Sonntag, 7. März 2021

Fragen eines Illusionärs

 

Ich möchte eingangs Stefan Pietsch zu seinem Beitrag über die "Rentenillusion der Deutschen" danken. Er entsprang meiner eigenen neugierigen Nachfrage zum Thema. Es ist daher nur passend, wenn ich dem Beitrag mit weiteren Fragen antworte, denn so umfassend er auch seine Kritik der aktuellen Rentenpolitik darlegte, ist mir noch vieles unklar. Das soll erst einmal gar keine grundsätzliche Kritik am Beitrag selbst sein; ich möchte vielmehr eine größere Debatte anstoßen (auf die Stefan vielleicht wieder in einem eigenen Beitrag antworten wird?). Ich glaube nur, dass es den Rahmen der Kommentare etwas sprengen würde, all das hier unterzubringen. Genug der Vorrede, worum geht es? Meine Grundfrage ist die: Die ganze Rentenpolitik, das ganze deutsche Rentensystem, beruht auf zwei Prämissen. Einerseits ist es beitragsfinanziert (mit all den Problemen der Belastung des Faktors Arbeit und der Finanzierung anderer Bevölkerungsgruppen, die das mit sich bringt), was wie Stefan richtig beschreibt auch Reformen fast verunmöglicht (weil Anwartschaften existieren) und andererseits soll die Rente dem Anspruch nach eine Lebensstandardsicherung ermöglichen. In den letzten dreißig Jahren gab es periodisch zwar Debatten und Reformen, um die Rente "zukunftssicher" (was auch immer das dann konkret heißen mag) zu machen, aber diese Prämissen werden von der Politik eigentlich nicht ernsthaft angegangen. Meine Frage ist also, wie Reformvorschläge angesichts dieser beiden Prämissen überhaupt umgesetzt werden sollen. Ich würde gerne, weiter in fragender, nicht anklagender, Form diese Gedanken weiterspinnen.

Stefan Pietsch weist zurecht darauf hin, dass eine Flankierung des bisherigen Systems durch ein Kapitalelement verpasst wurde. Gleichzeitig weist er - das war auch meine ursprüngliche Frage an ihn - auf die Beschränktheit des Mackenroth-Theorems hin, das die Verfügbarkeit internationaler Finanzmärkte (im Gegensatz zu rein nationalen Volkswirtschaften) nicht einbezog. Ich kam überhaupt erst auf dieses Thema, weil zwei FDP-Abgeordnete eine "Aktienrente" als flankierendes Element vorschlugen und ich mir unsicher bin, was ich davon halten soll. Grundsätzlich sehe ich Stefans Argument, dass die Aktienrendite für die Rentenanlagen der Deutschen ja nicht in der deutschen Volkswirtschaft verdient werden müssen, sondern auch in stärker wachsenden und strukturell wesentlich jüngeren Volkswirtschaften verdient werden könnten. Das wäre quasi der best case, ein win-win für beide Seiten: das deutsche Kapital findet anders als im Inland ordentlich verzinste Anlagefelder und die Volkswirtschaften erhalten massig Investmentkapital.

Nun erscheint es mir, als würden hier drei Probleme noch nicht wirklich abgedeckt. Der FDP-Vorschlag kümmert sich, anders als etwa die Riesterrente (ein Fehlschlag auf vielen Ebenen, nicht nur, aber sicher auch der Überregulierung), um das erste davon: Ein Großteil der Bevölkerung hat kein übriges Kapital, das in Aktien investiert werden könnte, weil einfach generell wenig Rücklagen existieren. Die einschlägigen Statistiken vom "deutschen" Vermögen, das im Durchschnitt existiert, ist eine Papier-Chimäre. Zwar mögen im Durchschnitt in Deutschland höhere zweistellige Vermögensbeträge existieren, aber in Wahrheit hat die Hälfte der Bevölkerung fast nichts, das sich in Aktien investieren ließe. Die Riesterrente blieb daher auch immer unterentwickelt. Der FDP-Vorschlag ist eine verbindliche Komponente, die den gesetzlichen Beitrag vollkommen ersetzt, würde dieses Problem also aufkommensneutral völlig umgehen.

Das zweite Problem scheint mir, dass das Mackenroth-Theorem ja aber auch weltweit gilt. Klar können deutsche Rentner sich von brasilianischen Anlegern aushalten lassen, und das mag, solange junge, aufstrebende Volkswirtschaften existieren, auch gut gehen. Aber würde dieses System nicht wie ein Kartenhaus zusammenfallen, wenn das nicht mehr gegeben ist? Denn diese Volkswirtschaften müssten das deutsche Kapital ja äußerst produktiv für Jahrzehnte verzinsen. Es ließe sich natürlich grundsätzlich auf neue, attraktivere Märkte verschieben, aber meine Frage ist, wie realistisch die Annahme ist, dass dies den entsprechenden Fonds für die nächsten 40 Jahre kontinuierlich gelingt und was wir machen, wenn nicht?

Das dritte Problem, das sich mir auftut, ist, dass die Menge des Kapitals, das so entstehen würde, gigantisch ist - und stetig wachsend. Den weltweiten Finanzmärkten fehlt jetzt ja schon nicht gerade Kapital; man kann durchaus aus gutem Grund argumentieren, dass gerade das Überangebot an Kapital für die Probleme der Finanzkrisen der letzten 30 Jahre sorgte. Würde also die Injektion von Rentenkapital in der gigantischen Höhe, die nötig wäre um relevanten Eindruck auf die deutsche Altersvorsorge zu machen (deren enormes Volumen Stefan in seinem Artikel ja korrekt beschreibt) nicht das Weltfinanzsystem an einem Überangebot Kapital geradezu ersticken lassen? Mein naiver Eindruck ist, dass dies ohne eine gleichzeitige Beseitigung des aktuellen Überangebots sehr gefährlich wäre - und das hieße, in klassisch linker Manier Ungleichheit zu beseitigen. Ist es möglich, dass hier linke und rechte Wirtschaftskonzepte quasi eine Synthese eingehen müssten?

Das wären erst einmal meine Fragen zur Kapitaldeckung. Dass das ganze System sich nicht grundlegend reformieren lässt, weil die Anwartschaften dies unmöglich machen, hat Stefan ja bereits gut dargestellt. Ohne einen Totalcrash, den sich nicht einmal der radikalste Neoliberale wünschen dürfte, sind wir für Jahrzehnte zumindest zu Teilen auf das beitragsfinanzierte System festgenagelt. Die Grundrente, die der beliebteste Reformvorschlag von liberaler Seite ist, lässt für mich aber auch noch Fragen offen, bei denen ich das Gefühl habe, dass Stefan um sie herumtänzelt, weil sie im Kern delegitimierend sind.

Dazu erst eine kurze Erläuterung: Meinem Verständnis nach bedeutet Grundrente, dass der Staat innerhalb eines bestimmten Korridors eine Rente ausbezahlt, der deutlich kleiner als aktuell ist, oder sogar nur eine fixe Kopfrente. Alle weiteren Auszahlungen, also die Lebensstandardsicherung, müssten durch zusätzliche private Vorsorge erwirtschaftet werden. Es ist quasi das Prinzip von Hartz-IV auf die Rente übertragen: Grundsicherung nach dem Sozialstaatsgebot, aber nicht mehr. Es ist ebenfalls mein Verständnis, dass das deutsche Rentensystem zwar nicht formal, aber doch de facto bereits seit langem in diese Richtung geht. Das Absinken des Rentenniveaus hat ja mittlerweile solche Züge angenommen, dass die meisten Menschen aus der gesetzlichen Rente ohnehin nicht viel mehr herausbekommen.

Stefan kritisierte nun in seinem Beitrag die teuren Reformen der letzten Dekade, vor allem der Mütterrente. Und er hat sicherlich Recht mit der Höhe der Belastungen und dass diese grundsätzlich ungedeckt sind, sprich: sie müssen aus Steuermitteln gedeckt werden. Was mir in allen von eher liberalerer Seite herkommenden Beiträgen zu diesem Thema wie eine kuriose Leerstelle anmutet aber ist die grundsätzliche Frage: Verabschieden wir uns offiziell vom Ziel der Lebensstandardsicherung? Wird also die Rente in Zukunft nicht explizit eine sein, die zwar Grundsicherung ist - genauso wie Hartz-IV, und in ähnlicher Höhe, nur ohne Bedürftigkeitsprüfung und Arbeitszwang - aber darüber nur noch in Ausnahmefällen hinausgeht? Denn wenn das so wäre, müsste man das in meinen eigenen entsprechend deutlich benennen. Das ist, was ich eingangs mit "delegitimierend" meinte. Denn wie Stefan ja ausgeführt hat, bestehen in den eingezahlten Beiträgen und erworbenen Rentenpunkten ja reale Vermögenswerte, die die Politik eigentlich nicht beliebig weginflationieren kann - was ja aber die Entwicklung der letzten Jahrzehnte ist.

Damit kommen wir zur Crux: Ist es das Ziel, dass die Rente mehr tut, als Grundsicherung zu betreiben? Denn wenn ich mir die entsprechenden Reformvorschläge ansehe, muss die Frage mit einem klaren "Nein" beantwortet werden; mehr ist dann nur möglich, wenn es mir gelingt, a) über 45+ Jahre Arbeitsleben Kapital anzusparen und b) dieses Kapital nicht durch die Unwägbarkeiten des Weltgeschehens zu verlieren.

Damit kommen wir zu Stefans Argumentation bezüglich des Renteneintrittsalters. Er gibt eine mittlerweile vertraute Argumentation wieder: das Renteneintrittsalter muss steigen (er nennt die Zahl 70), um den Anstieg der Kosten durch den demographischen Wandel einigermaßen bewältigen zu können. Aber mehr als eine Notlösung ist das ja auch nicht, wenn ich das richtig verstehe. Die grundsätzlichen Probleme bleiben ungelöst, sind in ihrem Kern gar unlösbar (sofern man nicht einfach hinnimmt, dass der steuerfinanzierte Zuschuss zur GRV nicht einfach weiter steigt, was durchaus eine Option ist, wenngleich keine, die sich den Namen "elegant" oder "gut" verdienen würde).

Der spätere Renteneintritt scheint mir zudem - eine weitere Leerstelle - immer davon auszugehen, dass es sich um white-collar-Arbeitende handelt, die tatsächlich bis 70 (oder wann auch immer) arbeiten könnten. Wolfgang Schäuble ist da symptomatisch, als er erklärte, dass er selbst problemlos erst mit 70 in Rente könne. Und Trump und Biden zeigen das ja genauso wie Adenauer auch. Nur: ist das nicht die Ausnahme? Ist nicht die Tatsache, dass durchschnittliche Renteneintrittsalter jetzt schon deutlich unter 65 liegt, ein Hinweis darauf, dass das unrealistisch ist? Wäre ein späterer Rentenbeginn nicht letztlich für breite Bevölkerungsschichten vor allem eines: eine Rentenkürzung? Und, noch als letzter Denkanstoß: Wäre in diesem Zuge nicht am sinnvollsten, dass es überhaupt kein Renteneintrittsalter gibt, sondern die nachgewiesene Erwerbsunfähigkeit entscheidend ist? Manche würden dann bis 80 weiter Vollzeit arbeiten, andere bis 55.

Dazu kommen weiter die Gruppen, die nicht in die GRV einzahlen - etwa Mütter in Elternzeit, Beamte, Selbstständige, etc. - die aber in manchen Fällen trotzdem aus den Rentenkassen Geld beziehen. Der größte solche Influx wird in der Debatte gerne übersehen - die Deutsche Einheit. Hier wäre meine Frage, ob das Verschwinden der Generation, die ihre Rente zwar aus der GRV bezieht, aber nie oder nur kurz eingezahlt hat, weil sie in der DDR ihr Erwerbsleben verbrachten oder danach arbeitslos wurden, nicht zumindest einen Teil der Belastungen "gegenfinanzieren" dürfte.

Die Probleme damit, sich auf steigende Produktivität zu verlassen, hat Stefan in seinem pessimistischen Ausblick ja bereits dargestellt. Ich möchte dazu einige ergänzende Fragen anbieten. Ich sage immer nur halb im Scherz, dass ich nicht damit rechne, mit 67 nicht mehr Vollzeit arbeiten zu müssen: entweder wird es deutlich früher oder später. Das spätere Szenario haben wir mit dem späteren Renteneintrittsbeginn ja bereits diskutiert, aber das frühere verträgt auch einen Gedanken: Vielleicht haben die Utopisten wie Elon Musk ja Recht, und wir steuern auf eine vollautomatisierte Zukunft zu. Diese braucht dann sehr, sehr viel weniger arbeitende Menschen als früher. Wenn wir die verteilungspolitischen Probleme einmal beiseite lassen, würde das die gesamte Rentenfrage auch derart fundamental angreifen, dass alle Überlegungen ohnehin hinfällig wären. Das ist natürlich für die policy-Entwicklung wenig hilfreich, aber wenigstens eine Überlegung wert.

Ich möchte mich abschließend dafür entschuldigen, so viele Fragen gestellt zu haben. Erst einmal danke an Stefan, dass er auf meine ursprünglichen Fragen hin einen so ausführlichen Artkel geschrieben hat. Ich möchte diesen Artikel als Teil einer Konversation und eines Lernprozesses verstanden wissen, nicht als Angriff. Und ich würde mich freuen, wenn daraus ein weiterer Austausch erwachsen kann.

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