Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von
Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden
habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für
meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine
Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des
verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch
einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen
Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.
1) Herr Reichelt, können Sie ohne "Bild" leben? "'Bild' war Julian Reichelt" (Interview mit Julian Reichelt)
ZEIT: "Vögeln, feuern, fördern" stand da – mit diesen Worten soll ein Springer-Mitarbeiter Ihren Umgang mit Kolleginnen beschrieben haben.
Reichelt:
Abgesehen davon, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass ein Kollege
das gesagt haben soll, weil es vollkommener Unsinn ist, wissen wir alle,
dass ein anonymes Zitat nie in die Überschrift gehört. Es verstößt
gegen alle journalistischen Standards. Dieser Artikel über mich ist ja
dann auch gerichtlich verboten worden. Von der ersten Zeile, sprich der
Überschrift, bis zur allerletzten. Ich habe den Eindruck, es ging gar
nicht wirklich um mich als Mensch, sondern um die Vernichtung und
Auslöschung politischer Gegner. Daran waren sehr viele Medien beteiligt.
Die Tagesthemen haben sich für meinen öffentlich-rechtlich-kritischen
Kurs gerächt und einen Aufmacher und auch noch einen Kommentar gefüllt
mit Vorwürfen gegen mich, die so diffus erhoben wurden, dass man nicht
mal genau erfuhr, was mir eigentlich vorgeworfen wird. Die Tagesthemen,
die nur sehr ungern mit islamistischen Terroristen in Deutschland
aufmachen, machen auf einmal mit mir auf, ohne überhaupt konkrete
Vorwürfe zu nennen. Da wird ein neues Gesellschaftsbild mit erschaffen,
das einer politischen Agenda dient. [...]
ZEIT:
Man kann als Journalist durchaus auch die Existenz Israels anerkennen,
ohne sich dazu vertraglich verpflichtet zu haben. Diese Klausel gibt es
bei keiner anderen deutschen Zeitung.
Reichelt:
Die Personalabteilung von Springer warb für "Respekt" und "Diversity"
mit Plakaten, auf denen Menschen mit eindeutig islamistischer Kleidung
und Gesinnung abgebildet sind. Das ist alles einem schrecklichen
Zeitgeist geschuldet, der leider auch bei Springer Einzug gehalten hat.
Da gab es auch intern Menschen, die mich weghaben wollten, weil sie
harten Boulevard nicht mögen, sondern eine Gesellschaft der totalen
Achtsamkeit wollen. [...]
ZEIT: Es hieß immer, Mathias Döpfner und Sie würden sich nahestehen – auch politisch.
Reichelt:
Mathias hat ja oft öffentlich gesagt, dass er Bild als Bollwerk gegen
manchen Zeitgeist empfindet. Und das stimmt. Deshalb empfinde ich es
fast als tragisch, wie sich das nun dreht, weil ich ihn als großen
freiheitlichen Geist kennengelernt und sogar verehrt habe. Und weil ich
das Gefühl habe, dass ein solcher freiheitlicher Geist in unserer
Gesellschaft derzeit massiv zurückgedrängt wird. [...]
ZEIT:
Der Springer-Verlag gehört nun zum großen Teil Amerikanern. Bei Chefs
mit Affären im Unternehmen kennen sie keine Gnade. Wenn sich nun die
Unternehmenskultur ändert, muss dann auch Bild sich ändern?
Reichelt:
Das wäre Irrsinn. Und deswegen halte ich es für eine Fehlentscheidung,
mich abzuschießen. Das war Appeasement gegenüber Gruppen, die seit
Jahren ganz intensiv meinen Kopf wollten. Das wird jetzt aber nicht
aufhören. Die Angriffe gegen Bild, Springer und Mathias werden sich noch
verschärfen. Es ist jetzt Blut im Wasser. [...]
ZEIT:
Würden Sie eine zweite Agentur wie Storymachine gründen, nach dem
Vorbild Ihres ebenfalls geschassten Bild-Vorgängers Kai Diekmann?
Reichelt:
Nein, ich möchte keine PR machen, sondern Journalismus für die Massen.
Ich liebe es, Millionen Menschen eine starke Stimme zu geben. Die
gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Woke-Wahnsinnigen, die wir
gerade erleben, läuft ziemlich genau entlang der infamen Frage: War
Winston Churchill ein Held oder ein Verbrecher? Für mich ist die Antwort
klar: Held. Und in diesem Geiste sage ich: Never surrender! (Cathrin
Gilbert, ZEIT)
Das ganze Interview mit
Reichelt ist sehr lang und ausführlich und beschäftigt sich auch noch
mit seiner Kündigung und der sexuellen Belästigung seiner Untergebenen
sowie der Unternehmenskultur bei Springer. Die Highlights: Er hat nichts
falsch gemacht, Frauen finden ihn einfach natürlich attraktiv, er ist
das Opfer einer Schmierkampagne der diesen Mainstreampresse, die
Unternehmenskultur bei Springer hat er "demokratisiert", die BILD würde
niemals die Privatsphäre von anderen Leuten verletzen, niemand hat die
Absicht eine Mauer zu errichten. The usual.
Die Zitate, die ich
hier rausgesucht habe, möchte ich vor allem deswegen hervorheben, weil
sie eine unglaublich gefährliche Radikalisierung aufzeigen, die weit
über die Person Julian Reichelt hinausgeht. Der Mann spricht die Sprache
eines Bürgerkriegs. Er teilt die Welt in Freund und Feind: hier
diejenigen, die loyal zu ihm und seinen Ansichten stehen, und dort die
anderen, der "woke Mob" und diejenigen, die zu feige sind, sich ihm
entgegenzustellen. Es ist die Sprache von jemand, der den demokratischen
Diskurs bereits verlassen hat, auch wenn er sich in genau dessen
Erscheinungsbild zu gewanden versucht. Man täte gut daran, das zu sehen
und Reichelt nicht für einen Exponenten der "bürgerlichen Mitte" zu
halten. Das ist weder bürgerlich noch Mitte. Das ist Rand.
2) Angela Merkel’s most important legacy: her civility
Merkel bequeaths Germany a complex legacy
– she was a capable crisis manager but a poor strategist, a canny
tactician but also a source of complacency and stasis. That is all up
for debate by commentators and historians over the coming years. Yet
what seems certain is that she has left the way in which most of her
country’s politics is conducted in a state that some other parts of the
democratic world, including the UK and US, have reason to envy; a state
that it is to be hoped her successors can preserve. Civility does not
impede effectiveness, and arguably can improve it. Nor is it a
superfluous nicety. Quite the contrary: it is in many ways the very
foundation of a successful democracy, where rival perspectives and
visions can stake their claim to power, and those who wield it can do so
with legitimacy and maturity. Civility should not be taken for granted.
To remain polite, civil and decent, as Merkel did over 16 years as the
leader of one of the world’s biggest economies in the heat of successive
crises, is more than a footnote. It is something fundamental: a
laudable commitment to the ethos that sustains democracy and with it
free and prosperous societies. (Jeremy Cliffe, The New Statesman)
Wir
werden an Merkel-Nachrufen und Merkel-Analysen sicher in der nächsten
Zeit noch mehr sehen, aber ich glaube, eine Sache die völlig
unbestritten stehen kann, unabhängig davon wie man politisch zu ihr
steht, ist die Anerkennung, dass sie die wohl charakterlich integerste
Kanzlerin war (an der Stelle gibt es leider keine Option, das vernünftig
zu gendern; Männer sind natürlich mitgemeint). Ich stehe einem Willy
Brandt politisch wesentlich näher als Merkel, aber sein Verhalten
gegenüber seiner Familie, seine permanente Fremdgeherei - so was macht
eine Merkel nicht. Von ihr wäre auch keine cholerische Herabkanzelei und
ständige Herabsetzung der Untergebenen wie von einem mir ebenfalls
näherstehenden Helmut Schmidt bekannt, von den Bestechungsskandalen
eines Kohl einmal abgesehen.
Was man sich damit kaufen kann, steht
natürlich auf einem anderen Blatt. Merkel hat viel für die Gesundheit
des demokratischen Diskurses getan, indem sie die "civility"
hochgehalten hat; ihr Politikstil hat auf der anderen Seite auch viel
Schaden am demokratischen Diskurs angerichtet, weil die asymmetrische
Demobilisierung und ihr "alternativlos" nicht eben dazu angetan waren,
fruchtbare Debatten zu befördern. Ich denke aber, es ist absolut fair
eines stehen zu lassen: sie war kein schlechter Mensch.
3) "Die Mittelschicht braucht Dienstboten" (Interview mit Oliver Nachtwey)
ZEIT ONLINE: An wen denken Sie, wenn Sie von Dienstboten sprechen?
Nachtwey:
Die Mittelklasse kann ihr Mittelklassedasein in der Form nur
praktizieren, weil sie von einer Reihe von Dienstboten abgesichert wird:
Man hat eine Nanny, eine Zugehfrau, Hemden und Hosen gibt man zum
Bügeln ab, das Essen wird bis an die Haustür geliefert.
ZEIT ONLINE: Sollte die Mittelklasse ein schlechtes Gewissen haben, weil sie andere ausbeutet, um ihren eigenen Wohlstand zu halten?
Nachtwey:
Wenn man Tariflöhne zahlt und einen fairen Umgang pflegt – nicht
unbedingt. Diese Form der Mittelklassenexistenz ist auch ein Resultat
der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Die Emanzipation aus der
Hausfrauenehe macht es für Familien und vor allem für Frauen unmöglich,
Care-Tätigkeiten und gleichzeitig Erwerbsarbeit nachzukommen. Der Druck
ist jetzt schon enorm. Wenn die Mittelklasse aufhören würde, Tätigkeiten
zu delegieren, wäre sie nicht mehr konkurrenzfähig. Man kann sich aber
fragen: Will ich so leben? Oder noch besser: Sollten wir alle so leben?
Individuelle Auswege sind kaum möglich, nur kollektiv würde das gehen.
Etwa durch eine radikale Verkürzung der Arbeitszeit – dann bräuchte es
auch diese Form der Arbeitsteilung nicht mehr.
ZEIT ONLINE: In Ihrem Buch wird sehr deutlich, dass es hierzulande eine Klassengesellschaft gibt – nur redet niemand darüber. Warum nicht?
Nachtwey:
In Deutschland leugnen viele Menschen die Existenz einer
Klassengesellschaft, gerade in der Mittelklasse. Einfach aus dem Grund,
weil man sich gerne von den damit verbundenen Schuldgefühlen oder der
Selbstkritik fernhalten möchte. Deshalb versuchen die Leute, legitime
Gründe für ihren Wohlstand zu finden oder man schweigt einfach darüber.
Wir schweigen ja über unser Einkommen. Das führt dazu, dass Politiker,
die Privatjets haben und immer wieder CDU-Vorsitzender werden möchten,
sich als Teil der Mittelklasse bezeichnen, obwohl sie zur Oberklasse
gehören. Es ist keine Gesellschaftsleugnung, sondern eine
Klassengesellschaftsleugnung, die da stattfindet. (Jana Gioia Burmann,
ZEIT)
Insgesamt ist das ein sehr spannendes Interview, das zur Gänze empfohlen sei. Ich habe an dieser Stelle einige Anmerkungen.
Nachtwey
spricht davon, dass in Deutschland die Klassenfrage generell völlig
verleugnet wird, im Gegensatz zu anderen Ländern. Der Mythos der
"nivellierten Mittelschichtsgesellschaft" hält sich, obgleich
mannigfaltig widerlegt, hartnäckig in Deutschland, gehört geradezu in
den größeren Komplex der Gründungsmythen rund ums Wirtschaftswunder.
Aber das zu leugnen heißt nicht, dass es das nicht gäbe. Und dass in
Deutschland die soziale Mobilität katastrophal niedrig ist, wissen wir
seit mittlerweile zwei Jahrzehnten, ohne dass viel dagegen getan würde.
Die
Bedeutung der Gleichberechtigung, die Nachtwey hervorhebt, habe ich
auch schon öfter beschrieben. Die Frauenvollzeiterwerbstätigkeit hat die
deutsche Gesellschaft nachhaltig verändert, und die Konsequenzen wurden
auf vielen Feldern immer noch nicht gezogen. Hier ist besonders viel
Reformpotenzial von der Ampel zu erwarten, weil sowohl Grünen als auch
FDP das ideologische Festhalten der CDU am klassischen Familienmodell
fehlt.
Eine kritische Anmerkung: Nachtweys Beschreibung von der
Abhängigkeit von Dienstboten kann ich an mir selbst und den mir
bekannten Mittelschichtenfamilien nicht erkennen. Obwohl wir zu den
15-20% der obersten Einkommensgruppe zählen (auch ein trauriges
Statement), haben wir weder eine Nanny, noch eine Zugehfrau (was ist das
überhaupt?), noch ordern wir Essen, noch nutzen wir professionelle
Reinigungsservices für unsere Wäsche. Dafür scheint man mir nochmal
weiter hochrutschen zu müssen, in den sechsstelligen Gehaltsbereich, und
ob man da noch guten Gewissens von "der Mittelschicht" sprechen kann,
sei mal dahingestellt.
4) Inside Trump's hunt for "disloyal" Republicans
Donald
Trump and his associates are systematically reshaping the Republican
Party, working to install hand-picked loyalists across federal and state
governments and destroy those he feels have been disloyal, sources
close to the former president tell Axios. [...] Trump is tapping his
national network of allies to identify Republicans who were "weak" in
2020 because they refused to go along with his efforts to overturn the
election. No office has proven too small. His apparatus touches
everything from unseating governors, members of Congress, state
legislators and secretaries of state, to formulating policy and
influencing local school boards. One common thread with many of the
candidates he's backed so far: They all support his efforts to overturn
Joe Biden's victory. [...] Sources who have spent time with Trump at his
Florida estate Mar-a-Lago say it's impossible to carry out an extended
conversation with him that isn't interrupted by his fixations on the
2020 election. [...] Trump has called for bills instituting reforms some
of his advisers say would have kept him in power. Republicans in state
legislatures enacted dozens of voting laws this year — many designed in direct response to Trump's post-election pressure. Trump cheered on Georgia's sweeping voting bill, saying
the GOP legislators "learned from the travesty of the 2020 Presidential
Election." He added, "Too bad these changes could not have been done
sooner!" At least 10 bills introduced at the state level — none yet
passed — would allow partisan actors to overturn election results. [...]
Trump's relentless messaging has forged an alternate reality for his
followers: 58% of Republicans in an Axios/Ipsos poll last
month said there was enough fraud to change the outcome of the 2020
election. Now he's harnessing that energy. (Jonathan Swan/Andrew
Solender, Axios)
Die amerikanische Republik steht vor dem Fall. Wie noch irgendjemand das bezweifeln kann, ist mir völlig schleierhaft. Die Republicans
werden versuchen, mittels Wahlbetrugs zu gewinnen, wenn sie nicht
ohnehin eine Mehrheit der Wahlleute und der Distrikte für sich gewinnen
(eine Mehrheit in der Bevölkerung ist völlig illusorisch). Ob Trump
antritt oder nicht ist da mittlerweile gar nicht mehr so bedeutsam, denn
in der Partei gibt keine Personen mehr, die eine Aussicht auf die
Nominierung oder irgendwelche Machtpositionen hätten und der Demokratie
verpflichtet sind. Stattdessen haben in der Partei offene Faschisten die
Macht übernommen. Natürlich wird 2024 nicht von einem Moment auf den
anderen die Demokratie aufhören, aber das hat sie in Polen und Ungarn
auch nicht. Es ist ein inkrementeller Prozess, aber da die Democrats
unfähig sind, ihn aufzuhalten - mangels Mehrheit im Senat - gibt es
auch nichts, das diesen Trend noch brechen könnte. Ich bin sehr, sehr
pessimistisch.
Ein weiterer Lestipp ist Kevin Drums Versuch, das Ganze aus Sicht der Republicans zu sehen.
5) Versprochen, gebrochen
Eine
Gesellschaft kann ohne Versprechen nicht funktionieren, aber deren
rhetorische Statik ist zerbrechlich: Um ein Versprechen als gebrochen zu
empfinden, muss man voraussetzen können, dass es gehalten werden wird,
kann dies aber nie garantieren – sonst wäre das Versprechen ohnehin
überflüssig. Und jetzt ist genau dies eingetreten, eine Situation, in
der ein Wort nicht gehalten werden kann, weil sich die Umstände zu sehr
verändert haben. Denn jedes Versprechen ist auch eine Haltung auf
Grundlage eines Wissens über eine erhoffte Zukunft. [...] Gerade in der
Pandemie ergibt sich bei jedem getätigten Versprechen das Problem der
»Diktatur der Dringlichkeit«, wie es der Autor Gilles Finchelstein
formuliert. Es wird von politischen Ansprachen eine glaubwürdige
Gegenwärtigkeit eingefordert, die während einer Krisensituation schlicht
nicht einlösbar ist. Das anzuerkennen und zu vermitteln, wäre die
Aufgabe derjenigen gewesen, die damals verkündeten, dass es keine
Impfpflicht geben werde. Lindner, Söder, Habeck hätten dies anders
kommunizieren müssen. »Real talk« statt »Wenn ihr brav seid, gibt’s
keine Impfpflicht«. Mit ihrer damaligen Absolutheit wollten sie das
Sicherheitsempfinden in einer unsteten Lage erhöhen – womit rückblickend
genau das Gegenteil bewirkt wurde und für zukünftige Aussagen nun eine
große Verunsicherung hinsichtlich der Glaubwürdigkeit nachvollziehbar
ist. Wir haben es also tatsächlich mit einem Wortbruch zu tun. An dem
die Wirklichkeit mitgehämmert hat, da die Optionen ausgehen: Entweder
eine morbide Realität aus Tod und Verlust zwingt die Menschen dazu, sich
impfen zu lassen – oder der Staat verpflichtet sie dazu. [...] Den
eigentlichen Wortbruch sehe ich jedoch an ganz anderer Stelle: nicht
alles Erdenkliche getan zu haben, um das Eintreten dieser Situation zu
verhindern. Denn das Versprechen, es werde keine Impfpflicht geben, zu
brechen, ergab sich ja aus der Misere, dass nicht das Erhoffte
eingetreten war, auf dessen Grundlage das Versprechen in erster Linie
überhaupt gegeben wurde. Also: Man versprach keine Impfpflicht, mit
sicherer Hoffnung auf eine ausreichende Impfquote. Im Grunde war der
Satz »Es wird keine Impfpflicht geben« eine Vertrauensgeste, weil er im
Subtext sich fortsetzen lässt mit: »…weil wir keine brauchen werden,
weil wir Sie alle für vernünftig genug halten«. Die Wirklichkeit hat
ihren Teil der Vereinbarung nicht eingehalten – aber die Regierung hat
eben auch nicht genügend dabei geholfen, das zu verhindern. Mein Vorwurf
ist also nicht, dass ein Wort gebrochen wurde, sondern, dass sich nicht
mehr Mühe gemacht wurde, es zu halten. (Samira El Ouassil,
SpiegelOnline)
Ein hervorragender Artikel. Der
Hinweis, dass Politiker*innen aufpassen müssen, was für absolute
Aussagen sie machen - die so genannten "Versprechen" - ist völlig
richtig. Ich bin bekanntlich kein Fan des Begriffs "Wahlversprechen",
aber den braucht es dafür auch gar nicht. Stattdessen relevant ist die
Frage, ob eine Absichtsbekundung absolut ist oder nicht. Denn eigentlich
kann niemand ernsthaft wollen, dass einmal abgegebene
Absichtsbekundungen für die Ewigkeit feststehen. Was die Politik
getrieben hat, in der Corona-Krise wieder und wieder markige Dinge
rauszuhauen, von denen absehbar war dass sie zumindest mit einer höheren
Wahrscheinlichkeit umgeworfen werden müssen und deren Flurschäden für
die politische Kommunikation klar absehbar waren - ich weiß es nicht.
6) Explaining the Republican Victory in the Virginia Gubernatorial Election: Conversion or Mobilization?
The
assumption underlying such analyses of the 2021 contests is that most
of the shift between 2020 and 2021 was due to conversion: 2020
Democratic voters moving into the GOP column in 2021. There is another
possible explanation for Republican gains in 2021, however —
disproportionate partisan mobilization. According to the partisan
mobilization hypothesis, off-year elections often produce a shift in
turnout in favor of the party that does not control the White House.
While turnout drops for supporters of both parties compared to a
presidential election year, out-party voters are more motivated to turn
out to express their discontent with the leadership of the newly elected
or reelected president. [...] The reasons for the Republican tilt of
the 2021 Virginia electorate are clear in Table 1, which compares the
demographic characteristics and candidate preferences of the 2020 and
2021 Virginia electorates based on exit poll data from the two
elections. The data in this table show that the 2021 Virginia electorate
was substantially older, Whiter, and more rural than the 2020 Virginia
electorate. The most dramatic difference between the 2020 and 2021
electorates involved their age distribution. Not only were the 2021
voters considerably older, but those young voters who did turn out in
2021 were far more Republican in their preferences than the much larger
group that turned out in 2020. (Alan Abramowitz, Crystal Ball)
So viel zur Theorie, die Democrats hätten mit zu viel Gerede von Critical Race Theory die Mittelschicht verloren. Es waren die Republicans,
die mit strategischem Dauer-Reden über CRT ihre eigene Basis
mobilisiert haben. Die Geschichte ist ziemlich unspannend, eigentlich:
die eigene Partei ist nicht sonderlich motiviert, weil sie das Weiße
Haus hat, der regierende Gouverneur gibt keine sonderlich glückliche
Figur ab und die Opposition hat ein tolles Narrativ. Man denke mal an
Roland Kochs Unterschriftenkampagne gegen Ausländer 1999, mit der er Hessen eroberte. Gleiches Prinzip.
7) "Man macht dieselben Fehler wie bei Pegida" (Interview mit Miro Dittrich)
Dittrich: Man hätte bei den ersten Demonstrationen eingreifen müssen. Aber das hat man nicht getan – weil die Leute dort angeblich so bürgerlich aufgetreten sind.
Für mich ist es so frustrierend, dass sich alle Fehler wiederholen, die
schon bei der Pegida-Bewegung passiert sind. Die Verantwortlichen haben
argumentiert, dass sie auf die Sorgen der Bürger hören wollen – aber
man hat nicht ernst genommen, was da eigentlich gefordert wurde, nämlich
der Umsturz des Systems. Es hätte viel früher Strafverfolgung geben
müssen, zum Beispiel, als es die ersten Mordaufrufe in Telegram-Gruppen
gab. Es hat sehr lange gebraucht, bis die Sicherheitsbehörden verstanden
haben, was dort passiert.
ZEIT ONLINE: Und wann war das?
Dittrich:
Ein wichtiger Punkt war der Sturm auf den Reichstag. Das war eine echte
Blamage für die Sicherheitsbehörden: Es gab ja eine Telegram-Gruppe
namens "Sturm auf den Reichstag", in der genau angekündigt worden war,
was dann passierte. Das zeigte der Polizei wieder einmal, dass das nicht
nur ein paar Spinner aus dem Internet sind. Und dann gab es noch den
Mord von Idar-Oberstein. Aber trotzdem hat es in Sachsen erst einen
Fackelmarsch vor dem Haus einer Politikerin gebraucht, um die Demos vor
Ort zu stoppen. So ganz ist das Problem noch immer nicht angekommen.
ZEIT ONLINE: Befürchten Sie, dass es weitere Gewalttaten aus der Gruppierung geben könnte?
Dittrich: Es
gibt sehr viel Druck in der Szene – und eine hohe Wahrscheinlichkeit,
dass es zu Gewalt kommt. Was sollen die Leute auch anderes machen? Sie
haben demonstriert, sie haben das Internet vollgeschrieben, aber der
gefühlte Untergang steht immer noch bevor. Viele Gruppen haben sich
online gefunden und wollen sich jetzt offline treffen – weil sie zum
Beispiel planen, den sächsischen Ministerpräsidenten zu erschießen.
Es wird auch mehr Affekthandlungen geben, also ungeplante Übergriffe,
weil die Leute sich in ihren apokalyptischen Welten nach einem
Befreiungsschlag sehnen – und nach Applaus aus der eigenen Community.
ZEIT ONLINE:
Der Bundestag will demnächst über eine allgemeine Impfpflicht beraten.
Gegner dieser Maßnahme argumentieren, dass das die Szene noch stärker
radikalisieren könnte. Teilen Sie diese Befürchtung?
Dittrich:
Ich halte das für sehr wahrscheinlich. Aber es wäre falsch, wenn wir
uns davon erpressen lassen. Die Entscheidung über eine Impfpflicht
sollte auf wissenschaftlichen Grundlagen beruhen. Und dann müssen wir
uns fragen: Wie können wir stärker gegen die radikale Szene vorgehen –
und wie können wir uns vor Übergriffen schützen? Der Staat könnte zum
Beispiel Impfzentren besser absichern. Oder Geschäfte dabei
unterstützen, die Kontrollen der Corona-Maßnahmen durchzuführen. Und es
ist wichtig, daran zu erinnern, dass es sich nur um eine kleine
Minderheit handelt, die gerade durchdreht. Es gibt eine große Mehrheit,
die eine klare Position zur Pandemie hat und sich deshalb an die Regeln
hält. Es ist nicht "das Volk", das auf der Straße steht. (Rebecca Wiese,
ZEIT)
Ich fühle mich diesbezüglich ziemlich
bestätigt. Genauso wie bei Pegida - ich bin für den Vergleich seitens
Dittrich hier wirklich dankbar - war das "die sehen aus wie wir" der
wichtigste Grund, warum man den Extremismus laufen ließ. Ich erinnere
mich noch an Sigmar Gabriels blödsinnige Tour nach Ostdeutschland, wo er
mit den Leuten reden wollte. Genauso wie jetzt bei den Schwurblern war
diese Bewegung schon immer, als was sie jetzt erscheint. Die Behauptung,
sie habe sich radikalisiert, ist eine Schutzbehauptung, um Gesicht
wahren zu können - damals war es sinnvoll zu reden, damals war es die
Mitte der Gesellschaft, jetzt haben sie sich radikalisiert. Aber das ist
nicht wahr. Die waren schon immer genau das, was sie sind.
Glücklicherweise
hat Dittrich auch Recht damit, dass es eine kleine Splittergruppe ist.
Und wenn die Obsession damit, diese Leute als die Hälfte der
Gesellschaft oder gar eine schweigende Mehrheit darzustellen endlich
aufhören könnte - durch die ganze Pandemie hinweg haben konstant 60-70%
der Bevölkerung die bestehenden Maßnahmen ODER HÄRTERE befürwortet! -,
wäre viel gewonnen. Ständig Extremist*innen zu normalisieren ist kein
guter Ansatz.
Mein größter Kritikpunkt mit dem Interview ist der
Satz, die Impfpflicht solle auf wissenschaftlichen Grundlagen beruhen.
Das ist ein Irrtum. Die Sicherheit von Impfungen, die entsprechenden
Freigaben, all das kann auf wissenschaftlicher Grundlage beruhen. Die
Impfpflicht aber ist eine politische Entscheidung. Man muss der ohnehin
weit verbreiteten Tendenze der Politik, sich hinter "der Wissenschaft"
zu verstecken und die Verantwortung aus der Hand zu geben (siehe auch:
Schuldenbremse, die), nicht noch Vorschub leisten. Kein Wissenschaftler
kann auf empirischer Basis sagen, ob die Impfpflicht kommen muss. Das
ist eine politische Entscheidung, Kern von Regierungshandeln.
8) Kommt Trump zurück?
Als ausländischer Beobachter ist es mir im Grunde egal, ob die Demokratenoder
die Republikaner hier die Wahlen gewinnen. Es gab in der Vergangenheit
in beiden Parteien immer gute und integre Leute, und es gab ein
zumindest weitgehend funktionierendes System von "checks and balances" -
die Institutionen sorgten dafür, dass die regierende Partei im Rahmen
des immerhin halbwegs Erlaubten blieb. Ein Problem ist, dass es die Republikaner,
die Grand Old Party, wie wir sie kannten, nicht mehr gibt. Trump hat
diese Partei gekapert und in eine Höllenmaschine verwandelt. Die
Demokraten, wie wir sie kannten, gibt es auch nicht mehr. Die Partei
umfasst zu viele Strömungen und Positionen, sie wird ihre inneren
Spannungen auf Dauer nicht aushalten. [...] Was meines Erachtens in
diesem Zusammenhang zu wenig Aufmerksamkeit erfährt, sind drei Faktoren.
Erstens: Die Republikaner sind derzeit dabei, in von ihnen
kontrollierten Bezirken und Bundesstaaten die Wahlkreise so neu
zuzuschneiden, dass sie auf absehbare Zeit nicht mehr verlieren können,
selbst wenn sie weniger Stimmen erhalten. Klingt absurd? Ist absurd. Das
sogenannte "gerrymandering", das Zuschneiden der Wahlbezirke, ist eine
Kunst, die die Republikaner in Perfektion beherrschen. Die Demokraten
sind da auch alles andere als unschuldig, aber zum einen sind die
Republikaner skrupelloser, zum anderen kontrollieren sie viel mehr
Bundesstaaten. Zweitens: das Wahlsystem. [...] Die Republikaner haben es
komplizierter gemacht, sich ins Wählerregister einzutragen. Sie haben
die Zahl der Wahllokale verringert, insbesondere in Gegenden, in denen
eher Minderheiten leben. Sie versuchen, die Briefwahl massiv
einzuschränken. [...] Kommen wir zum brutalen Teil: Sollte Trump im Jahr
2024 nicht - mehr oder weniger legal - zum Präsidenten gewählt werden,
wird der 6. Januar 2021 im Vergleich zu dem, was dann passiert, wie ein
Bildungsausflug von interessierten Bürgern zum Kapitolshügel aussehen.
Dann wird sich Gewalt Bahn brechen. Es würde vermutlich, hoffentlich,
kein Bürgerkrieg, aber wir würden das erleben, was man
"bürgerkriegsähnliche Zustände" nennt. Dass in den USA zu viele Menschen
bewaffnet sind, ist bekannt, aber ich glaube, es ist in Europa vielen
Leuten nicht bewusst, welche Mengen an Waffen es in diesem Land gibt,
und welche kulturelle Rolle sie hier spielen. [...] Die Demokraten in
den USA umfassen, wenn man es mit Deutschland vergleicht, heute alles
vom linken Rand der Linkspartei bis zu Friedrich Merz. Das kann keine
Partei aushalten. Deshalb verzettelt sie sich in ziellosen Diskussionen
und kriegt kaum was auf die Reihe. Selbst jetzt nicht, da sie das Weiße
Haus besetzt und in beiden Kammern des Kongresses die Mehrheit hält.
Zugleich tragen viele Demokraten ihre vermeintliche moralische
Überlegenheit in unerträglicher Arroganz vor sich her. Ihre
Selbstgerechtigkeit ist oft atemberaubend, und dass die Demokraten in
der Mitte des Landes kein Bein auf den Boden kriegen, liegt daran, dass
sie absolut keine Ahnung davon haben, was die Menschen dort bewegt.
(Christian Zaschke, SZ)
Ich fand diesen Artikel grauenhaft. Nicht so sehr wegen des Inhalts; wer meine eigene Analyse der aktuellen Aussichten der Democrats gelesen hat, weiß, dass weder die Gefahr für die Demokratie durch die Republicans noch die destruktiven Flügel der Democrats
Argumente sind, die mir fremd sind. Was mich massiv stört ist die
Attitüde. Da ist auf der einen Seite die geradezu absurde Vorstellung,
dass es für uns irrelevant wäre, ob Faschisten in den USA die Macht
übernehmen; als wäre das eine rein innenpolitische Frage von bestenfalls
akademischem Interesse.
Auf der anderen Seite noch viel
abstoßender aber ist für mich die Arroganz und Überheblichkeit von
Zaschkes Haltung. Der distanzierte Bothsiderismus, in dem, neben der
bereits erwähnten Distanz, eine Performance von Objektivität und
analytischer Schärfe mitschwingt. Diese aber bleibt Performance. Und die
erwähnte Arroganz wird nirgendwo so deutlich wie in der Idee, dass die
komplette demokratische Partei "keine Ahnung hat, was die Menschen in
der Mitte des Landes bewegt", er aber, der Korrespondent in Washington,
schon. Dieses "nothing matters", die Weigerung, für
Meinungsfreiheit und Demokratie Partei zu ergreifen, nur um sich selbst
besser zu fühlen, dieses Moralisieren im Gewand einer Analyse, wird uns
noch alle in den Untergang führen.
9) Abschied von Bullerbü: Baerbocks Start in die Weltpolitik
Deutschland
wird in Kürze Farbe bekennen müssen, vor allem gegenüber Moskau. Aus
der SPD heißt es zwar weiterhin, wie einst unter Gerhard Schröder, es
könne in Europa keine Friedensordnung ohne Russland geben. Dieser alte
Satz ist zwar richtig. Doch leider gilt, was Omid Nouripour, Kandidat
für den Bundesvorsitz der Grünen, an diesem Wochenende festhielt:
Zu einer europäischen Friedensordnung gehöre „auch guter Wille in
Moskau - und der ist gerade nicht sichtbar“. [...] Das „Gebundensein
durch Verantwortung“, von dem Robert Habeck zu Recht spricht, hat in
keinem Feld so große Bedeutung wie in der Außenpolitik. Kanzleramt und
Auswärtiges Amt müssen daran arbeiten, gegen die doppelte autoritäre
Bedrohung durch Russland und China einen breiten politischen
Zusammenhalt herzustellen: in Berlin, in Europa und vor allem über den
Atlantik hinweg. Die Grünen gewinnen jetzt damit Profil, dass sie
zumindest als erste in der Regierung sehr offen reden über die neuen
außenpolitischen Herausforderungen und das damit verbundene Dilemma.
Vielleicht erweisen sie sich am Ende sogar als Wegweiser für den Rest
der rot-gelb-grünen Koalition. (Matthias Koch, Redaktionsnetzwerk
Deutschland)
Während der "Abschied von Bullerbü"
für Teile der grünen Basis sicherlich zutreffend ist, sind die Aussagen
Kochs eigentlich für den Großteil des deutschen Parteiensystems
passender als die Grünen, die, wie vielfach bemerkt, im Wahlkampf den
schärfsten Kurs gegen China und Russland fuhren und die noch den
klarsten Blick hatten (was auch nur der einäugige König unter den
Blinden der deutschen Außenpolitik ist). Am schlimmsten ist eigentlich
die SPD, gefolgt, merkwürdigerweise, von der CDU. Aber so oder so ist es
gut zu sehen, dass sich da etwas bewegt, und wenn Baerbock es schafft,
die Autonomie ihres Ministeriums vor den bereits ziemlich unumwundenen
Zugriffsversuchen des Koalitionspartners zu retten ("Außenpolitik wird im Kanzleramt gemacht", Mützenich).
10) Chartbook #57: 1914, the Urkatastrophe of the 20th century
A
clash of Empires, for sure. How could it have been anything else? After
all, all the great powers at the time were one or other type of empire.
To add any value we need to be more precise in defining the historical
conjuncture. 1914 was not simply a clash of Empires. The war was a
product of a distinct conjuncture, well-labeled as the ‘age of
imperialism’ . This conjuncture was defined not simply by empires
butting up against each other, as they had for centuries. It was a new
epoch defined by a new blend of expansive geopolitical claims, empires
dynamized by nation-state mobilization at their core and the imbrication
of those states with the interests of the latest generation of
capitalist accumulation. All of this took place against the backdrop of a
vision of history and global geography that was both grand and
claustrophobic. The global frontier closed in the 1890s. The stage was
set for the great play of world history to begin in earnest. [...]
Economic forces continue to play a key role in any plausible
interpretation of World War I - in the form of Russia’s looming
development and the costs of the arms race between the major power. But
whereas under the sign of imperialism theory the link from geopolitical
ambition to economic interests was made scandalously explicit, in more
recent work the underlying economic dynamics are no longer foregrounded .
The tight connection between the outbreak of war, imperial expansionism
and capitalist competition has unravelled. [...] The firewall drawn
between “1914” and the story of the first globalization is ideological.
But it is also a weak form of ideology - a silence rather than a strong
thesis. Mainstream historical accounts of the July crisis in 1914 are,
in fact, based, more often than not, on a modernization theory that dare
not speak its name. Accounts such as Chris Clark’s Sleepwalkers rank
Western European Empires and the scrappy Balkan protagonists in
developmental terms. Meanwhile, economic accounts of the late 19th
century that give a civilian-socio-economic analysis of the stresses of
globalization and treat 1914 as exogenous, result not just in a
whitewashing of global economic development, but in strange and
counterfactual history of the early twentieth century. (Adam Tooze,
Chartbook)
Es ist absolut faszinierend, wie
diese Epoche immer wieder neu interpretiert wird. Gerade Adam Tooze
(aber auch Niall Ferguson) haben hier unglaublich wertvolle Arbeit
geleistet. Die obigen Ausschnitte sind nur kleine Teile des ersten Teils
einer Kurzfassung eines Essays von Tooze zu Thema, und ich kann
interessierten Lesenden nur die Lektüre anraten, genauso wie die seines
Buches "Sintflut".
Eine Aussicht, die mich mit einem mulmigen Gefühl im Bauch zurücklässt,
ist, dass die Periode der 1930er und 1940er Jahre in spätestens zwei
bis drei Jahrzehnten vermutlich ebenfalls einer Revisionismuswelle
ausgesetzt sein dürfte, und ich bin nicht sicher, ob das gut sein wird.
Aber es wohl unvermeidlich.
11) Chartbook #56: The West Asian Polycrisis - From Afghanistan to Lebanon
Regions
of polycrisis might be defined succinctly as zones in which the
collective trouble is worse than the sum of its parts. Think of a region
where climate change brings drought or a historic hurricane that
crosses borders, creating misery and refugee flows, with no safe place
to go. Think of regions wracked by geopolitical tensions and local
rivalries. Alongside Latin America, another region that might be thought
of in these terms, is the region that Fred Halliday
once dubbed Western Asia, a region that stretches by way of Pakistan
and Afghanistan, to Iran, Iraq, Syria, Lebanon and Turkey (figures refer
to population estimates). [...] State borders in this region are some
of the most arbitrary in the world. The Kurdish population of 40 million
stretches across Turkey, Syria, Iraq and Iran. Millions of displaced
people from Afghanistan, Syria and Iraq lived in improvised camps. The
economies are interconnected through the use of multiple currencies,
trade and infrastructure connections, particularly for energy. Climate
change has inflicted simultaneous drought on Iraq, Iran and Afghanistan.
Altogether, the region presents a landscape of crisis more intense than
anywhere else in the world. (Adam Tooze, Chartbook)
Die
westasiatische Region (ein passenderer Name als "Naher Osten",
irgendwie) ist so etwas wie die Welthauptstadt der schlechten
Nachrichten. Die Instabilität ist gerade in Fällen wie Türkei oder Iran
wegen deren Rolle im internationalen Staatensystem sehr gefährlich,
während sie in Fällen wie Afghanistan vor allem für die Nachbarn ein
Problem darstellt - und mittelfristig auch für uns, etwa durch
verstärkte Flüchtlingsströme. Was man dagegen tun sollte, ist mir völlig
schleierhaft. "Fluchtursachen bekämpfen" ist eine Nullformel, ohne
jeden Inhalt. Auf die Türkei ist man, wie eklig es auch sein mag, dank
der Flüchtlingspolitik angewiesen. Auf den Iran hat kaum jemand
Einfluss. Und so weiter. Man kann nur mit gerunzelter Stirn hinschauen
und Sorge tragen.