Sonntag, 13. Oktober 2019

Lindner arbeitet täglich kürzer mit Zuckerberg und Thunberg - Vermischtes 13.10.2019

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Feierabend um 15 Uhr? Der Abschied vom Acht-Stunden-Tag
Seit Henry Ford hat sich an unserer Arbeitszeit wenig geändert. Der Autopionier führte 1914 die 40-Stunden-Woche in seinem Unternehmen ein. Auch wenn er den Acht-Stunden-Tag nicht erfand, so verkörperte er einen der einflussreichsten Fabrikanten, die die neue Arbeitszeitrechnung damals implementierten. Hundert Jahre später gehört das Modell in vielen Ländern zum Alltag: Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Leben, acht Stunden Schlaf. Aber warum arbeiten wir überhaupt acht Stunden? Und nicht neun oder vier oder sechs? Dass Bücher wie „Die Vier-Stunden-Woche“ heute die Bestseller-Listen stürmen, weist darauf hin, dass das Thema die Arbeitswelt beschäftigt. Viele Arbeitnehmer sind unzufrieden mit ihrer Stundenzahl, je nach Untersuchung zehn bis 50 Prozent. Besonders lange Arbeitszeiten stellen sich als problematisch dar: Je länger jemand an seinem Schreibtisch sitzt oder am Fließband steht, desto stärker steigen der Stress und die Müdigkeit. Das reduziere die Produktivität und erhöhe das Risiko für Fehler, Unfälle und Krankheit, heißt es in einer Studie der Stanford University und des Instituts zur Zukunft der Arbeit. Für Beschäftigte ab 40 Jahren stellt sich gar die Frage, ob der Acht-Stunden-Tag überhaupt altersgerecht ist. Denn wer in diesem Alter mehr als 25 Stunden in der Woche arbeitet, dessen kognitive Fähigkeiten nehmen ab. Aber Teilzeit bedeutet bisher: weniger Arbeit, weniger Geld. (Lisa Hegemann, t3n)
Eine Gemeinsamkeit aller Wirtschaftsordnungen, egal ob planwirtschaftlich oder kapitalistisch, ist die Vergötterung der Anwesenheit. Je länger jemand im Betrieb ist, desto produktiver muss er wohl sein. Dieser Kult trieb ja vor allem bei den Investmentbankern und Unternehmensberater merkwürdige Blüten, die bis hin zum Tod von völlig überarbeiteten Leuten führten. Aber selbst bei den niedersten Jobs findet sich die Idee, dass man durch acht Stunden am Tag - oder wie viel es auch immer ist - die zentrale Messung stattfindet. Dabei ist das völliger Blödsinn. Ich habe in diversen Betrieben gearbeitet, in denen die Schicht bei gleicher Arbeitsleistung hätte um eine Stunde verringert werden können. Aber da allen eintrainiert ist, dass Anwesenheit gleich Arbeitszeit, Anwesenheit gleich Produktivität ist, wird stattdessen oft genug Zeit abgesessen. Das wird ja von Anfang an eintrainiert. Schon in der Schule takten wir alles in 45-Minuten-Einheiten. Aber eine Reform dieser Struktur ist schwer möglich. Es ist uns seit Generationen eingeimpft, die ganze Gesellschaft ist danach organisiert. Das kann ja nicht einfach an einer Stelle durch Individualhandlung aufgebrochen werden. Wir organisieren ja auch unsere Freizeit, unsere sozialen Beziehungen nach diesen Mustern. Man sieht ja an der sozialen Isolation bei Arbeitslosen, wie sehr das ein Problem ist, da rauszufallen. Ich bin da ehrlich gesagt unsicher, wie das aufzudröseln ist.

2) Die Dramatik wird wegmoderiert

Was neuerdings als vermeintlich antiliberaler "Verzicht" abgewertet wird, ist das, was früher einmal "Wahl" hieß und Grundelement jeder liberalen Erzählung war. Wir können wählen, wie wir leben wollen, wir können mitbestimmen, welche Art der Landwirtschaft, welche Form der Mobilität wir als Gesellschaft wollen, wir können mitbestimmen, ob und wie wir teilen und umverteilen wollen, wir können mitverhandeln, was für uns ein freies, solidarisches und gerechtes Leben bedeutet, im lokalen und im globalen Kontext. Und ja, es lässt sich auch autonom entscheiden, etwas nicht zu wollen. Bewusster Dissens kann so Ausdruck von Freiheit sein wie unbewusste Affirmation von Entfremdung. Vielleicht erklärt das die Paralyse der Liberalen der Gegenwart: dass ihnen in Fridays for Future vorgeführt wird, was ein anspruchsvoller Begriff von Freiheit, von dem man sich selbst schon längst verabschiedet hat, bedeuten könnte. Die Freiheit ist bei den Liberalen zum leeren Signifikanten geworden, der zwar noch zitiert wird, aber nicht mehr gefüllt mit Substanz. Wer keinen Begriff des Politischen mehr hat, der nicht vom Ökonomischen durchzogen ist, wer keinen kollektiven Gestaltungswillen mehr hat, weil das schon zu viel der Regulierung bedeutet und nur noch "Technikoffenheit" vor sich herträgt, der macht sich trostlos überflüssig. (Carolin Emcke, Süddeutsche Zeitung) 
Ich sage schon seit Längerem, dass die Grünen effektiv eine liberale Partei sind. Und sie füllen diese Rolle wesentlich produktiver aus als die FDP. Ich sehe zwar die Erneuerung Christian Lindners durchaus, aber in der Praxis bleibt von deren Theorie bisher nur recht wenig übrig. Es ist mehr Face-Lifting als ernsthafte Erneuerung. Wir haben ja hier im Blog mittlerweile mehrfach durchdekliniert, wie eingeschränkt auch der Freiheitsbegriff der klassischen Liberalen ist. Daher ist gerade die Spannung, Reibung und Zusammenarbeit zwischen FDP und Grünen eigentlich die interessanteste Schnittstelle im aktuellen parteipolitischen System. Da verwundern die Ausflüge Lindners an den rechten Rand um so mehr, dieses Kokettieren mit dem Außenstehen und der Fundamentalopposition. 

3) Will Democrats Come to Their Census?
But while we all have a chance to make a difference in 2020 and the decade to follow, there remain some structural barriers to the census that will continue to hold some individuals back from participation.  For one, completing a census questionnaire engenders as much excitement as doing one’s taxes. It simply won’t make it onto the to-do list of people with busy lives. Even more problematic, some populations face a language hurdle in completing the census. Undocumented immigrants bear legitimate concerns about making themselves vulnerable to deportation, given the aggressive ICE tactics embraced under the Trump administration. Others harbor fears about what the government will do with their highly personal information. Some of these barriers, however, can be mitigated in 2020, when the census can be completed online for the first time ever. Now that the census will be more convenient to complete, the main objective for advocates will be to assuage concerns about confidentiality and educate the public about the potential and direct benefits their participation could have on their own communities. But after a tumultuous three years—and a widespread sense for ordinary people that they are impotent in the face of Trump’s rule—the 2020 census might be just what Americans need: a shot at controlling their own destinies by counting themselves in. That may not be as exciting as getting rid of Trump, but it still is pretty darn sexy. (Julie Robin Zedrak, Washington Monthly)
Die Republicans benutzten die Volkszählung schon 2010 als politische Waffe und schicken sich an, das für 2020 ebenso zu tun, indem sie die ihnen im Schnitt weniger gewogene Bevölkerung von der politischen Repräsentanz auszuschließen versuchen. Das ist nur ein Teil der großen republikanischen Offensive, so viele Stimmen wie möglich aus dem politischen Prozess auszugrenzen. Die unter dem Stichwort "voter suppression" zusammengefassten Maßnahmen beinhalten auch das Aufheben von Wahlberechtigungen (die das zeit- und geldintensive Neu-Registrieren erforderlich machen) und das massive Erschweren des Wählvorgangs selbst, sei es durch das Errichten bürokratischer Hürden, sei es durch die Schließung von Wahllkokalen in Bezirken des Gegners oder durch das Verweigern des Ausstattens derselben. Wenn in den USA jede Stimme gleich gewichtet werden würde, wären die Republicans genau jene Minderheitenpartei, die sie de facto auch sind. Einzig Wählerunterdrückung erlaubt ihnen, an der Macht zu bleiben - was sie ja auch mehr oder minder offen zugeben. 

4) Breaking Up Facebook? This is Getting Real
Long before Facebook bought Instagram or WhatsApp, Zuckerberg spied on startups that he viewed as emerging threats. He bought them when he could and copied their features when he couldn’t. And if any gained traction, he generally cut off their access to Facebook’s platform. [...] The combination of deals gave Google complete control over most aspects of the ad market. The company has leveraged that control of the ad ecosystem to push other businesses to use its advertising technology at every step. [...] The internet giants are fighting back, and they have all retained former DOJ and FTC lawyers and economists. In the past, Google and other tech giants have been successful at hiring those who had been through the revolving doors, and almost all the top people representing Facebook, Google, and Amazon today are negotiating with their former colleagues. [...] The tech giants have long relied on the Consumer Welfare standard that has become the basis of modern antitrust. They have argued that antitrust enforcement is unnecessary because their services are free and they don’t raise prices. Congress, though, is having second thoughts. “When there is no longer a free market or competition, this increases prices, even when something is marketed as free, and harms consumers,” said Florida Attorney General Ashley Moody, a Republican. “Is something really free if we are increasingly giving over our privacy information? Is something really free if online ad prices go up based on one company’s control?” (Jonathan Tepper, The American Conservative) 
Es ist spannend dass diese Aufrufe zum Aufbrechen von Megakonzernen nicht aus der Linken kommen, sondern von der Rechten. Auch hier dürfte Trump mit seinen Tabubrüchen dafür gesorgt haben, dass plötzlich Dinge diskutiert werden, die vor 2016 völlig undenkbar gewesen wären. Es hilft natürlich, dass die GOP ohnehin kein gutes Verhältnis zu den Silicon-Valley-Riesen hat, aber Facebooks aktuelle Zuwendung an Trump im Speziellen und die GOP im Allgemeinen macht diese Beziehung umso interessanter. Wenn es eine ernstzunehmende konservative Strömung gäbe, die die Zerschlagung von Monopolen fordert, und dazu die Sanders-/Warren-Fraktion den inner-demokratischen Machtkampf gewinnt, könnte sich in der Wirtschaftspolitik etwas Fundamentales ändern. Und zwar etwas, das jedem Fan der freien Marktwirtschaft gefallen sollte.

5) Der Sturm, vor dem wir euch gewarnt haben
In einem Statement kurz nach dem Angriff sprach die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer von einem "Alarmzeichen". Aber das ist kein Alarm, das ist die Katastrophe. Alarmzeichen waren es, als halbe Schweinehälften vor die Synagogen geschmissen wurden, Menschen auf der Straße angepöbelt oder ein Politiker von einem Vogelschiss sprach. Das hier ist der Sturm, vor dem wir euch gewarnt haben. Und wir, das sind die, die seit Jahren die Gefahr rechter Angriffe unterstreichen, die den NSU, die Ermordung von Walter Lübcke, den Aufstieg der AfD, die Hetzjagd von Chemnitz und die brennenden Asylunterkünfte als Zeichen deuteten. An dieser Stelle zeigt sich einmal mehr diese deutscheste aller Weigerungen, anzuerkennen, dass es sich bei rechten Morden wie denen in Halle zwar um den Angriff eines einzelnen Mannes handeln mag, aber nicht um einen Einzeltäter. Allein, weil der Terrorist eine Helmkamera trug, den Anschlag also für ein reales Publikum ins Internet übermittelte. Nazismus und Hass auf Andere, der mühelos den Schritt vom Wahlkreuz zur Vernichtung geht, gehört zu diesem Land. Anderes lässt sich aus der Geschichte bis heute - bis Halle - schwerlich lernen. [...] Die Reaktion auf Halle muss selbstverständlich mehr sein als Betroffenheit. Sie braucht konkrete Vorstellungen davon, was sich verändern muss, damit sich so etwas nicht wiederholt. Das manifestiert sich auch in einer Einsicht, die unter ostdeutschen Juden und Jüdinnen vielleicht verbreiteter gewesen ist als unter westdeutschen: Dass es nach der Shoah nicht genügt, ein paar Sicherheitskameras und dicke Türen bereitzustellen, damit die Dinge sich nicht wiederholen. Sondern, dass es einer anderen Gesellschaft bedarf. Die Einsicht, dass Antifaschismus und Antirassismus Teil sein muss der Staatsräson nach 1945, dass also links und rechts keineswegs gleich weit entfernt sind von der bürgerlichen, post-nationalsozialistischen Mitte, ist heute nicht die herrschende politischen Einstellung. Sie sollte es aber sein. Denn wenn dieses Land 2019 nicht auf einem antifaschistischen Konsens basiert - dann weiß ich auch nicht, worauf. (Max Czollek, SpiegelOnline)
Ich habe das hier schon zigmal thematisiert. Vielleicht reicht ja dieser Terroranschlag endlich, um die Relativierer der rechten Gefahr aufzurütteln. Die Rede AKKs von einem "Alarmzeichen" ist blanker Hohn. Unsereins gibt bereits seit Jahren Alarmzeichen. Alarmzeichen geschehen überall um uns herum, die ganze Zeit. Stattdessen wird einem Hetzer wie Hans-Georg Maaßen auf der Titelseite der ZEIT Raum gegeben, seinen Unrat zu verbreiten und quasi eine Pro-Contra-Debatte rechter Gewalt aufzumachen. Es wäre wirklich, wirklich an der Zeit, dass das demokratisch-rechte Spektrum endlich mal seinen eigenen Saustall aufräumt. Stattdessen kriegen wir Statements wie die von Matthias Döpfner, der lieber dumpf darüber orakelt, ob Merkel nicht doch heimlich irgendwie Flüchtlingsgewalt ermöglicht. Statt ihren Sauhaufen aufzuräumen, sulen sich die selbstradikalisierenden Bürgerlichen lieber darin. Und dann werfen sie entsetzt die Hände in die Luft, wenn Terroristen Synagogen zusammenschießen, und überlegen fieberhaft, wie sie dafür Ausländer und Linke verantwortlich machen können. Echt ekelhaft.

6) Leugnen ist zwecklos
Wenn der Weltklimarat übrigens mitteilt, dass etwas schneller passiert als erwartet, dann ist das wirklich ein Grund zur Sorge: Es zeigt nämlich, dass die Wissenschaftler bislang genau das Gegenteil von dem tun, was ihnen die Abwiegler gerne vorwerfen: Panik schüren oder einen "Hype" befeuern. Die IPCC-Prognosen und -Projektionen sind in der Regel sehr vorsichtig und konservativ. Das hat zur Folge, dass immer wieder Dinge schneller passieren als erwartet. Erinnern Sie sich noch, dass jetzt auch der Permafrostboden in der Arktis auftaut, 70 Jahre früher, als der IPCC das erwartet hatte? [...] Viele Kommentatoren in Deutschland und anderswo aber finden ein anderes Thema viel dringlicher: Das eigentliche Problem ist demnach Greta Thunberg. [...] Das deutsche Magazin "Cicero" fragte in einem bemerkenswert herablassenden Text, ob Thunberg das Klima nicht "vergifte". Die "Welt" nannte sie - auf der Titelseite - eine "Populistin", warf ihr "emotionale Eskalation" vor und brachte all das geschmackssicher mit dem "Ende der Pubertät" in Zusammenhang. Der weiterhin ohne Parteiamt für die CDU schwadronierende Friedrich Merz, dessen Vorstellung von "Leitkultur" offenbar elementare Höflichkeitsregeln ausspart, nannte Thunberg "krank". Er beklagte, kein Witz, die Regierungskoalition sei "durch Greta Thunberg und den Uno-Weltklimagipfel unter einen enormen Zeitdruck geraten". Durch das "kranke Mädchen", wohlgemerkt, nicht durch die drohende Klimakatastrophe. [...] Nikolaus Blome, stellvertretender Chefredakteur der "Bild"-Zeitung, fragte auf Twitter, wo denn die "Stimme der Vernunft" sei, die mit "ähnlicher Wucht" wie Thunberg eine "Gegenrede" halte. Die Frage ist: Was würde diese "Stimme der Vernunft" wohl sagen? Würde sie in männlich-rationalem Tonfall raten, Immobilien in Küstennähe lieber schnell zu verkaufen? Würde sie empfehlen, entlang der europäischen Außengrenzen einen vier Meter hohen Elektrozaun zu errichten, damit der fertig ist, wenn die Klimaflüchtlinge kommen? Würde sie vorschlagen, sicherheitshalber in Gold zu investieren? Eine Klimaanlage einbauen zu lassen, um die kommenden Hitzesommer besser zu überstehen? Würde sie sagen: "Seid vernünftig, solange ich noch am Leben bin, wird das noch nicht so schlimm, also lassen wir doch erst mal alles so, wie es ist?" (Christian Stöcker, SpiegelOnline)
Ich sage es immer wieder: Der Kern, mit dem die bürgerlichen Leitmedien nicht klarkommen und weswegen sie so um das Phänomen Thunberg herumeiern, ist die Gretchenfrage unserer Zeit: Sag, wie hälts du's mit der Klimakrise? Konkret: Ist die Klimakrise eine existenzielle Bedrohung oder ist sie es nicht? Diese Leute wollen den Kuchen gleichzeitig essen und behalten: Unbedingt auf der richtigen Seite stehen, aber bitte gleichzeitig auch alles behalten, wie es jetzt ist und weiter Recht haben. Deswegen verfallen sie in ihre alten Muster und reden permanent von "Vernunft", wo die einzig vernünftige Reaktion in Panik besteht. Das Problem ist nur, dass sobald diese kognitive Dissonanz in den Redaktionsräumen von ZEIT, FAZ, Welt und Co aufgelöst wird, nur zwei Möglichkeiten bestehen. Entweder man tritt ebenfalls für die Vermeidung der Klimakrise ein, mit allen Konsequenzen, die das hat, oder man wechselt ins Lager Klimawandelleugner. In den USA ist diese Sortierung längst passiert, mit der Konsequenz, dass 40% des Landes willentlich in den Abgrund rennen, nur um ihre Meinung nicht ändern zu müssen. Die genannten Blätter und die ihnen verbundenen Schichten stehen vor einer ähnlichen Entscheidung. Ich bin sehr pessimistisch, wie sie sich entscheiden werden.

7) Why the right’s usual smears don’t work on Greta Thunberg
That almost always involves attacking the messengers (“Al Gore has a big house”) and their proposed solutions (“the Green New Deal will take away your hamburgers”). The scientists are after grant money; the activists are undercover socialists; the leaders are hypocrites; the marchers litter. Casting doubt on the motives and authenticity of people fighting for progressive causes is the right’s primary political tool, with efforts now led out of the White House. [...] Thunberg has sidestepped attacks on her motives by almost entirely refraining from endorsing specific political reforms or policies. “I can’t really speak up about things like [politics],” she told Wallace-Wells, “no one would take me seriously.” [...] In ignoring social cues, Thunberg has become one: A signal to other young people around the world that, yes, this really is an emergency, and yes, they really can and should speak up. [...] So far, Thunberg has played her game expertly — mostly by being almost entirely oblivious to the other games being played around her — and I hope she does this as long as possible. I hope she continues to refrain from policy recommendations, live a low-carbon life, and drag the spotlight back to science. She has pulled off something like a political miracle, and I don’t want it to end any more than anybody else. (David Roberts, vox.com)
Ich habe darauf in meinem eigenen Artikel zum Thema schon hingewiesen, aber Thunberg ist sicherlich klug in ihrer Entscheidung, keinerlei spezifischen Vorschläge zu machen, sondern einfach nur die volle Kraft des wissenschaftlichen Konsens' wirken zu lassen, um ein Gefühl der Notwendigkeit des Handelns zu schaffen. Auch der Punkt mit dem "ignoring of social cues" funktioniert wegen ihrer Identität. Wie ich beschrieben habe, verkörpert sie kindliche Unschuld. Sie kann es sich leisten, die rechten Hetzer einfach abblitzen zu lassen, ohne dass das die üblichen Rückkopplungseffekte von Erwachsenen hat.

8) Forschen für den Plas­tik­würfel. In illi­be­ralen Staaten entsteht gegen­wärtig eine wissen­schaft­liche Schein­welt
In den letzten zehn Jahren haben Politikwissenschaftler*innen ausführ­lich darüber disku­tiert, mit welcher Termi­no­logie die jüngsten Entwick­lungen in verschie­denen Ländern wie Ungarn, Polen, Serbien, Brasi­lien, den USA und der Türkei am besten zu verstehen sind. Mit Wero­nika Grze­balska nennen wir diese Staaten mit Blick auf den dort überall sehr ähnli­chen modus operandi der poli­ti­schen Macht (und gemäß dem biolo­gi­schen Begriff für para­si­täre Baum­pilze) illi­be­rale „Polypor-Staaten“. Im Gegen­satz zu anderen Politikwissenschaftler*innen, die diese Staaten wegen ihrer Effek­ti­vität bewun­dern, argu­men­tieren wir, dass die Polypor-Staaten keine origi­nellen Ideen haben, sondern nur Ideen von anderen über­nehmen, die sie für ihre eigenen Zwecke verwenden, das heißt für den bloßen Erhalt ihrer Macht. Dazu arbeitet der Polypor-Staat mit drei Konzepten. Das erste ist „Sicher­heit“. In seinem öffent­li­chen Diskurs erklärt er alle mögli­chen Aspekte des Lebens und der Politik zu einer Frage der „Sicher­heit“, bis hin zur Geschlech­ter­for­schung und zu kriti­schen Intel­lek­tu­ellen, die er als eine Bedro­hung für diese „Sicher­heit“ darstellt. Dazu gehört zwei­tens eine spezi­fi­sche Fami­li­en­ideo­logie, die beinhaltet, dass der Staat beson­ders die Familie unter­stützt, damit aber über­wie­gend Mittel­stands­fa­mi­lien meint und oben­drein den Wert der Geschlech­ter­ge­rech­tig­keit bewusst igno­riert. Das dritte Konzept schließ­lich ist für die akade­mi­sche Wissens­pro­duk­tion das rele­van­teste. Es geht um die Grün­dung und Förde­rung neuer Forschungs- und Lehr­in­sti­tu­tionen, die das gleiche Profil haben wie die bereits bestehenden, womit ein neues Phänomen geschaffen wird: die poly­pore Wissen­schaft. [...] Zur popu­lis­ti­schen Wende gehört außerdem, dass der Mangel an Quali­täts­kon­trolle in den poly­poren Insti­tu­tionen dazu führte, die Systeme und Insti­tu­tionen der akade­mi­schen Quali­täts­kon­trolle im Allge­meinen anzu­greifen. [...] Welche Folgen hat der Aufbau dieses neuen poly­poren akade­mi­schen Netz­werks für die Sozial- und Geis­tes­wis­sen­schaften? Dazu gehört erstens die Vermänn­li­chung des Berufs­standes, denn alle, die in letzter Zeit ernannt wurden, sind sehr ehrgei­zige junge Männer, bestens vernetzt mit jenen älteren Herren, die diese Entwick­lung voran­treiben. Letz­tere suchen junge Männer, die einen sehr ähnli­chen Habitus haben wie sie selbst, aber 25 Jahre jünger sind. Zwei­tens ergeben sich deut­liche Unter­schiede in der Bezah­lung: Profes­soren dieser poly­poren Insti­tu­tionen verdienen mindes­tens doppelt so viel und haben dort Zugang zu Forschungs- und Reisesti­pen­dien. (Andrea Petö, Salonkolumnisten)
Es ist wie bei den Rechtspopulisten eigentlich immer: Welchen Vorwurf sie auch machen, man kann sich sicher sein, dass sie selbst voll dabei sind. Korruption? Jeder von denen ist korrupter als die letzten zwanzig Jahre demokratischer Politiker. Und so weiter. So ist es auch hier: Mit riesigen Krokodilstränen beweint man die angebliche Unwissenschaftlichkeit der Gender Studies und ärgert sich aufgeplustert über die "Politisierung" der Wissenschaften, nur um das exakt dazu zu nutzen, den kompletten Wissenschaftsbereich (durch die Bank) zu politisieren und sich zu unterwerfen. Und so ist es bei allem, was Rechtspopulisten tun. Gerade deswegen verweise ich immer darauf, dass rechtsdemokratische Zeitgenossen nicht den Fehler machen sollten, diesen Leuten zuzustimmen oder gar mit ihnen zusammenzuarbeiten, nur weil man sich beim Thema einig ist. Die Ablehnung der Gender Studies als Disziplin durch einige Kommentatoren hier im Blog hier etwa ist ja ein legitimes Diskussionsthema in einer pluralistischen Gesellschaft, aber in dem Moment, wo du dich mit Rechtspopulisten zusammentust und ihnen Boden gibst, weil sie die gleiche Meinung zum Thema haben wie du, schaffst du ein Einfallstor. Und dann schreibst du irgendwann Gedichte, die mit "Als sie für die Gender Studies kamen, habe ich nichts gesagt, denn ich lehrte ja nicht Gender Studies..."

9) Democrats Should Be as Fearless as FDR
And many of Roosevelt’s ideas failed. The Agricultural Adjustment Administration attempted to raise farmers' incomes by paying them to destroy surplus crops and livestock. But it did little to help poor farmers, and it led to higher food prices for the poor and unemployed. In 1937, thinking that the worst of the Depression was over, FDR cut government spending, which led to a second downturn. The National Recovery Administration created private cartels to regulate prices and wages, but these ended up doing little to help. Many New Deal programs were struck down by the Supreme Court, including the NRA and the AAA; only when Roosevelt threatened to pack the court with extra justices did it relent. But despite these and other setbacks, Roosevelt and his administration pressed on, often replacing failed or blocked policies with new approaches. When industrial cartels failed to boost employment, Roosevelt provided jobs directly via the Works Progress Administration and other agencies. The austerity of 1937 was reversed. Roosevelt kept up his “bold persistent experimentation,” introducing new policies like higher income taxes, Social Security, freer trade and stronger collective bargaining. [...] Today’s Democrats can learn as much from the New Deal’s failures as from its successes. When plans don’t work -- or when they don’t go far enough -- rapid changes of course are necessary. A pragmatic attitude is the key, because sticking to a rigid ideology is a recipe for doubling down on mistakes. Political flexibility is crucial. A president isn't a dictator, and she or he will need creative workarounds and alternatives when opponents inevitably block parts of the agenda. The goal – a stronger, more equal economy – must take precedence over any plan. (Noah Smith, Bloomberg)
Der hier beschriebene Ansatz ist exakt meine Vorstellung von vernünftiger Reformpolitik, wie ich sie auch in meinem Grundsatzartikel zur Lösung der Klimakrise beschrieben habe. Am Grünen Tisch kann man noch so viele großartige Reformprojekte (oder wirtschaftliche Transformationen, mit einem Blick auf die Neoliberalen unter uns) planen; die Realität hat die Angewohnheit, Fallstricke auszulegen, die man vorher nicht gesehen hat. Die Qualität von Regierenden zeigt sich darin, wie flexibel sie auf solche Probleme reagieren, nicht darin, wie wasserdicht und kohärent die Pläne vorher waren. Der Ansatz von "Scheiße an die Wand werfen und schauen was kleben bleibt" ist daher zwar nicht so intuitiv attraktiv wie ein durchgeplantes und intellektuell kohärentes Programm, aber deutlich aussichtsreicher, sinnvolle Lösungen zu produzieren. Voraussetzung ist natürlich, dass man bereit zur Evaluierung und zur Reform ist. Ich denke übrigens, das ist auch eine der großen Stärken der ganzen Agenda2010-Reformen gegenüber eher starren Reformversuchen wie den in immer dasselbe ideologische Korsett gesperrten IWF-Strukturreformen: Die Willigkeit, Reformbestandteile auch wieder zu ändern, wenn sich zeigt, dass entweder die Prämisse falsch war oder sich geändert hat. Ich würde behaupten wollen, dass die Agenda2010 wesentlich weniger in der Bevölkerung akzeptiert wäre, hätte man alles auf dem Stand von 2004 eingefroren und seither als sakrosankt nicht mehr angefasst. Die Schwierigkeit, und das zeigt die SPD deutlich, ist diese Reformen der Reform politisch zu verkaufen. Darin war die deutsche Sozialdemokratie singulär schlecht. Aber das ist kein unlösbares Problem.

10) Left-Wing Policies Aren’t Risky for Democrats. Unpopular Ones Are.
Agadjanian is admirably careful in contextualizing his findings. He notes that some progressive policies are popular, and that it is unclear which left-wing policies the Democratic nominee will choose to emphasize next year. Still, the framing of both his column and survey are misleading. The question he has examined is not “Do Democrats risk losing independents by moving left?” but rather, “If three of the Democratic Party’s least popular left-wing ideas are at the front of independent voters’ minds when they enter the ballot booth next year, will that be bad for the Democratic Party?” The second question is more worthwhile than it may sound. Previous polling has established that decriminalizing border crossing, extending health-care benefits to undocumented immigrants, and abolishing private insurance are not majoritarian propositions (although, the last one tends to have broader support when contextualized in specific ways). But policies can be unpopular without being salient. So there is some value in knowing that these stances could ostensibly inform the voting preferences of swing constituencies. There is no value, however, in casting these three policies as definitive of the Democratic Party’s ideological shift. A survey that had independent voters read about the Democratic field’s embrace of wealth taxes, worker codetermination, marijuana legalization, and a $15 minimum wage might very well yield the opposite conclusion about the electoral implications of the Democrats’ “left turn,” given the broad popularity of those ideas. By equating the political viability of an arbitrary (and unusually unpopular) batch of left-wing policies with that of Democrats “moving left” in general, the Times column provided progressives readers with an easy means of dismissing its findings outright. (Erik Leivitz, New York Magazine)
Ich stimme Leitvitz' Grundforderung grundsätzlich zu. Man sieht denselben Effekt bei den Rechten ja auch: Obwohl den Republicans nicht wichtiger war als die Steuergeschenke für Milliardäre, schadete ihnen die Verabschiedung massiv, weil das Thema in der Gesamtbevölkerung furchtbar unpopulär war. Dass sie es unbedingt wollten, tat da wenig. Es mag daher durchaus sinnvoll zu sein, stärker darauf zu achten, welche der eigenen Herzenswünsche auch in der breiten Bevölkerung geteilt werden. Aber: Das Narrativ ist noch wichtiger. Die Umfragen, aus denen Leivitz zitiert, sind notorisch unzuverlässig. Bei all den Fragen nach der Popularität bestimmter Policies ist das so genannte wording, also die Fragestellung, der ausschlaggebende Faktor. Ein Umfrageinstitut kann die Popularität von Medicare For All auf eine Weise abfragen, dass 80% der Amerikaner zustimmen oder dass 40% zustimmen - der gleichen Policy. Hier müssen die Democrats unglaublich darauf achten, dass sie nicht den gleichen Fehler machen wie die Republicans und anfangen, ihre eigene Propaganda zu glauben.

Es ist die Hoffnung, dass eine Technologie der Zukunft die Probleme von heute auf beinahe magisch-mystische Weise lösen werde. Es grenzt an die "Dunkle Technikhörigkeit der Ahnungslosen", nur dass hier die Akteure sogar Ahnung haben. [...] Und es ist eine mächtige Denkschule, die sich schon häufiger durchgesetzt hat. Zum Beispiel beim Klimaabkommen von Paris im Jahr 2015. Es wird nicht besonders häufig gesagt - aber die ohnehin nicht gerade überambitionierten Ziele von Paris lassen sich nur noch erreichen, wenn irgendjemand eine bisher nicht existierende Technologie erfindet. [...] Denn im Schnitt dauert es ab Erfindung 43 Jahre, bis eine neue Energieerzeugung im Markt angekommen ist. Und 27 Jahre, bis sich neue (eventuell sparsamere) Produktkategorien durchsetzen können. [...] Die Technikgläubigkeit der Greta-Skeptiker ist natürlich kein euphorisch-positiver Technikglaube, wie er etwa Anfang des Jahrtausends bei Internetoptimisten (auch bei mir) zu finden war. Es handelt sich eher um eine Abwehrreaktion, die mit dem Joker Technologie operiert. Diese Klimatechnologiegläubigkeit hat auf verquere Weise letztlich nichts mit Technologie zu tun, das ist nur eine Chiffre, die auch lauten könnte: Wir warten auf ein Wunder Gottes, die Ankunft von Godot oder die Entdeckung von CO2-fressenden Einhörnern. Denn dahinter steht der schlichte wie technologieferne Wunsch, die anstrengende Veränderung noch ein wenig herauszuzögern. Es ist nichts anderes als die Essenz des konservativen Charakters, noch die kleinste Chance zu ergreifen, um dem Wandel so wenig Raum wie möglich zu geben. Bis es nicht mehr anders geht. Das ist, wie man selbst als progressiv orientierte Person zugeben wird müssen, in der Geschichte ärgerlich oft richtig gewesen. Aber eben nicht immer. (Sascha Lobo, SpiegelOnline)
Ich möchte diesen Artikel hauptsächlich noch als Ergänzung der Gedanken dalassen, die ich in meinem eigenen Artikel "Der Weg aus der Klimakrise" beschrieben habe. Lobo geht deutlich ausführlicher als ich auf den verbreiteten Techno-Optimismus der Klimawandelrelativierer ein, und dazu schreibt er deutlich besser als ich.

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