Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.
1) Ein feministischer Kanzler
Dabei wird nicht nur Baerbock, sondern auch Habeck mit Geschlechterstereotypen drangsaliert – anders als bei ihr wurde das jedoch kaum thematisiert. Das Gerede über ihre angeblich piepsende Stimme ist ähnlich deplatziert wie Bemerkungen zu seiner Frisur oder seinem Dreitagebart. Habeck dürfte in den Augen vieler einen ebenso irritierenden Angriff auf traditionelle Männlichkeitsvorstellungen darstellen wie der unverhohlene Griff Baerbocks nach der Macht. Er ist der beinahe einzige Spitzenpolitiker, der bewusst mit tradierten Rollenmustern bricht und seine Macht eben ganz selbstverständlich mit einer Frau teilt. Sollte Baerbock schließlich an ihm vorbeiziehen und kandidieren, bliebe Habeck auf seinem emanzipierten Männerbild sitzen wie auf einem Berg ranziger Butter. Nicht wenige Männer dürften sich über diese Niederlage freuen. [...] Nicht nur aus feministischer Sicht scheint es mir deshalb kein Widerspruch zu sein, für einen Kandidaten Robert Habeck zu votieren. Er würde das Amt sicherlich progressiver interpretieren als Markus Söder und mit Abstrichen Olaf Scholz. Man könnte sogar sagen: So wie einst Angela Merkel als Frau im Kanzleramt ein Novum für dieses Land gewesen ist, so wäre nun ein Kanzler und Feminist Robert Habeck ebenfalls ein Novum. In gewissem Sinne sogar eine recht zeitgemäße Fortsetzung von Merkel. Ich jedenfalls glaube, dass sich der Feminismus nicht auf den Ruf nach sichtbaren Frauen in Machtpositionen beschränken sollte. So wie es weiterhin wichtig bleibt, auf die massive strukturelle Ungleichheit zwischen den Geschlechtern hinzuweisen und sie zu bekämpfen, ebenso wichtig scheint es mir, die Allianz mit emanzipierten Männern zu suchen. Denn nur mit ihrer Hilfe lässt sich unser Land zu einem wirklich gleichberechtigten verändern. Und Robert Habeck scheint mir ein solch emanzipierter Mann zu sein. (Jana Hensel, ZEIT)
Ich kenne Habeck und Baerboch beide viel zu wenig, um das verifizieren oder falsifizieren zu können. Aber die Perspektive ist auf jeden Fall ganz spannend. Generell schaue ich auf die K-Frage recht entspannt. Egal, welcheR der Kandidat*innen am Ende das Rennen macht - Söder, Laschet, Scholz, Baerbock oder Habeck - die Republik geht davon nicht unter. Die Kehrseite, wie so oft in der deutschen Geschichte seit 2005, ist, dass von keiner dieser Personen in irgendeiner Weise große Verbesserungen zu erwarten sind. Ich wäre mit Scholz oder Baerbock oder Habeck natürlich glücklicher als mit den beiden Unions-Herren, und hielte sie für das Land auch für besser. Aber es ist, anders als etwa in den USA, keine Frage mit tief greifenden Konsequenzen.
2) Fehlermeldung // Tweet
Hinter diesen Zahlen versteckt sich nicht nur die Ablehnung einzelner Politiker und ihrer Entscheidungen, das gewöhnliche Auf und Ab der öffentlichen Meinung. Hier geht es um mehr. Weil die Pandemiebekämpfung eine staatliche Ganzkörperaufgabe ist, bei der Regierende von der kommunalen bis zur Bundesebene ebenso wie Verwaltungen, Behörden und nahezu alle anderen staatlichen Institutionen ihren Anteil an Erfolg und Misserfolg haben, trifft auch die Unzufriedenheit nun das Ganze. Nicht einzelne politische Wettbewerber verlieren aktuell die Stimmen potenzieller Wähler, sondern der Staat droht, das Vertrauen seiner Bürgerinnen und Bürger zu verspielen. Auch und ausgerechnet jener, die sonst mit pauschalem Politikbashing nichts anfangen können, die den Institutionen nicht nur theoretisch vertrauen, sondern sie oft praktisch verteidigen. Früher hätte man von der politischen Mitte gesprochen, heute könnte man diese Leute die staatstragende Schicht nennen. Wie sie mit dieser Erfahrung umgehen, wird entscheidend dafür sein, wie die Demokratie aus der Pandemie kommt. [...] Das ist fatal. Viele Deutsche sind vielleicht nicht stolz auf ihr Land, sie leiden eher unter den Eigenheiten ihrer Mitmenschen, als sich an ihnen zu freuen, aber dass die Dinge hierzulande einigermaßen funktionieren, das finden sie doch ganz schön. Die stille Gewissheit darüber kommt einem (nüchternen) Ersatz für echten Patriotismus noch am nächsten, sie ist prägend für das Selbstverständnis des Landes. Als Angela Merkel vor vielen Jahren gefragt wurde, welche Empfindungen Deutschland in ihr wecke, antwortete sie: "Ich denke an dichte Fenster!" Nun aber: überall Löcher, Unzulänglichkeiten, Verzögerungen. Die meisten werden deswegen nicht gleich zu wütenden Pauschalkritikern der Politik und ihrer Institutionen. Aber sie verteidigen sie womöglich weniger engagiert als sonst. Sie widersprechen vielleicht nicht mehr, wenn im Büro, in der Familie oder im Internet wieder mal wer auf "die da oben" schimpft. Aber ohne solchen Widerspruch, das ist die langfristige Gefahr, kann Politikverachtung hegemonial werden. (Lenz Jacobson, ZEIT)
Jacobsens Perspektive finde ich eine sehr wertvolle. Die Spinner von den Querdenker-Demos sind ohnehin nicht gerade das stabilste demokratische Element. Aber wenn die Mitte der Gesellschaft nur noch Verachtung für die Politik übrig hat, wenn die Aussage "ich weiß nicht wen ich im Herbst wählen soll, sind eh alle gleich" unisono aus allen Richtungen zu hören ist, dann haben wir ein ernstes Problem. Und das hat sich die Politik kollektiv selbst zuzuschreiben, von den Ministerpräsident*innen über die Minister*innenriege bis hinauf ins Kanzleramt.
3) Hier gibt's was umsonst!
Eines lässt sich heute schon sagen: Die nächste Bundesregierung wird ein Geldproblem haben. [...] Damit ist klar: Die anstehende ökologische Transformation lässt sich nicht aus der Portokasse finanzieren. Die nächste Regierung wird eine strategische Entscheidung treffen müssen, wie sie mit diesen Investitionsnotwendigkeiten umgeht, zumal es ja nicht so ist, dass ansonsten nichts los wäre. Die Alterung der Gesellschaft, der Ausbau der Gesundheitsvorsorge im Zuge der Krise – all das wird den Haushalt in den kommenden Jahren belasten. Und zwar nicht zu knapp. Was also tun? Es spricht viel dafür, die historische Dimension des Klimawandels auch finanzpolitisch abzubilden. Das bedeutet: Wenn es um die Rettung des Planeten geht, dann gelten die üblichen Haushaltsregeln nicht. Kein Geldbetrag ist zu groß, um das Überleben der Menschheit zu sichern. Geld verliert als soziales Konstrukt schlicht seine Bedeutung, wenn es die Menschen nicht mehr gibt. Das wirft natürlich das Problem auf, dass die eine oder andere Regel für den Rest des Haushalts durchaus sinnvoll wäre. Es spricht viel dafür, öffentliche Investitionen durch Kredite zu finanzieren, weil Investitionen einen Ertrag abwerfen, der auch den künftigen Generationen zugutekommt. Die Abwendung der Klimaapokalypse wäre ein ziemlich stattlicher Ertrag, der jede Anstrengung rechtfertigt. Die Experten von McKinsey kommen interessanterweise sogar zu dem Ergebnis, dass sich die Klimaneutralität für ein Land wie Deutschland wirtschaftlich rechnen könnte: Unter dem Strich entstünden durch neue Technologien europaweit fünf Millionen zusätzliche Arbeitsplätze (elf Millionen Stellen würden geschaffen, sechs Millionen fallen weg) und die zusätzlichen Ausgaben würden durch höhere Steuereinnahmen in der Zukunft wettgemacht, so die Prognose. Man könne "net-zero emissions" zu "net-zero costs" erreichen, heißt es in der Studie. Ein wenig simpler formuliert: Der Kampf gegen den Klimawandel kostet uns nichts, zumindest wenn man einen der Sache angemessenen Kostenbegriff unterstellt. (Mark Schieritz, ZEIT)
Ich vertraue McKinseys Zahlen ja ungefähr so sehr wie die meisten Impfgegner*innen Christian Drosten, aber vielleicht überzeugt das ja den oder die eine oder andereN überzeugteN WirtschaftsliberaleN. Grundsätzlich haben wir eine ähnliche Argumentation ja bereits bezüglich der Schuldenbremse und dem grünen Wahlprogramm im letzten Vermischten besprochen. Ich bin ziemlich zuversichtlich, dass diese Fragestellungen mehr und mehr auf die politische Agenda drängen werden, und ebenso zuversichtlich, dass sie über kurz oder lang den seit nunmehr fast 50 Jahren unangefochtetenen wirtschaftsliberalen Konsensus brechen werden, der einfach überholt und am Ende seiner Kraft ist. Die Frage ist eher, wie lange das dauert und ob es rechtzeitig geschehen wird.
4) Portugals Wunder - deutsches Versagen
Premierminister Costa entschuldigte sich - und er reagierte: Es gab einen Lockdown, der den Namen verdient: keine Schule, keine Kita, kein Restaurant - dazu eine SMS an jeden im Land: "Bleibt zu Hause!" Nur wer unbedingt musste, durfte zur Arbeit, das Reisen zwischen Kommunen war untersagt, die Landgrenzen nach Spanien wurden geschlossen, am Wochenende flogen Helikopter über die Strände und kontrollierten die Ausgangssperre. Doch was am wichtigsten war: Die Menschen waren ausreichend erschrocken über die schlimme Lage - sie hielten sich an alle Maßnahmen, übererfüllten sie sogar. Auch, weil die Regierung die Bürger als Partner sah und ihnen nicht drohte, sondern mit ihnen zusammen die Zahlen senken wollte. [...] Genau deshalb hängt Deutschland seit November in einem halben "Lockdownchen", müssen Gastronomen, Händler, Hoteliers, Künstler längst um ihre Existenz bangen - und ein Ende ist nicht in Sicht. Dass Mitte April alles wieder aufgemacht wird - wer glaubt noch daran? Es ist ein Lockdown ohne Ende - und die Zahlen werden weiter steigen, weil mehr getestet wird, aber auch, weil die Bürger so müde sind. Portugal aber macht die Dinge weiter richtig: Die Bürger haben geliefert, und nun werden die Einschränkungen zurückgenommen: Festgelegte Öffnungsschritte im Zweiwochenrhythmus, bis 3. Mai werden auch alle Restaurants und Kultureinrichtungen sogar wieder innen öffnen dürfen. So hat jeder Bürger und jeder Unternehmer eine Perspektive, kann sich orientieren und durchhalten. Während hier noch immer nicht klar ist, wann dieser Alptraum endet. Mit Verweis auf eine Mutante, die sich in den Griff kriegen lässt - das kleine Portugal hat es bewiesen. (Alexander Oetker, NTV)
Die Kritik ist völlig berechtigt. Ich kann die Lage in Portugal nicht beurteilen, vielleicht haben irgendwelche Lesenden da mehr Ahnung und möchten in den Kommentaren Bezug nehmen. Aber die Endlosigkeit der Maßnahmen in Deutschland ist das zentrale Problem. Von meiner Warte aus ist der größte Kritikpunkt, dass nicht einfach einmal ein vernünftiger Lockdown kam, sondern immer dieser Wischi-Waschi-Blödsinn dazwischen; ich weiß aber, dass das diverse Leute hier anders sehen. Das soll gar nicht mein Thema sein, denn andere Ansätze (wie sie, korrigiert mich wenn ich falsch liege, ja unter anderem Jens und R.A. vertreten haben) hätten ja mental ungeachtet ihrer Wirksamkeit den gleichen Effekt gemacht, wenn man sie denn nur stringent verfolgt und kommuniziert hätte. Hat man aber nicht, stattdessen hat man das Schlechteste aus beiden Welten gewählt. Und entsprechend Murks bekommen. Ich wollte aus Markus Feldenkirches Kommentar "Multiples Politikversagen" eigentlich ein eigenes Fundstück machen, aber ich wiederholte mich nur und lass es euch daher zum Lesen da.
5) Die reichsten Amerikaner verstecken ein Fünftel ihrer Einkünfte
Steuerhinterziehung ist in den USA offenbar weiter verbreitet als bisher angenommen – jedenfalls unter Superreichen. Das geht aus einer neuen Studie der US-Bundessteuerbehörde IRS (Internal Revenue Service) hervor, über die die Nachrichtenagentur Bloomberg berichtet. Demnach melden jene Amerikaner, die zum einen Prozent der Superreichen gehören, mehr als 20 Prozent ihrer Einkünfte nicht an die Steuerbehörde. Zufallsprüfungen bei dieser Gruppe würden zwar immer wieder Steuerhinterziehungen aufdecken, heißt es in der Studie. Doch die US-Steuerbehörde würde leicht Vermögen übersehen, das auf Offshore-Konten und in anderen komplizierten Finanzstrukturen verborgen sei. Die Erhebung aller nicht gezahlten Einkommensteuern der Superreichen würde die Einnahmen des US-Finanzministeriums um 175 Milliarden US-Dollar pro Jahr erhöhen, heißt es in der Studie. »Wir betonen, dass unsere Schätzungen in Bezug auf das Ausmaß der Umgehung voraussichtlich konservativ ausfallen«, schreiben die Autoren. Während viele Einkommensformen, einschließlich Gehälter, automatisch an die Steuerbehörde gemeldet und bei einer Basisprüfung leicht aufgedeckt werden, sind die Gewinne privater Unternehmen und komplexer Investitionspartnerschaften schwerer nachzuvollziehen. (svv/mwo, SpiegelOnline)
Das wird in Deutschland nicht anders sein. Deswegen sind die Diskussionen über höhere Spitzensteuersätze letztlich müßig. Was es bräuchte wäre ein konsequenteres Eintreiben. Ich habe so was in die Richtung ja schon einmal thematisiert. Aber da die Finanzämter personell und kompetenztechnisch absichtlich schlecht gehalten werden und die politische Priorität auf der steuerlichen Auspressung der Mittelschicht liegt, passiert da wenig. Das ist eine weltweite Frage von Wollen. Und gewollt wird nicht. Die Gründe dafür können sich alle denken.
6) Europe’s decarbonisation challenge? ‘Wir schaffen das’
This is where politics comes in. If the gap were to be closed by public expenditure, Europe’s governments would, according to McKinsey, need to mobilise €4.9 trillion in subsidies over 30 years. That is the amount of profit taxpayers would need to offer investors to get them interested in the energy transition—€365 for every man, woman and child in the EU27, every year for 30 years. Painful and unfair, no doubt, but hardly inconceivable. In any case, the public purse is only one way of driving business investment. An alternative is to use carbon pricing. McKinsey estimates that with a carbon price of €100 per ton 80 per cent of the necessary investment could be justified on commercial grounds. The funds generated from an emissions-trading system could then be recycled in subsidies and other promotional spending. In hard-to-abate sectors, direct interventions would remain indispensable. [...] Yet all the more striking is that, in charting the path to net-zero, neither the commission nor McKinsey presumes radical changes in lifestyle on the part of the European population. Less travelling and more sensible use of energy at home could help. So too could a shift away from meat-eating. Any one of those changes would swing the balance a percentage point here or there. According to McKinsey’s model, a suite of behavioural changes could reduce EU emissions by 15 per cent, substantially helping to close the gap as far as the hardest to abate sectors are concerned. But the basic change has to happen in infrastructure. [...] The political and economic challenges ahead are no doubt huge. On a global scale, they are even more so. But investing in the clean-energy transition and green modernisation may turn out to be one arena in which Europe can, in fact, offer its citizens a dynamic and promising future. (Adam Tooze, Social Europe)
Toozes Optimismus hier ist wohltuend. Wenn ich es richtig verstehe, beruft er sich auf dieselben McKinsey-Zahlen wie in Fundstück 3; wenn jemand Einblicke hat, wären die daher sehr willkommen. Unabhängig davon, wie realistisch das alles ist (die Lektüre des ganzen Artikels lohnt sich, er enthält viele Zahlen und Analysen und ist deutlich länger als der Ausschnitt hier), die große Chance dieses Ansatzes sehe ich in den zitierten Aspekten: er erzählt eine Story, die tatsächlich mehrheitsfähig ist. Anders als die in manchen links-ökologischen Kreisen leider weit verbreitete "Ende des Wachstums"-Narrative bietet Tooze (über den Umweg McKinsey) ein "wir müssen uns nicht einschränken, bekommen tolles Wachstum und eine bessere Welt"-Narrativ an. Egal, wie realistisch es ist, werden es abseits großer Katastrophen, die wir ja gerade zu vermeiden suchen, solche Narrative sein, die am Ende Mehrheiten gewinnen.
7) Schaut auf dieses Land!
Die Bundesregierung, so scheint es, interessiert sich nur dann für die Türkei, wenn Erdoğan Flüchtlinge nach Europa schickt oder deutsche Journalisten verhaften lässt. Es ist an der Zeit, dass sie eine mittel- bis langfristige, tragfähige außenpolitische Strategie entwickelt. [...] Erdoğan braucht einen Sündenbock für den Niedergang der Wirtschaft. Wenn die EU Sanktionen gegen die Türkei verhängt, wie es viele fordern, hätte er diesen gefunden. Natürlich läge es nahe, die Regierung in Ankara für ihre Attacken auf die Demokratie zu bestrafen. Doch die EU-Staaten haben gegenüber der Türkei viel zu oft ihren Reflexen nachgegeben. Sie täten gut daran, diese diesmal zu unterdrücken. Je weniger Angriffsfläche sie Erdoğan in der gegenwärtigen Krise bieten, desto besser. Der Präsident schadet sich gerade selbst am meisten, wie die Demission des Zentralbankchefs beweist. Umgekehrt heißt das nicht, dass die EU auf Erdoğan zugehen sollte. Eine Erweiterung der Zollunion, wie sie manche EU-Offizielle Ankara in Aussicht gestellt haben, wäre ein Fehler. Dafür müsste Erdoğan zumindest politische Gefangene wie Osman Kavala oder den ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş freilassen. Zugeständnisse ohne Gegenleistung wären zu diesem Zeitpunkt genauso falsch wie Sanktionen. Die Europäer sollten Erdoğan auf Abstand halten, nicht jedoch die Türkei. Es ist in dieser Phase wichtiger denn je, Felder der Zusammenarbeit zu definieren. [...] Die EU muss sehr genau darauf achten, dass die Gelder, die sie der Türkei im Zuge des Flüchtlingsdeals zahlt, auch wirklich bei den Betroffenen ankommen. [...] In Europa haben in den vergangenen Jahren viele die Türkei mit Erdoğan gleichgesetzt. Es ist an der Zeit, endlich das gesamte Land in den Blick zu nehmen. (Maximilian Popp, SpiegelOnline)
Wie an so vielen Stellen gilt leider, dass eine außenpolitische Strategie in Deutschland nicht wirklich existiert. Die in diesem Artikel ausgebreiteten Ideen mögen ja gut und richtig sein, aber die EU schafft es ja nicht einmal zu verhindern, dass ihre Hilfsgelder von der PiS und Fidesz für ihren kleptokratischen Klientelismus verwendet werden. Und das sind EU-Mitglieder, die technisch gesehen den Regeln und Institutionen unterworfen sind. Wie die EU Einfluss auf die Verteilung von Geldern in der Türkei nehmen will, in der mittlerweile eine offene Diktatur herrscht, ist mir völlig schleierhaft. Vielleicht bin auch zu pessimistisch, und die von Popp hier skizzierte Strategie könnte Erfolg haben. Ich glaube es nicht, aber wenn: dann sehe ich noch nicht, wie ausgerechnet Deutschland das in eine kohärente Strategie umsetzen sollte. Vielleicht bin ich zu pessimistisch. Aber ich fürchte nicht.
8) „Gericht in der Gefahrenzone“ (Interview mit Adam Tooze)
Corona wütet schon seit einem Jahr. Aber die geplanten 750 Milliarden Euro werden wahrscheinlich erst ab Sommer ausgezahlt. Kommt die Hilfe zu spät?
Das Paket ist keine unmittelbare Hilfe – hat aber trotzdem sofort gewirkt. Denn es war ein Signal der europäischen Solidarität, was die Stimmung an den Finanzmärkten gleich verändert hat. Weltweit haben die Anleger verstanden, dass sich die Eurokrise nicht wiederholen würde. Also sind die Zinsen gefallen, weil für die großen Fonds klar war, dass europäische Staatsanleihen sicher sind. Dazu hat auch beigetragen, dass die Europäische Zentralbank EZB die Staatsanleihen aller Mitgliedsländer aufkauft – also auch von Italien oder Griechenland.
Die Hilfsgelder sollen in bestimmte Projekte fließen. Zum Beispiel in Klimaschutz oder Digitalisierung. Ist diese Koppelung sinnvoll? Wird es dadurch nicht zu bürokratisch?
Sicher, man kann Gelder auch schneller ausgeben. In den USA hat man einfach Schecks verteilen lassen. Aber das EU-Programm will langfristige Industriepolitik betreiben – und gleichzeitig auch die Steuerungskapazitäten aufbauen, um diese Mittel zu verwalten. Die Folgen sieht man etwa an Italien. Dort wurde die ganze Regierung ausgetauscht, um zu entscheiden, was mit dem Geld geschehen soll. Und der einstige EZB-Chef Mario Draghi ist jetzt der Premierminister. Um die geplanten Programme auszuarbeiten, hat Italien dann Unternehmensberater angeheuert. [...]
Viele Deutsche haben Angst, dass die EU zu einer Art Selbstbedienungsladen für die ärmeren Länder wird, wenn die Kommission unbegrenzt Schulden machen darf.
Diese Angst ist unnötig. Das jetzige Hilfsprogramm wird engmaschig begleitet und kontrolliert. Zudem sollte man nicht vergessen, dass die EU und vor allem die Eurozone ein einheitlicher Wirtschaftsblock mit einer gemeinsamen Währung sind. Da benötigt man eine gemeinsame Finanzpolitik, vor allem in Krisenzeiten. Dies kann natürlich auch eine gewisse Umverteilung bedeuten, damit der gesamte Wirtschaftsraum prosperiert. Dennoch sollten sich die Deutschen nicht als Opfer fühlen. Die Bundesrepublik hat einen enormen Einfluss auf allen Ebenen der EU und gewinnt vor allem durch den Handel.
Deutschland wird 65 Milliarden Euro mehr zahlen, als es bekommt, wie der Bundesrechnungshof schätzt. Ist das eine gute Investition?
Unbedingt. Denn Deutschland ist ein Exportland, und die EU ist der wichtigste Handelspartner. Die Bundesrepublik profitiert enorm, wenn auch die Nachbarn wohlhabende und stabile Länder sind. (Ulrike Herrmann, taz)
Der leider übliche volkswirtschaftliche Analphabetismus der Deutschen zeigt sich auch hier wieder einmal. Denn tatsächlich ist dieses Geld ja nicht einfach futsch, sondern stabilisiert einerseits genau die Märkte, ohne die der "Exportweltmeister" Deutschland ziemlich alt aussehen würde. Andererseits aber werden Investitionen in die Zukunft getätigt, denn die Kontruktion der Hilfsgelder ist ja tatsächlich gerade nicht dem Klischee entsprechend, dass da irgendwelche unsolide wirtschaftenden Südländer einfach ihre Finanzlöcher stopfen. Gerade die Kopplung mit grünen Iniativen ist ungewohnt für die EU, die für gewöhnlich nicht mit so viel Weitblick agiert. Damit platziert sie sich in dieser Kategorie auch deutlich vor der Bundesregierung (niedrige Latte, ich weiß), die mit den Milliardenhilfen Strukturen förderte, die auf dem absteigenden Ast sind, statt gleich Investitionen in Zukunft und Strukturwandel vorzunehmen. So bestätigen sich immerhin die neoklassischen Vorurteile der schlechten Staatsinvestitionen. Das Problem sind da aber mehr die schwarzen Nullen an den Entscheidungsstellen.
9) Tweet
Hier sieht man sehr deutlich, wie viel das Geschwätz von "den Menschen zuhören" und "Respekt" und wie die anderen Buzzwords lauteten wert waren, als es um Pegida, die AfD-Wähler*innen und die Querdenker-Spinner*innen ging. Wo ist die gleiche Forderung nach Zuhören, nach Respekt, die gleiche Neugier, wo sind die Gesprächsangebote, wenn es um diese Menschen geht? Stattdessen urteilt ein Ulf Poschardt, dessen Liberalismus sich am Tempolimit erschöpft, das als "grotesk" ab. Auf die Idee, Porträts von Grünen-Wählenden zu schreiben, in deren Hochburgen zu fragen und zu schauen, wer diese Menschen sind und was sie antreibt, darauf kommt bei der Welt keiner. Diese Ehre bekommen zwar Rassist*innen, aber nicht Leute, die grün wählen.
10) Fossile Verbindungen
Dass die Union klimapolitisch bei jeder Gelegenheit bremst und für fossile Brennstoffe streitet, ist nichts Neues. Aber wer sind die Leute, die dafür sorgen? Neben Bareiß werden zum klimapolitischen »Bermudadreieck« die CDU-Abgeordneten Carsten Linnemann und Joachim Pfeiffer gezählt. [...] Die Verhandlungen über die EEG-Novelle werden nun schwierig, denn zu der Unionsgruppe, die sie führen sollte, gehörte neben Pfeiffer auch noch Georg Nüßlein von der CSU. Der Name kommt Ihnen vermutlich auch bekannt vor – auch Nüßlein flog aus der Fraktion, weil er gemeinsam mit seinem CSU-Kollegen Alfred Sauter (Nebenjob: Abgeordneter) für Maskendeals gewaltige Provisionen über undurchsichtige Kanäle bekommen haben soll. Sauter erklärte dem BR zufolge, er sei überzeugt, in keiner Weise gegen Abgeordnetenpflichten und gegen Gesetze verstoßen zu haben. Ein Geschäftspartner von Sauter und Nüßlein wurde am Donnerstag festgenommen. [...] Anderswo in der Union geht man mit dem Thema offener um. Stanislav Tillich (CDU) zum Beispiel, ehemaliger Ministerpräsident von Sachsen, war einer der vier Vorsitzenden der sogenannten Kohlekommission der Bundesregierung. Die handelte den sehr fragwürdigen Kohlekompromiss aus, demzufolge in Deutschland noch bis 2038 Kohle verfeuert werden darf. Die Branche war mit dem Ergebnis offenbar zufrieden. Seit 2019 ist Tillich der Aufsichtsratsvorsitzende des Braunkohlekonzerns Mibrag. (Christian Stöcker, SpiegelOnline)
Wo wir gerade bei schwarzen Nullen sind: Man muss sich nicht sonderlich anstrengen um eine Vorstellung davon zu bekommen, woher die Probleme innerhalb der CDU stammen. Als Seitenbemerkung: ich finde es faszinierend, wie etwas, das eigentlich sattsam bekannt sein sollte, angesichts eines so kleinen Auslösers wie der 250.000 Euro Maskenprovision jetzt wie ein Dammbruch ans Licht kommt. Absolut verdient im Übrigen. Aber ich schweife ab. - Die Rückwärtsgewandtheit der CDU und ihre verfilzten Strukturen beeinflussen eben auch die deutsche Klimapolitik. Wo sich die Bremser ihr zerstörerisches Tun von der CO2-Industrie auch noch fürstlich entlohnen lassen, braucht man sich jedenfalls nicht zu wundern. Auch dürfte kaum überraschen, dass das Ansehen der Politik angesichts der jüngsten Skandale wieder einmal neue Tiefstände erreicht.
11) The Global Climate Ledger
Europe and the United States are hugely unequal capitalist societies. A jet-setting executive, a single mother on welfare, and a peasant farmer do not make the same contribution to the climate crisis, whether they live in France, the United States, or China. In the aftermath of austerity measures passed during the eurozone crisis, it was political suicide to ask working-class Europeans to make bigger sacrifices for global climate measures. If green activists pointed out that Europe’s emissions were artificially reduced because so much industrial production had been shifted to China, the response of many Europeans was that they would happily have the emissions back, along with the jobs that went with them. How, then, to establish a fair system of global climate funding? The obvious answer was that taxes should be assessed on the basis of individual income, which both defined the ability to pay and was closely correlated with carbon emissions. The crucial question was about the appropriate burden for middle- and low-income people in affluent countries compared to the rich both at home and in the booming emerging market economies. Radical Indian environmentalists had long accused their local elite of “hiding behind the poor.” The first statistical estimates released at the time of the Copenhagen climate conference in 2009 showed how national averages determined by poor populations hid the exorbitant lifestyles of poor-country elites. [...] Attributing CO2 emissions across the global income distribution is a complicated business. [...] The results of the statistical labor by Piketty and Chancel was to confirm the common sense of the climate justice movement. The top 10 percent of emitters in the global distribution contributed about 45 percent of total emissions, while the bottom 50 percent emitters were responsible for only 13 percent. [...] Adjusting to this shifting balance of global emissions has been the basic challenge of climate politics from the 1990s onward: How to bind everyone in, and to do so fairly? (Adam Tooze, Dissent Magazine)
How to, indeed. Das ist eine Kernfrage, von deren Lösung mit abhängen wird, inwiefern Maßnahmen gegen den Klimawandel überhaupt erfolgreich sein können. Denn ohne Indien, China, Brasilien wird es unmöglich sein, diese Krise zu lösen, und ihnen einach verbieten, den Lebensstandard ihrer Bevölkerung zu heben, ist kein sonderlich erfolgversprechender Ansatz. In irgendeiner Art wird die Lösung der Klimakrise daher ein gigantisches, weltweites Umverteilungsprogramm erfordern, das die Kosten für die CO2-Neutralität so verteilt, dass die entwickelnden Nationen den Sprung schaffen können, ohne den gleichen Zyklus wie der Westen zu durchlaufen. Die gigantische Klimaverschmutzung, die mit unabsehbarer Dynamik aus China kommt, ist ein ungelöstes Problem unserer Tage, um nur das vordringlichste zu nennen. Und auf diesem ganzen Feld gibt es einen furchtbaren Mangel an Vorstellungskraft.
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