got on with it,” and that ordinary men and women “knew their place” and accepted their lot as an unavoidable fact of life – though there are a wealth of sources, from Victorian enquires into urban poverty to working-class autobiographies, that tell a very different story. But the point is that books and newspapers give us an uneven account of history, and need to be read alongside an awareness of who historically had access to literacy and publication. And we need to read them critically, by taking into account the purposes for which they were written. (Hannah Rose Woods, The New Statesman)
Als Historiker nervt mich nichts so sehr wie der "früher war alles besser"-Reflex, den so viele Leute haben. Ganz besonders nervig ist er, wenn er auf Zeiten projiziert wird, die so lange in der Vergangenheit liegen wie das viktorianische Zeitalter. Ich glaube sofort, dass man als männliches Mitglied der Upper-Class damals mehr Zufriedenheit in dem Sinne genoss, als dass die eigene Stellung in der Gesellschaft wesentlich hervorgehobener war als heute. Aber wie Woods in ihrem Artikel völlig zurecht herausarbeitet, ist dieses "goldene Zeitalter" eigentlich immer nur zu haben, indem man viele strukturell diskriminierte Gruppen ausklammert. Das sieht man auch in Deutschland, wo die Wirtschaftswunderzeit gerne als das verlorene Goldene Zeitalter herhalten muss. Das funktioniert natürlich nur, wenn man ignoriert, dass eine riesige Unterschicht von Gastarbeitern völlig isoliert und weitgehend entrechtet die ungeliebten niederen Tätigkeiten erledigt hat, dass Frauen nicht die gleichen Rechte hatten wie Männer oder dass Homosexuelle ins Gefängnis gesteckt und misshandelt wurden. Da lösen sich diese goldenen Zeitalter dann immer ganz schnell auf, aber das erfordert mehr Introspektive, als es den Nostalgikern oftmals recht ist. Übrigens ist das kein Phänomen von Rechts oder Links; auch Linke sind sehr gut darin, irgendwelche sozialdemokratischen Paradiese von früher (man denke nur an die New-Deal-Folklore) zu beschwören und darüber die Schattenseiten zu vergessen.

9) Wie das Netz den Faschismus befeuert
Der Attentäter von Halle hat neben einem livegestreamten Videoclip eine Art Manifest veröffentlicht, in Kombination sind die wirksamen Elemente von Diagnose, Prognose und Motivation erkennbar. Wenn man die Videos und Manifeste der anderen Täter abgleicht, ergibt sich ein mögliches Muster, nämlich eine unheilige Dreifaltigkeit der Radikalisierung im Netz:
Vor allem mithilfe von rassistischen Verschwörungstheorien wie dem "großen Austausch" wird die Selbstviktimisierung betrieben, die Konstruktion einer Welt, in der man sich als Opfer fühlt. Dieses Opfer-Gefühl erlaubt, noch die blutrünstigsten Taten als diejenige Form von Gewalt zu betrachten, die von den meisten Menschen als legitim betrachtet wird: Notwehr. Die Opferpose ist die Vorbereitung von Gewalt. Alle drei Elemente der unheiligen Dreifaltigkeit der Manifesterzählungen lassen sich in drei Sätzen kondensieren: Der "weiße Mann" in Europa solle durch Schwarze und Muslime ersetzt werden, weil diese leichter beherrschbar seien. Feminismus bringe Frauen dazu, sich nicht mehr als Gebärmaschinen für weiße Kinder zu begreifen. Gesteuert werde das alles von den Juden. Quer durch das Netz lassen sich verschiedene Kombinationen dieser Verschwörungserzählung beobachten. (Sascha Lobo, SpiegelOnline)
Lobo ist da definitiv etwas auf der Spur. Ich schreibe gerade an einem Artikel, der in eine ähnliche Richtung geht. Das Ganze passt gut zu Fundstück 3. Ich habe da auf Twitter einen Thread zum Thema Anschlag in Halle dazu geschrieben gehabt: Horst Seehofer lag tatsächlich nicht falsch damit, die Gamerszene ins Visier nehmen zu wollen. Aber an dieser Stelle erst einmal genug dazu; lest Lobos Artikel, es lohnt sich. Meiner kommt hoffentlich auch bald.

10) Tweet
Ein weiterer Bereich, wo durch Trump eine völlig neue Kategorie entstanden ist (siehe auch Fundstück 6) ist dieses Verkünden offensichtlichen Blödsinns im Brustton der Überzeugung. Vor Trump logen Politiker nicht derart offenkundig, und, vor allem, nicht in dieser Intensität. Wie geht man mit solchen Aussagen um? Entweder Don Jr. ist das dümmste Stück Mensch, das je über diesen Erdball ging (nicht auszuschließen) oder er sagt solche Dinge im vollständigen Bewusstsein, dass es kompletter Quatsch ist und für ihn ja ihn viel höherem Maße gilt. Zu Teilen ist dieses offenkundige Lügen eine beliebte Strategie von Autokraten; man kennt das etwa aus "1984" und geistesverwandten Diktaturen, weil sie die Anhänger zwingen, offen völligen Unsinn zu bekennen. Man bindet sie so an sich. Das mag für die Dynamiken im kultischen Anhängerlager der Trump-Fans ja durchaus gelten, aber die Medien sind nicht gezwungen, diesen Bullshit mitzumachen. Etwas ähnliches auf Policy-Ebene statt mit diesem persönlichen Blödsinn erleben wir aktuell in der Syrienkrise, wo Trump verkündet, dass amerikanische Truppen aus der Region abgezogen werden, obwohl in Wahrheit welche HIN verlegt werden. Man weiß nicht einmal, ob er bewusst lügt oder einfach nur nicht weiß, was da in seinem Zuständigkeitsbereich abläuft. Aber auch hier haben, siehe erneut Fundstück 6, die Medien und die Gesellschaft bisher keine Antwort darauf gefunden, wie damit umzugehen ist.  

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