Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.
1) „Wir wollten nicht niedlich sein“ (Interview mit Christoph Biemann)
Dieter Kassel: Zu modern, zu schnelle Schnitte, nicht pädagogisch genug, überhaupt nicht geeignet für Kinder, überfordert das Gehirn – so lautete die Kritik an einem völlig neuen Phänomen im Fernsehen, nein, nicht MTV, sondern „Die Sendung mit der Maus“. Als sie vor 40 Jahren zum ersten Mal zu sehen war, gab es viele Bedenken. Heute gibt es viele Glückwünsche. Dieser hier kommt von Oliver Witt.
Oliver Witt über „Die Sendung mit der Maus“. An ihrem heutigen 40. Geburtstag habe ich mit einem der Mausmacher geredet, mit Christoph Biemann, das ging allerdings nur vor der Sendung, denn inzwischen ist er auf dem Rosenmontagszug, auf dem Maus-Wagen. Aber heute Morgen habe ich ihn noch fragen können, was er eigentlich damit meint, wenn er immer mal wieder gesagt hat, dass man damals, Anfang der 70er-Jahre, eine solche Sendung einfach machen musste, wieso das muss.
Christoph Biemann: Die Sendung musste es geben, weil die Kinder einfach ferngesehen haben, und sie haben hauptsächlich Werbung gesehen und waren begeistert von den kleinen Animationen dazwischen, von den kleinen Trickfilmfiguren und von den, ja, sehr eingängigen, gut gemachten Werbespots. Gleichzeitig gab es bei uns den sozusagen aufklärerischen Impetus, halt den Kindern was zu erzählen, für die Türen zu öffnen, ihnen sozusagen auch ein bisschen die Welt zu zeigen, ja, das hat sich praktisch von selber angeboten.
Kassel: Gab es damals auch – wir reden ja über eine Zeit, da war die 68er-Revolte natürlich gerade passiert oder war in vollem Gange, da gab es aber natürlich auch noch starke konservative Strömungen –, gab es Diskussionen darüber, ob man damals eine Sendung so spielerisch, so locker-leicht machen durfte für Kinder oder ob man ein bisschen mehr Disziplin brauchte?
Biemann: Also es gab schon Diskussionen, also gerade Pädagogen haben da stark gewettert gegen die Maus, das wir irgendwie alles zukleistern, dass wir Musik machen, zu bunt, zu laut, zu schnell sind, da gab es viele Proteste. Aber die Kinder haben es trotzdem geguckt, und das war für uns das Wichtigste. Heute sehen die Leute das ganz anders. (Dieter Kassel, DLF)
Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag der "Sendung mit der Maus". Kindheitserinnerungen werden wach. Ich verlinke den Artikel aber vor allem wegen der Erinnerung an die Albernheit der Kritik, die das Format ertragen musste. Es ist erstaunlich, wie verknöchert-konservativ selbst eine gefühlt so nahe Zeit wie die 1980er Jahre waren. Dass ein so den Geist der Pädagogik atmendes, unglaublich harmloses Format wie die "Sendung mit der Maus" eine so übertriebene Kritik auf sich zog, sollte angesichts der völlig abgedrehten Debatten unserer Tage - erinnert sei nur an Manfred Spitzer - eigentlich nicht verwundern. Bleibt eigentlich nur zu hoffen, dass die heutigen alsbald genauso absurd wirken wie die Kritiker*innen der "Sendung mit der Maus" es heute tun.
Oft wird es »Burkaverbot« genannt – obwohl die Burka ein Kleidungsstück aus Afghanistan ist, das in der Schweiz laut Experten von keiner Frau getragen wird. Die Initiative richtete sich in erster Linie gegen den islamischen Gesichtsschleier, den Nikab – auch dieser ist in der Schweiz kaum verbreitet. Nur etwa 30 Frauen, größtenteils Konvertitinnen, tragen ihn. Doch es ging in dieser Abstimmung nie wirklich um diese Frauen. Es ging ums Prinzip: um Identitätspolitik von rechts. Das Signal, das von dieser nationalen Entscheidung ausgeht, ist bitter. Wieder einmal ist es Populisten in einem europäischen Land gelungen, Stimmung gegen Muslime zu machen – und aus dieser Stimmung eine Regelung abzuleiten, die inhaltlich wenig, symbolisch aber viel verändert. Der Artikel 10a, der nun in die Schweizer Bundesverfassung aufgenommen wird, ist für das Land bereits die zweite in einer Volksabstimmung angenommene Bestimmung, die sich explizit an Muslime richtet. Sie signalisiert ihnen: Ihr steht unter besonderer Beobachtung – und seid nur eingeschränkt willkommen. Schon 2009 wurde die Verfassung durch einen Passus ergänzt, der den Bau von Minaretten im Land verbietet. Hinter beiden Initiativen stand ein rechtskonservatives Komitee, das die »christliche Leitkultur« der Schweiz verteidigen will und vor einer »Islamisierung« des Landes warnt. [...] Am wichtigsten aber wäre ein Grundsatz, der sich in allen europäischen Verfassungen findet: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Gerade liberale Politikerinnen und Politiker stellten sich in der Schweiz deshalb gegen das Verbot. Zu Recht. Es bleibt ein ernüchterndes Fazit: An diesem Sonntag haben in der Schweiz diejenigen gewonnen, die nicht mit Muslimen, sondern über Muslime reden wollen. Ihr knapper Sieg ist ein Sieg der Ignoranz.
Ich finde die Debatte schwierig, wesentlich schwieriger jedenfalls als noch vor einigen Jahren, wo ich mir in meinem Werturteil ziemlich sicher war. Denn ich kann ja schlecht argumentieren, dass Verbote in meinen präferierten Politikbereichen und von "meinem Team" gut und wichtig sind, aber hier, wo es von rechts kommt, plötzlich nicht. Denn klar, es gibt keine Burka- und so gut wie keine Nikab-Trägerinnen, weder in der Schweiz noch in Deutschland. Auf der anderen Seite aber geht es ja ums Prinzip, denn diese Dinger sind ja identitätspolitisch von beiden Seiten aufgeladen. Ähnlich einer kaputten Uhr, die zweimal am Tag richtig geht, haben die Rechtsextremisten ja recht, wenn sie diese Kleidungsstücke mit Islamismus in Verbindung bringen.
Ich finde auch die zweite Argumentationslinie hier nicht unproblematisch. Ich bin schon kein Freund von "Mit Rechten reden", warum also sollten wir mit Islamisten reden? Mit Muslim*innen: sofort! Aber die sind davon ja letztlich gar nicht betroffen, und das wird mir hier zu sehr durcheinandergerührt. Schwierige Geschichte, das.
Und gleichzeitig: Das "Warum" ist wichtig! Diese Abstimmung ist nichts als rechte Identitätspolitik, Hass auf einem Wahlzettel. Das muss man auch klar benennen. Den Neonazis geht es ja nicht um die Partizipationsrechte muslimischer Frauen; die haben es ja schon nicht so mit Gleichberechtigung in Deutschland. Auch da muss man das Minenfeld dieser Thematik navigieren.
Jedes Mal, wenn ich gegen die Unsinnigkeit von Noten wettere, höre ich ein bekanntes und gleichermaßen falsches Gegenargument: »Aber Noten sind doch wichtig für meine Bewerbung?!« Nein, sind sie nicht – zumindest nicht so wichtig, wie es manch einer denkt. Im Hochschulranking der »Wirtschaftswoche« werden in regelmäßigen Abständen Personalmenschen befragt, welche Eigenschaften sie bei Hochschulabsolventinnen und -absolventen schätzen. Dabei wird nicht nur aufgenommen, welche Unis und welche Studienfächer am besten abschneiden, sondern auch, welche Qualifikationen besonders gefragt sind. Die Abschlussnote rangiert in dieser Liste nur auf Platz 4 (39 Prozent). Am wichtigsten wird die Persönlichkeit der Bewerbenden (66 Prozent) eingeschätzt, gefolgt von ersten Praxiserfahrungen (60 Prozent) und der Abschlussart (50 Prozent). Demnach sind Noten für Recruiter nicht der entscheidende Punkt. Sie können allerdings (bei sonst gleichen Rahmenbedingungen) den Unterschied machen – was zumindest im Hinblick auf den Faktor »Persönlichkeit« eher ein theoretischer Fall sein dürfte. [...] Dazu ein kleiner Denkanstoß: Möchtest du für ein Unternehmen arbeiten, dass dich aufgrund einer einzigen Kennzahl auswählt? Ist es das, wofür du fünf Jahre lang studiert hast? Um dich dann für eine Zahl rechtfertigen zu müssen? Und falls du den Job bekommst: Bist du bereit, dieses Kennzahlenspiel deine gesamte Karriere mitzuspielen? Bei jedem Bonus? Bei jeder Beförderung? Bis zur Rente? (Tim Reichel)
Die Tatsache, dass Noten völlig überbewertet werden, könnte eine ganze Artikelserie füllen. Ich will mich an der Stelle auf die übliche Sorge konzentrieren, dass sie bei Bewerbungen die entscheiden Kenngröße sind. Das Problem an der Sache sind die Personaler, die nicht in der Lage zu sein scheinen, das zu erkennen und zu durchschauen. Das ist generell so eine Profession, in der die Esoterik dominiert. Nirgendwo sonst werden auf so dünner Grundlage so weitreichende Entscheidungen getroffen. Aber ich schweife ab.
Ein Beispiel dafür, dass Noten alles bestimmen (und damit auch Reichels Argumentation etwas widerlegen) ist die die Lehrkräfteeinstellung. Lehrkräfte werden einzig und allein auf Basis ihres Notenschnitts eingestellt. Andere Kriterien spielen keine Rolle. Und manchmal fragt man sich, ob das nicht insgesamt besser wäre, denn die von Reichel genannten Kriterien - Persönlichkeit der bewerbenden Person allen voran - sind so grotesk diskriminierend, dass die Einstellungspraxis der Regierungspräsidien dagegen wie ein Hort von Vernunft und Effizienz erscheint.
4) Die Welt abbilden, wie sie ist
Aus diesem Anlass haben wir unsere Kolleginnen und Kollegen aus dem Datenteam gebeten zu analysieren, wie häufig wir in unseren Texten Männer und Frauen zitieren, beschreiben und über sie berichten. Sie haben dafür alle Texte ausgewertet, die zwischen dem 1. März 2020 und dem 28. Februar 2021 im gedruckten SPIEGEL oder im freien Bereich von SPIEGEL.de erschienen sind. Das Ergebnis ist ernüchternd. In den rund 40.000 Artikeln werden 107.000 Mal Männer und nur 28.000 Mal Frauen namentlich genannt. In 73 Prozent aller Veröffentlichungen werden Männer erwähnt, in lediglich 37 Prozent Frauen. In 42 Prozent der Texte kommen ausschließlich Männer als Protagonisten oder Experten vor, nur in sechs Prozent aller Artikel sind es Frauen. Dass dieses Verhältnis unausgeglichen sein würde, war uns klar. Dass es aber so eindeutig zuungunsten der Frauen ausfällt, hat uns nachdenklich gemacht. Der SPIEGEL berichtet über die Mächtigen aus Politik und Wirtschaft, über Staats- und Regierungschefs, über Unternehmenslenker. Wir decken Missstände in unserer Gesellschaft auf und prangern jene an, die sich nicht korrekt verhalten. Wir könnten es uns jetzt einfach machen und sagen: Die Mächtigen und Einflussreichen, aber auch die, die für Missstände verantwortlich sind, sind nun mal in der Mehrzahl männlich – wir bilden also nur die Realitäten ab. Aber das wäre zu billig. Denn es gibt ja längst genügend Politikerinnen, Unternehmenschefinnen, Wissenschaftlerinnen, Lehrerinnen, Ärztinnen, Historikerinnen – also Expertinnen in den jeweiligen Gebieten. Sie sind nur nicht immer so prominent, drängen sich nicht sofort auf, stehen nicht immer in der ersten Reihe. Zu unserem Job gehört es, sie zu entdecken. [...] Jetzt muss es uns vor allem gelingen, die gelernten Denkmuster zu verändern. Und das geht, die BBC hat es vorgemacht. Vor vier Jahren startete die öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt der Briten das Projekt »50:50«. Dessen Ziel: In allen Sendungen und in allen Beiträgen so viele Frauen zu Wort kommen zu lassen, wie es der Realität entspricht: 50 Prozent. Die BBC hat das geschafft. Wir können hier nicht versprechen, dass wir bis zum nächsten 8. März ebenfalls so weit sind. Aber wir wollen es wenigstens versuchen. Damit wir dann nicht wieder nur über Dinge schreiben, die wir längst hätten anders machen können. (Steffen Klusmann, SpiegelOnline)
Zuerst einmal: Gut, dass der Spiegel da so selbstkritisch ist, und gut, dass sie in die Richtung gehen. Ich mag vor allem das Framing, in das sie das packen: Es geht nicht um eine Bevorzugung oder ein Vorziehen von Frauen, um deren Anteil zu erhöhen, sondern um die Sichtbarkeitmachung dessen, was bereits da ist. Und damit eine Änderung gesellschaftlicher produzierter und reproduzierter Verhältnisse.
5) Mini UBI Experiments Don’t Tell Us Very Much At All
I suppose I've read a hundred pieces like this over the past few years. Some describe American experiments. Finland did one a few years ago. Africa is a popular place for philanthropies to run UBI projects. The problem is that none of them really tests the Universal Basic Income thesis in a way that matters for the United States.[...] Now, there's an obvious problem with my requirements: The only kind of test that qualifies is very expensive and takes a very long time to return results. Including both the cash and the people to run the experiment, we're probably talking $30-100 million depending on how rigorous the test is. This is hardly impossible if some billionaire gets really interested in the idea, but that's what it would take. In the meantime, the raft of experiments that are done in poor countries; or last for only a year or two; or involve small monthly stipends—well, they just don't tell us much. I honestly don't think there's an answer to this. (Kevin Drum, Jabberwocky)
Ich bin bekanntlich überhaupt kein Freund des Grundeinkommens, und solche unseriösen "Experimente" nerven mich total. Das Spiegelbild davon sind diese besonders in den Nullerjahren beliebten Dokus und Experimente, wo "normale" Menschen für einen Zeitraum X (meist nur einen Monat oder so) mit Hartz-IV auskommen sollten und dann feststellten, dass das zwar ätzend ist, aber schon geht. Klar, wenn ich weiß, dass ich nach X einen mehrfachen Faktor wieder zur Verfügung habe und in der Zwischenzeit sogar was gespart, dann ertrag ich das. Nach fünf Jahren alleinerziehend sieht die Lage vielleicht etwas anders aus. Dasselbe gilt für das BGE. Auch wenn ich das zwei Jahre bekomme, ist es letztlich nur ein nettes Zusatzgeld. Das sagt überhaupt nichts.
Weil aber aussagekräftige Experimente effektiv unmöglich sind, bleibt das komplette BGE-Projekt eine reine Glaubenssache. Wir brauchen einen oder besser mehrere Staaten, die es komplett umsetzen. Dann kann man überhaupt mal erste Aussagen machen, und auch deren Gehalt wird arg beschränkt sein. Die einzige Möglichkeit herauszufinden, ob das in Deutschland funktioniert, ist, es einzuführen. Das gilt für jede größere Transformation. Bis dahin werfen wir uns nur Hinweis-auf-Folgen-Argumente an den Kopf. Sicherlich intellektuell unterhaltsam, aber ultimativ irrelevant.
6) Identitätspolitik ist überall
Dass Identitätspolitik erst seit einer Weile breit als Problem diskutiert wird, liegt daran, dass sie von vielen überhaupt erst als Identitätspolitik erkannt wurde, als sie das Hergebrachte, Unhinterfragte, Normale infrage stellte. So gewendet, ließe sich Identitätspolitik als Kategorie vielleicht retten, ließe sich mit ihr eventuell sogar etwas anfangen, wenn man sie nicht gleich verabschieden möchte. Sie würde eine Verfremdung bewirken, es erlauben, das zu sehen, was sich dem Auge bisher durch schiere Alltäglichkeit verborgen hat. Wo es überall über die Stärkung oder Infragestellung von Identität geht, wo um Wertschätzung und Anerkennung. Man könnte dann vielleicht sogar die Unterscheidung aufrechterhalten, die gern und selten gut belegt als Vorwurf formuliert ist. Identitätspolitik beschäftige sich mit Nebenwidersprüchen und vergesse die materiellen Fragen, den Klassenkampf, die Umverteilung (und deshalb schade er der Linken so – ein Argument, das verdächtig leidenschaftlich von Liberalen, Bürgerlichen und Rechten gemacht wird). So ließe es sich ja definieren: Identitätspolitik ist, was auf die immaterielle Anerkennung einer Gruppe zielt. Dann wäre die Mütterrente keine reine Identitätspolitik, obwohl sie starke identitätspolitische Züge hat. Dann wäre aber auch die Forderung nach Quotenregelungen keine reine Identitätspolitik, weil sie ebenfalls sehr reale, konkrete, materielle Folgen hat: Uniplätze, Verwaltungsjobs, Vorstandposten. Dann wäre die Auseinandersetzung endlich symmetrisch, Identitätspolitik nicht mehr nur ein Vorwurf, den die einen gegen die anderen erheben können. Dann könnte man nicht jede Forderung nach Anerkennung durch eine Gruppe einfach abtun. Dann könnte man sich stattdessen genauer anschauen, welche Gruppen aus welchen Gründen um welche Form der Anerkennung kämpfen – auch auf die Gefahr hin festzustellen, dass manche der bisher abgewehrten Ansprüche ziemlich schlecht zu verwehren sind. Dann könnte man andererseits sogar produktiv fragen, welche Ansprüche überzeugend sind und ob die Art, wie sie geltend gemacht werden, hilfreich ist. Man könnte, anders gesagt, mit Identitätspolitik in diesem Sinne umgehen wie mit anderen politischen Ansprüchen auch. Solange die Diskussion aber nur um einen Teil aller Identitätspolitiken kreist und andere konsequent ignoriert, wird sie nur Verletzungen produzieren, keine Erkenntnis. (Jonas Schaible, SpiegelOnline)
Der lange, lesenswerte Aufsatz greift viele Elemente auf, die ich in meinem eigenen Artikel zur Identitätspolitik auch besprochen habe. Ich möchte daher hier den Schluss thematisieren, vor allem in Bezug auf die aktuelle Debatte in der SPD und die Idee der Unvereinbarkeit klassisch sozialdemokratischer Politik und "Identitätspolitik". Das ist so nicht korrekt, denn diesen vielzitierten Widerspruch zwischen niedrigen Einkommen und moderner Genderpolitik gibt es so überhaupt nicht. Es ist sicherlich richtig, dass die Betonung der "kosmopolitischen" Seite dieser Debatte wenig Wähler*innenstimmen für die Sozialdemokratie generiert, aber es ist genauso falsch zu glauben, dass man das Thema ignorieren könne. Es ist eine Frage des Framings.
Es ist ein Realitätsverständnis, das man von kleinen Kindern kennt: Wenn ich etwas nur ganz doll will und fest daran glaube, dann muss es doch wahr werden. Genau so haben Bund und Länder beim jüngsten Coronagipfel agiert: Wenn der Wunsch nur stark genug ist, spielt die Realität keine Rolle. Der Wunsch war dabei, dass der Lockdown endlich gelockert wird. Der wird zwar nur von einer Minderheit vertreten, aber die ist zuletzt immer lauter geworden. Und aus subjektiver Sicht ist das ja auch verständlich: In Einzelhandel, Gastronomie und im Kultursektor wachsen trotz staatlicher Hilfen die wirtschaftlichen Sorgen und damit die Ungeduld. Und zumindest ein Teil der Eltern und Kinder wartet dringend darauf, dass der Präsenzunterricht wieder beginnt. Die Hoffnung, dass das bald wieder möglich ist, ist durchaus berechtigt: In den nächsten Monaten werden die Impfstofflieferungen stark zunehmen, und durch Schnelltests lässt sich das Risiko beim Zusammentreffen von Menschen stark verringern. Die Realität sieht derzeit aber anders aus: Die Infektionszahlen fallen seit zwei Wochen nicht mehr, sondern steigen wieder leicht. Die Impfungen kommen nur langsam voran, und anders als zu Jahresbeginn liegt das nicht mehr am Fehlen von Impfstoff, sondern an schlechter Organisation. Und Schnelltests sind in Deutschland bisher nicht allgemein verfügbar, schon gar nicht umsonst. Erst jetzt, nachdem kostenlose Schnelltests für alle lange angekündigt waren, richtet die Regierung eine Taskforce ein, die sich um deren Beschaffung kümmern soll – und betraut damit neben Gesundheitsminister Jens Spahn ausgerechnet Verkehrsminister Andreas Scheuer, der bisher fast jedes Projekt gegen die Wand gefahren hat. Viel deutlicher kann man staatliches Versagen kaum demonstrieren. (Malte Kreutzfeld, taz)
Der Analyse lässt sich kaum widersprechen. Unzweifelhaft ist es vor allem ein verzweifeltes, fast magisches Wünschen, das hier abläuft. Auf der anderen Seite ist das Wort "Versagen", egal wie sehr sich manche Betroffene auch dagegen sträuben mögen, angebracht. Die Politik hat der Bevölkerung ein Jahr lang gigantische Belastungen auferlegt. Schüler*innen konnten nicht in die Schule, Freunde treffen war kaum möglich, zahlreiche Selbstständige gingen bankrott, Unsummen wurden ausgegeben. Für was? Dafür, dass jetzt am Ende in einem Wirbelsturm der Inkompetenz die Hände in die Luft geworfen werden und man einfach aufgibt? Das hätten wir vor zwölf Monaten billiger haben können. Fuck these people.
8) Lernverluste wegen Corona: ifo Institut warnt vor langfristigen Folgen
Um die Lernverluste so gut wie möglich auszugleichen, könne man zudem „darüber nachdenken, die längeren Ferien etwas zu verkürzen“, erklärte Wößmann. Auch die vorübergehende Wiedereinführung des Samstagsunterrichts sei „bedenkenswert“, sagte der Bildungsökonom. [...] Laut einer Umfrage des ifo Instituts unter Eltern vom vergangenen Juni habe sich die Lernzeit der Kinder wegen der Corona-Pandemie auf 3,6 Stunden täglich nahezu halbiert. Bei leistungsschwächeren Kindern sei die tägliche Lernzeit noch deutlich stärker gesunken. Statt sich um die Schule zu kümmern, hätten viele Kinder während der Homeschooling-Zeit lieber mit dem Computer gespielt oder TV geschaut. Der fehlende Lernstoff habe langfristig weitreichende Folgen, warnte Wößmann. Im Schnitt bedeute der Verlust von einem Drittel des Schuljahres ein um drei Prozent geringeres Lebenseinkommen. Hinzu kämen die gesamtwirtschaftlichen Folgen. Laut früheren Berechnungen des ifo summierten sich die Wachstumsverluste im Falle des Unterrichtsausfalls von einem Drittel des Schuljahres bis zum Ende des Jahrhunderts auf 2,5 Billionen Euro. Zudem befürchten Experten weitreichende psychische Folgen in der Entwicklung der Kinder. [...] Auch von einer möglichen Versetzungsgarantie riet Wößmann ab. Für die Motivation der Kinder und Jugendlichen sei es wichtig, dass die üblichen Test- und Prüfungsverfahren auch im Distanzunterricht weitergeführt würden. Es habe „große Anreizeffekte“, ob der Unterrichtsstoff prüfungsrelevant sei oder nicht. Wenn der Stoff im Rahmen von Klassenarbeiten oder mündlichen Prüfungen abgefragt werde, lohne es sich für die Schüler zu lernen. (Thomas Schmidtutz, Merkur)
Der "Bildungsökonom" Wößmann ist ein Dampfplauderer vor dem Herrn. Ich hab mir ja sogar die Mühe gemacht, seine Studie runterzuladen und zu lesen, weil ich eigentlich einen Artikel dazu schreiben wollte. Aber ich habe mich nicht dazu überwinden können, deswegen jetzt hier doch nur im Vermischten. Diese ganzen Zahlen, mit denen hier operiert wird, sind komplett aus der Luft gegriffen. Es werden Annahmen getroffen, auf deren Basis dann irgendwelche Berechnungen angestellt und das dann als Wissenschaft verkauft. Das ist unseriöser Blödsinn. Der Mann hat keine Ahnung, seine Datenlage ist katastrophal, und dass solche Leute tatsächlich einen Einfluss auf die konkrete Bildungspolitik haben, wie sie dann von Flitzpiepen wie Susanne Eisenmann verbrochen wird, ist umso schlimmer.
9) Angriff ist die beste Verantwortungslosigkeit
Es existieren ja mindestens vier Arten, wie man mit legitimer Kritik umgehen kann. Eine erwachsene – und drei in der Politik sehr beliebte: sich tot stellen, angreifen, flüchten. Gern bedienen sich Abgeordnete dieser Reaktionsweisen, um sich jeder selbstkritischen Auseinandersetzung zu verweigern – und das in verschiedenen Bereichen, ob bei Masken, Impfstoff, Maut, Wirecard, Rechtsextremismus oder gerade sehr beliebt: Korruption. Das Totstellen als politisches Kunststück läuft darauf hinaus, mit geschlossenen Ohren und Augen so zu tun, als liefe doch eigentlich alles ganz prima. [...] Die zweite Art, mit Kritik umzugehen: der Angriff. Manchmal ist diese – wie das bekannte Sprichwort sagt – zugleich die defensivste Form. [...] Immerhin ist die dritte Variante in der deutschen Politik weniger verbreitet: die Flucht. [...] Erst nach innerparteilichem Druck Konsequenzen zu ziehen, darf nicht mit Selbstkritik und der Übernahme von Verantwortung verwechselt werden. Was wäre aber nun die erwachsene, die vierte Art, mit Kritik umzugehen? Es ist jene, die Kritik annehmen kann und im Herzen zu ehrlicher Selbstkritik wachsen lässt. Es ist jene, die wir in einer Pandemie mehr als zuvor benötigen, weil erst Einsicht weiteres falsches Verhalten verhindern kann. Es ist jene, die Fehler zulässt, aber Verantwortung nicht scheut; die nicht mit vorauseilender Gekränktheit angreift oder mit naivem Narzissmus alles verdrängt. (Samira El Ouassil, SpiegelOnline)
Ich stimme dem Artikel generell zu, sehe aber auch eine zweite Seite, die praktisch nie debattiert wird: dass das Eingestehen von Fehlern nicht gouttiert wird. Wer Fehler eingesteht, ist weg. Wer sie nicht eingesteht, hat gute Überlebenschancen. Das ist schlichtweg Realität in der Politik, genauso wie "Wahrheit sagen" und "Ehrlichtkeit" generell. Mein Paradebeispiel ist und bleibt der Wahlkampf von 2005.
Die Reaktion von Medien und Wählerschaft ist daher auch nicht erwachsen. Denn zum Erwachsensein gehört, eingestandene Fehler dann auch anzuerkennen und Entschuldigungen anzunehmen. Aber das passiert effektiv nicht, weswegen sich eine Kultur eingebürgert hat, wie man sie von kleinen Kindern auch kennt: erst mal Leugnen, weil schlimmer wird es dadurch nicht. In schlecht geführten Unternehmen oder Klassen in der Schule kann man die gleiche Dynamik beobachten.
In an op-ed plastered across Monday’s New York Post front page, Sen. Josh Hawley (R-MO) calls for an end to the “muzzling of America.” Despite getting a spot on the front page of the fourth-largest newspaper in the U.S., coverage across the entire Fox News lineup, a new book deal, an audience of more than half a million followers on Twitter, and a lengthy list of credits on IMDB, Hawley would like you to believe that he is a man without a voice. [...] Just as right-wing media have helped Republicans play up their opposition to “identity politics” while ignoring the role white and Christian identities play in conservative coalitions, and just as they denounce the concept of “political correctness” while promoting revisionist and sanitized versions of American history, the fight against “cancel culture” is another bundle of hypocrisy wrapped in the bow of a new buzzword. [...] Part of the reason the idea of “cancel culture” may seem like it comes more from the left than from the right is that conservative media outlets simply will not stop talking about it. The New York Post has an extensive list of stories tagged “cancel culture.” The same is true of Breitbart, the Daily Caller, and the Daily Wire. [...] Instead of chalking something up to “cancel culture,” people should simply say what it is that they mean. Gaetz should just say that he doesn’t believe Trump should be impeached for his role in the insurrection, and he should just say that he supported right-wing conspiracy theorist Laura Loomer despite her views about Muslims. If Hawley and his right-wing media allies were being honest, they would just come right out and defend the incitement of mob violence rather than hiding behind the “cancel culture” boogeyman. Until then, it’ll be hard to hear the words “cancel culture” without thinking of cowardly hypocrisy. (Parker Molloy, MediaMatters)
Ich kann diese dumme Diskussion nicht mehr hören. Wenn "cancel culture" je etwas anderes war als ein konservativer Kampfbegriff - und ich bezweifle das bekanntlich - dann ist sie mittlerweile den gleichen Gang gegangen, den "political correctness" und "identity politics" vorher gegangen sind. Es wäre vielleicht eine nützliche Kategorie gewesen, bestimmte Phänome des Diskurses im öffentlichen Raum zu beschreiben. Da es aber ausschließlich für eine politische Richtung angewandt wurde, ist es ausschließlich ein, wenngleich effektiver, Kampfbegriff.
Wir sehen die komplette Heuchelei, die diesen Vorwurf umgibt, an den zahlreichen Beispielen Molloys in ihrem Artikel. Um ein Beispiel außerhalb zu gebene: Republicans bezeichneten jüngst Mobs auf Twitter gegen progressive Journalistinnen als "part of the job" und forderten das Opfer auf, gefälligst entweder die Zähne zusammenzubeißen oder sich einen anderen zu suchen. Das klingt, wenn man Konservative kritisiert, ziemlich anders. In Deutschland ist es auch nicht anders. Die progressive Journalistin Natascha Strobl etwa, die mit massiver Hetze und Morddrohungen von Twitter vertrieben wurde, ist den üblichen Verdächtigen immer noch keine Silbe der Erwähnung wert, die sich vorher für so gefährdete Exemplare wie Dieter Nuhr oder Lisa Eckhardt in den Ring geworfen haben. Es ist diese Heuchelei, die die ganze Debatte so unerträglich macht.
11) Tweet
Remember how everyone was like “wow how did masks become partisan?” Anyway feel free to reference this tweet when the same thing happens with vaccines pic.twitter.com/BIYk0Q9yBi
— Andrew Lawrence (@ndrew_lawrence) March 13, 2021
Die FOX-News Leute und der Rest dieser Bande würden es schaffen, das Atmen als kontrovers darzustellen, wenn nur betont würde, dass ein demokratischer Präsident sich für das gelegentliche Luftholen ausgesprochen hat. Dieses ständige Schüren von Spaltung und Zwist, das das Geschäftsmodell des Senders (pars pro toto für den Rest dieser Ökosphäre wie OAN und Breitbart) ist nicht nur zerstörerisch, sondern auch brandgefährlich, wenn es sich etwa auf Pandemiebekämpfung erstreckt. Aber da gibt es überhaupt keine Inhibition und null Verantwortungsgefühl.
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