Dienstag, 30. November 2021

Bücherliste November 2021

 

Anmerkung: Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher und Zeitschriften bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Darüber hinaus höre ich eine Menge Podcasts, die ich hier zentral bespreche, und lese viele Artikel, die ich ausschnittsweise im Vermischten kommentiere. Ich erhebe weder Anspruch auf vollständige Inhaltsangaben noch darauf, vollwertige Rezensionen zu schreiben, sondern lege Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken. Wenn bei einem Titel sowohl die englische als auch die deutsche Version angegeben sind, habe ich die jeweils erstgenannte gelesen und beziehe mich darauf. In vielen Fällen wurden die Bücher als Hörbücher konsumiert; dies ist nicht extra vermerkt.

Diesen Monat in Büchern: Krähen, Männer, Treuhand, Beginn, Dagobert, Humankind

Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: Erinnerung, Gefängnis

Mittwoch, 24. November 2021

Der ängstliche Heiko Maas ist auf dem überfluteten Dach des taiwanesischen Gerichtsgebäudes zu brav - Vermischtes 24.11.2021

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) In der Bravheitsfalle

Auch habituell verwandelten sich die Grünen. Habeck verordnete seiner Partei eine neue Sprache. Das Wort der "schmutzigen Jobs" etwa strichen die Grünen aus ihrem Vokabular und betonten stattdessen ihren Respekt für Kohlearbeiter. Statt auf Rechthaben und Rechtbehalten setzen die Grünen nun auf "Freundlichkeit, Argumente, eine einladende Sprache, Zuversicht", wie es Habeck einmal zusammenfasste. Sie verabschiedeten sich vom ritualisierten Dagegensein, betonten stattdessen ihre "Verantwortung für das Ganze" und präsentierten sich in der Opposition so staatstragend, als würden sie längst mitregieren. Die Entbürgerlichung der Union (in öffentlichen Konflikten, Gremiensitzungen, Geschäftemachereien) bildete dabei die Folie, auf der die Verbürgerlicherung der Grünen besonders deutlich in Erscheinung trat. Der Anstand wurde zum Markenkern: Konsens statt Konflikt, Demut statt Demütigung, die Mäßigung als strategisches Mittel. [...] Intellektuell brachten die Grünen, drittens, ihr neues Selbstverständnis vor allem auf einen Begriff: Bündnispartei. Die Formel war eine Absage, an Kategorien wie links und rechts (die die Grünen nunmehr für überholt erklärten), an Lagerdenken und altmodisches Zeug wie Interessengegensätze. [...] Man konnte den Grünen förmlich dabei zusehen, wie sie sich in den Kulissen ihrer eigenen Erzählung verirrten. Die Harmonie, die die Grünen verströmten, wurde im Wahlkampf auf brutale Weise konterkariert. Der postideologische Zauber der neuen Grünen verflog. Die Wir-gegen-die-Logik, der sich die Grünen bislang so kunstvoll entzogen, holte sie im Wahlkampf ein, verdattert stellten sie fest: die-gegen-uns. (Robert Pausch, ZEIT)

Ich glaube nicht, dass die Strategie per se falsch war. Gerade die Bewegung zur Mitte, die Abkehr von alten ideologischen Abwehrkämpfen und die Distanzierung zu den eher aktivistischen Elementen und der entsprechenden Vergangenheit, das geradezu offensive Bekunden des eigenen Regierungswillens, waren letztlich Vorbedingungen des Umfrageerfolgs, auf dem die Partei im Frühjahr 2021 schwamm. Das Problem war das völlige unvorbereitet Sein gegenüber der vorhersehbaren Tatsache, dass ihre ideologischen Gegner nicht einfach den Bauch nach oben drehen und das akzeptieren, sondern die Partei aggressiv als radikal brandmarken würden. Das nennt sich Wahlkampf, wovon die Grünen-Spitze nie gehört zu haben scheint. Die Konsequenz war dann der Absturz, das "in der eigenen Erzählung verirren", wie das Pausch so schön formuliert. Es war diese Leere, die Baerbocks Fehler in Desaster auswachsen ließ.

2) Der DACH-Schaden

Das ist nur eine Auswahl der Faktoren, die die Impfquote auch beeinflussen. Was sie alle gemein haben: Sie ergeben sich nicht aus den Untiefen der völkerpsychologischen Vergangenheit, sondern aus konkretem politischen Handeln. Es gibt also Verantwortliche. Es gibt falsche und richtige Entscheidungen, es gibt Interessen, die sich durchsetzen, und solche, die unterliegen. Dass in Deutschland 3G am Arbeitsplatz noch immer nicht Pflicht ist, zeigt, dass Eingriffe in die Arbeitswelt hier offenbar schwerer umzusetzen sind als Eingriffe ins Bildungssystem. Ausgerechnet in der wirtschaftsfreundlichen Schweiz war das Anfang 2021 übrigens anders: Die Schulen blieben offen, die Arbeitnehmer mussten ins Homeoffice. [...] All das lässt sich zwischen den Balken der Impfquoten-Grafiken erkennen. Wie genau die verschiedenen Faktoren das Impfverhalten beeinflussen, wie sie zusammenwirken und zu gewichten sind, ist momentan unmöglich festzustellen. Der Soziologe Oliver Nachtwey, der zu Querdenkern und Impfverweigerern forscht, weist zu Recht darauf hin, dass man "erst nach längerem Forschungsprozess wirklich beantworten" könne, was hinter den niedrigen Quoten steckt. So lange wartet die Öffentlichkeit nicht. Sie zieht jetzt schon ihre Schlüsse. Was wollen wir in der Impfquoten-Grafik vor allem sehen? Die Spätfolgen deutschsprachiger Romantik? Die Widerständigkeit der Alpenbewohner? Den Föderalismus? Die Folgen administrativer Versäumnisse? Den Einfluss rechter Parteien? Die falsche Feigheit vor lauten Minderheiten? Das Bild, das wir uns von der Pandemie machen, wird darüber bestimmen, mit welchen Lehren wir aus ihr herausgehen. (Lenz Jacobsen, ZEIT)

Ich habe diese beiden Abschnitte aus dem Artikel zitiert, weil sie mir wichtige Punkte berühren. Das erste ist die ungleiche Lastenverteilung während der Pandemie. Dass es immer noch keine Testpflicht am Arbeitsplatz gibt ist etwa ein absoluter Skandal. An den Schulen testen wir alle Schüler*innen dreimal die Woche durch. In den Betrieben wird immer noch weitgehend so getan, als sei die Pandemie das Problem von anderen Leuten. Es wird gerade wieder diskutiert, die Schulen früher zu schließen. Niemand debattiert irgendetwas, das die Wirtschaft betreffen würde. Diese Feigheit zieht sich wie ein roter Faden durch die Pandemie.

Der andere Punkt ist im letzten Satz des Zitats oben deutlich kristalliert. Wir werden noch lange nicht genau wissen, was eigentlich abgelaufen ist (was im Übrigen vorhersehbar war, ich darf an meinen entsprechenden Artikel vom April 2020 erinnern). Nur müssen im Hier und Jetzt trotzdem Entscheidungen getroffen und Urteile gefällt werden, ob von der Politik oder allen Bürger*innen, täglich aufs Neue. Das ist ein praktisch nicht auszulösender Widerspruch.

3) "Die Klimakrise lässt sich nicht bestechen" (Interview mit Viola Wohlgemuth)

ZEIT ONLINE: Wie funktioniert dieses Greenwashing konkret?

Wohlgemuth: Nestlé und andere große Firmen haben ein gut funktionierendes System entwickelt: Sie gründen NGOs, die sich angeblich der Nachhaltigkeit verschrieben haben – aber in Wahrheit PR für Nestlé machen. Zwei Strategien gehen dabei Hand in Hand: verzögern und ablenken. [...]

ZEIT ONLINE: Was wollen die Firmen damit erreichen?

Wohlgemuth: Die Kampagnen sollen verschleiern, wer die Schuld an den Problemen trägt. Und sie sollen der Öffentlichkeit weismachen, dass diese Probleme gar nicht so groß seien – dass etwa Recycling viel besser funktioniere als angenommen. Und dass man ruhig die nächsten zehn, zwanzig Jahre weitermachen könne wie gehabt. Die Fälle sind gut dokumentiert. Gerade Nestlé nimmt viel Geld in die Hand, um die Öffentlichkeit auf falsche Fährten zu lenken. Aber sie sind nicht die einzigen. [...]

ZEIT ONLINE: Für Firmen wie den Hafermilchhersteller Oatly, den Fleischersatz-Produzenten Beyond Meat oder in Deutschland Rügenwalder Mühle gehört Nachhaltigkeit zum Markenkern. Nehmen Sie den Unternehmen ihre idealistischen Motive ab?

Wohlgemuth: Diese Firmen haben erkannt, dass sich Produkte über das Thema Nachhaltigkeit gut vermarkten lassen. Ich will das gar nicht schlechtreden. Die Impulse dieser Unternehmen sind wertvoll. Etwa beim Fleischersatz: Wenn ich mir für die nächste Grillparty im Supermarkt eine vegane Bratwurst kaufen kann statt eine aus Fleisch, dann ist das einfacher, als wenn ich mich mit komplett selbst gemachten veganen Produkten auseinandersetzen muss. Das bringt uns der notwendigen gesellschaftlichen Transformation ein ganzes Stück näher. (Ferdinand Dyck, ZEIT)

Natürlich nutzen Firmen Greenwashing für ihre PR. Insgesamt ist das aber ein gutes Signal: dass Firmen es mittlerweile für nötig erachten, lang und breit zu erklären, warum sie (angeblich) klimafreundlich agieren, zeigt die Bedeutung, die das Thema mittlerweile hat. Dasselbe gilt ja für die obligatorischen Diversity-Pledges, die mittlerweile in praktisch jedem größeren Unternehmen Standard sind. Allzu häufig verbirgt sich nur wenig dahinter, aber jedes Bisschen hilft und das offene Propagieren dieser Ideale sorgt für entsprechenden Veränderungs- und Akzeptanzdruck in der Gesellschaft.

Und natürlich gibt es solche und solche Unternehmen. Gerade die im Text genannten Oatly, Beyond Meat oder Rügenwalder Mühle sind zwar vielleicht nicht gerade Helden der Klimaneutralität, aber sie sind deutlich besser als Nestlé. Man muss da aufpassen, bei aller berechtigten Kritik nicht einem Zynismus Vorschub zu leisten, der auf dem Eindruck beruht, dass nichts je ausreichend ist und dass es eh egal sei, was man macht.

4) What Rhymes With Breyer?

Which brings us to Justice Stephen Breyer. At 83, he has not announced his retirement. Even though he finds himself in the functional equivalent of that Obama-Ginsburg moment in 2013, with a Democrat in the White House and Democrats in control of the Senate. Even though Joe Biden’s approval rating is at 41 percent. Even though Democrats just lost the governor’s mansion in one blue state (Virginia) and barely held on to it in another (New Jersey). Even though congressional Democrats are currently careening toward a 2022 midterm wipeout, with Republicans testing better on generic ballots than they have in 40 years. [...] When we repeatedly admonish older public officials to retire, we’re erasing their individuality and turning them into actuarial statistics, which no matter how you look at it is rather ugly—no one likes to be told that their mortality is becoming a problem. In the most practical sense, we’re asking them to void their calendar, to replace something with nothing at all. [...] Walking away is especially challenging for those whose identity is entirely reliant on the institution they serve. Vermont’s Patrick Leahy, 81, may have just announced his plans to retire from the Senate, but Iowa’s Chuck Grassley, 88, is planning on running for his eighth term in 2022, and California’s Dianne Feinstein has filed paperwork to run again in 2024, when she’ll be 91. (Our Senate is now the oldest it’s been in our history. Twenty-three members are in their 70s.) “If you’re a violinist, you can play in retirement,” Sonnenfeld told me in that same conversation. “But if you’re a conductor, where your identity depends on the group, you can’t really replicate that in retirement.” (Jennifer Senior, The Atlantic)

Es ist selbstevident, dass Breyer zurücktreten muss, wenn die Democrats die Verwandlung eines völligen judikativen Desasters in eine Jahrhundertkatastrophe verhindern wollen. Der empathische Zugang Seniors zeigt aber auch deutlich, dass das Grundproblem systemischer Natur ist. Die lebenslangen Amtszeiten der Supreme-Court-Justices sind ein absurdes Relikt einer Ära, in der man es mit Demokratie noch nicht so hatte. Und sie führen zu zahlreichen Verzerrungen und Problemen. Gleichzeitig ist es absolut verständlich, dass Menschen mit solchen Berufen auch über das Rentenalter weiterarbeiten wollen. In Deutschland wäre Wolfgang Schäuble ein hervorragendes Beispiel dafür. Aber dieser durchaus nachvollziehbare Wunsch kann nicht vorrangig vor den Interessen des Gemeinwesens behandelt werden. Die Einführung von Amtszeiten für den SCOTUS ist längst überfällig.

5) Ampelparteien einigen sich auf Legalisierung von Cannabis

Nach vier Jahren soll das entsprechende Gesetz dem Bericht zufolge mit Blick auf gesellschaftliche Auswirkungen evaluiert werden. Bislang ist der Verkauf von Cannabis zu Genusszwecken in Deutschland verboten. Grüne und FDP sprechen sich aber seit Längerem für einen legalen, regulierten Handel mit Cannabis aus. [...] Gleichzeitig wollen die Parteien die Regelungen für Marketing und Sponsoring bei Alkohol, Nikotin und Cannabis verschärfen. »Wir messen Regelungen immer wieder an neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und richten daran Maßnahmen zum Gesundheitsschutz aus«, heißt es dem Bericht zufolge in dem Papier der Ampel-Arbeitsgruppe. [...] Die drei möglichen Partner einer Ampelkoalition hatten sich in ihren Wahlprogrammen allesamt in der einen oder anderen Form für einen regulierten legalen Verkauf von Cannabis für den Freizeitgebrauch an Erwachsene ausgesprochen. Bislang darf Cannabis in Deutschland nur zu medizinischen Zwecken gehandelt und verkauft werden. Die Argumente für eine Legalisierung sind bei SPD, Grünen und FDP weitgehend die gleichen [...] (muk/AFP, SpiegelOnline)

Gleich vorweg: Mir ist das Cannabis-Thema reichlich egal. Ich habe keine ernsthafte Meinung zur Legalisierung, aber ich bin aus einem (zugegeben albernen) beruflichen Grund froh, dass das Zeug ab jetzt legal ist: ich muss keine Erörterungen und Debatten in der Schule mehr zu dem Thema machen. Denn aus mir nicht wirklich nachvollziehbaren Gründen bewegt das Thema die Schüler*innen wie kein zweites. Wann immer ich frage, was erörtert oder debattiert werden soll (ich stelle das für gewöhnlich frei), Cannabis-Legalisierung war todsicher dabei. Und ich kann es nicht mehr hören. Daher: Hurra, das Thema ist weg.

Jetzt aber etwas ernsthafter. Die Legalisierung ist genau ein Beispiel für das, warum ich eine Ampel befürwortet habe. Längst gibt es in Deutschland eine breite Mehrheit für die Legalisierung; nur die anhaltende Regierungsbeteiligung der CDU, die sie aus ideologischen Gründen ablehnte, verhinderte sie bislang. Das Thema war aber nie wichtig genug, als dass die Koalitionspartner der CDU ihr politisches Kapital investieren wollten, um den Widerstand zu überwinden. Ähnliche Reformen, die lange aufgestaut wurden und wo zwischen den Ampelparteien Einigkeit besteht, gibt es in vielen gesellschaftlichen Bereichen.

6) Welcome to the Age of Lawless Masculinity

Authoritarianism has evolved over the past century, and old-school dictatorships are now joined by electoral autocracies. Yet at least one constant remains: Illiberal political solutions tend to take hold when increased gender equity and emancipation spark anxieties about male authority and status. A conquest-without-consequences masculinity, posing as a “return to traditional values,” tracks with authoritarianism’s rise and parallels the discarding of the rule of law and accountability in politics. We commonly associate autocracy with state restrictions on behavior, but the removal of checks on actions deemed unethical in democratic contexts (lying, thievery, even rape and murder) is equally important to its operation and appeal. [...] Flamboyant virility has always tended to go hand in hand with authoritarian politics, which is driven by the need to possess and exploit bodies, minds, national resources, and more. It’s easy to laugh at the pectoral-baring performances of Mussolini and Vladimir Putin, and dismiss the rape jokes made by Jair Bolsonaro and Rodrigo Duterte of the Philippines, but the strongman style of leadership responds to perceived threats to male authority by upholding patriarchal privilege and the rights of men to satisfy their “natural” male desires. [...] The ethos of lawless masculinity is a lubricant of corruption, normalizing behaviors and redefining illegal or immoral acts as acceptable, from election fraud to sexual assault. These new norms attract collaborators who find it thrilling to be able to commit criminal acts with impunity. (Gosar used promises of blanket pardons to recruit participants for the January 6 coup attempt.) Charismatic authoritarians diffuse models of power based on brute force, and soon the political system spawns individuals who earn status by imitating them. [...] Whether or not Trump returns to office, the GOP has made his brand of outlaw glamour its own. A real man takes what he wants, when he wants it, whether in the bedroom, the workplace, or politics, and pays no penalty. As the Republican quest to destroy democracy intensifies, so will abusive, predatory, and criminal behavior be further enabled and justified. For a century, “getting away with it” has been central to authoritarianism’s allure, and it will be no different as the American version of illiberal rule unfolds. (Ruth Ben-Giat, The Atlantic)

Die von Ben-Giat untersuchte Verbindung toxischer Maskulinität und autokratischer Regierungsformen ist der Elefant im Raum, dessen Existenz konsistent wie bewusst ignoriert wird. Dieses Phänomen ist übrigens keinesfalls auf das rechte Spektrum beschränkt. Auch unter Linksautokraten findet sich diese Betonung von Machismo, ob bei Chavez, Maduro oder Morales, nur um einige zeitgenössische Beispiele zu nennen. An dieser Stelle sei auf die bahnbrechende, wenngleich nicht unbedingt leicht lesbare Grundlagenforschung von Theweleit ("Männerphantasien") verwiesen.

7) No, Neocons, China Is Not About to Invade Taiwan

That the Chinese military enjoys vast military superiority vis-a-vis Taiwan is not in doubt. But that such resources can be used to mount an amphibious assault is something else altogether. The Chinese military last fought a war in 1979 against Vietnam, and the PLA was badly bloodied. That means that the soldiers and officers who make up China’s military today have virtually no direct combat experience. [...] A Chinese invasion of Taiwan would look more like the WWII Marine assaults on the rough and unforgiving terrain of Pacific islands than it would D-Day (which was no walk in the park either), but against an exponentially more competent and technologically advanced military. Even if somehow China were successful in invading Taiwan and occupying the island, it would then find itself in the position of having to pacify and potentially rebuild an advanced nation of 23 million people (two million of whom are members of the nation’s military reserves). Putting aside the virtually insurmountable military obstacles, there’s the larger issue of how the United States and other nations in the region would respond (in recent weeks, Japanese leaders have made clear their determination to help Taiwan in the wake of Chinese invasion)? The U.S. could play a decisive role, even without boots on the ground in Taiwan. For example, American naval and air forces could wreak havoc on Chinese supply lines. [...] The U.S. can play a useful role in maintaining the ambiguous status quo. Since 1979, the U.S. has adhered to a “one China” policy, which views Beijing as the sole legitimate government of China. The U.S. would do well to make clear that this policy remains in place, while at the same maintaining its position of “strategic ambiguity” and discouraging any provocative moves by Taiwan toward independence. But above all, the Biden administration needs to ignore the alarmist rhetoric of those warning that a Chinese invasion is imminent or even read too much into China’s provocations. Even if it wanted to, China is not about to invade Taiwan. (Michael Cohen, The Soapbox)

Taiwan ist einer jener Punkte auf der Welt, die für den Ausbruch eines Krieges am wahrscheinlichsten sind. Ich teile allerdings die These Cohens, dass die chinesische Armee (noch) nicht in der Lage ist, dort ernsthaft zu landen. Allerdings gibt es auch auf dem Meer oder in anderen Bereichen eine ganze Reihe von Potenzialen für eine Eskalation, und ich bin immer wieder aufs Neue unsicher, ob die unklare Haltung der USA - würden sie gegebenenfalls militärisch zum Schutz der taiwanesischen Souveränität bereitstehen? - die Sicherheit erhöht oder verringert. Man sollte in jedem Falle nie vergessen, wie unklar die Potenziale der beteiligten Staaten alle sind. Seit Jahrzehnten gab es keinen Krieg zwischen entwickelten Staaten mehr. Das ist eigentlich durchaus Anlass zum Feiern, kann aber möglicherweise dafür sorgen, dass ein Militär mit wesentlich zu großem Selbstbewusstsein der Überzeugung ist, das eigene Land sei überlegen und auf dieser Basis eskaliert. Es wäre nicht das erste Mal.

8) Oh, diese jämmerliche Angst

Wären die organisierten und radikalen Corona-Leugner keine wahlberechtigten Deutschen, sondern in Deutschland lebende Türken, würde der Innenminister wahrscheinlich auf der Stelle die rechtliche Grundlage für Abschiebungen prüfen. Der mediale Erregungspegel läge irgendwo oben im Himmel, "konservative" Kommentatoren würden Rechtsstaatrechtsstaat schreien und Polizeigewerkschaftsvorsitzende würden Tag und Nacht zusammen mit Wolfgang Bosbach im TV-Newsroom irgendeiner Zeitung fordern, die Integrationsverweigerer (so würde man sie nämlich nennen) ohne Gerichtsverfahren sofort in den Abschiebeknast zu schicken. [...] Seit Pegida gibt es im politischen Raum eine groteske Aufwertung von Dummheit. Die berühmten Sorgen der echten Deutschen, die mal im Gewand von Ausländerekel oder Impfhass daherkommen, werden seitdem unentwegt höher bewertet als Forschung und Wissenschaft. Und wieder einmal erstarrt dieses Land seit fast zwei Jahren vor einer extremen Minderheit. Und immer findet sich wenigstens ein Ministerpräsident, der nicht nur halbherzig, sondern gleich nullherzig nicht das tut, wofür sie oder er gewählt wurde. Nämlich Entscheidungen zum Wohle und zur Sicherheit der Bevölkerung zu treffen und diese gegenüber einer rotzfrechen und mittlerweile komplett angstfreien radikalen Bewegung durchzusetzen. [...] Man sollte auch endlich aufhören, die Selbstbezeichnung dieser demokratieaushöhlenden Bewegung zu übernehmen und sie keinesfalls mehr "Querdenker" nennen. Es sind Extremisten und sie werden sich nicht auf die Ablehnung von Masketragen und Impfen beschränken. Sie werden sich neue Widerstandsgesten einfallen lassen, um das über Jahrzehnte gewachsene Gefühl von einer fürsorglichen Gesellschaft nachhaltig zu zerstören. [...] Wenn man das alles einmal, vor allem in den Medien, verstanden hat, wird es sicher auf der Stelle aufhören, dass Mediziner in den Talksendungen sitzen, und statt ihrer Extremismusforscher und Experten, die sich mit präfaschistischen Strömungen auskennen. Schlagartig würde man bereuen, wie viel Zeit man damit verplemperte, wissenschaftliche Erkenntnisse wieder und wieder vorzutragen und sie Abend für Abend, Jahr um Jahr stoisch und fern jedem Erkenntnisgewinn durchzunudeln, während unter uns längst schon wieder erkrankt, gelitten und gestorben wird. (Mely Kiyak, ZEIT)

Die Feststellung, dass mit den Schwurblern sehr, sehr anders umgegangen wäre, wenn es irgendwelche Linksradikalen oder Migrant*innen wären, dürfte ziemlich unkontrovers sein. Problematisch ist ja vielmehr der diffuse Überlapp zwischen den radikalen Coronaleugnenden einerseits, die gnädigerweise immer noch eine sehr geringe Minderheit sind, und andererseits dem leider rund 20% umfassenden Segment, das eine Impfung aus anderen Gründen ablehnt. Um bei der oben gewählten Terror-Analogie zu bleiben: die meisten von ihnen, und nicht mal alle, sind bestenfalls Sympathisanten. Und man will sie nicht zu den willigen Rekrut*innen der Radikalen machen.

Gleichzeitig gilt aber auch, dass das Ausmaß der Akkomodierung dieser Minderheit ins Lächerliche abgerutscht ist. Sie nehmen mittlerweile die Gesellschaft in Geiselhaft. Die Politik setzt einen klaren Anreiz, mit maximal schrillen Forderungen aufzutreten. Die Ministerien sagen das ja sogar offen: die Schwurbler überfluten sie mit Mails, während von der vernünftigten, schweigenden Mehrheit praktisch nichts kommt. Man muss daher zeigen, dass auch auf der anderen Seite Menschen mit berechtigten Anliegen stehen. Ins gleiche Horn stößt Christian Stöcker mit seiner Kolumne "Vergesst den Zusammenhalt", die zur Lektüre empfohlen sei.

9) Der lukrative Kampf gegen den Mehrwertsteuerbetrug

Karl Heinz Krug von der Beratungsgesellschaft Capgemini Deutschland sieht Italien als Vorbild – ausgerechnet das Land, das in dem Ruf steht, eine gewisse mediterrane Lässigkeit in Steuerfragen an den Tag zu legen. Touristen, die dort unterwegs sind, wissen es besser: Für jeden Espresso, für jedes Eis gibt es einen Kassenzettel. Wer keinen Ärger mit der Finanzpolizei riskieren will, sollte ihn aufbewahren, bis das potentielle Corpus Delicti ausgetrunken oder verspeist ist. Seit dem Jahr 2019 werden nicht nur die Endverbraucher scharf kontrolliert. „Italien ist eines der europäischen Länder, das beim Umsatzsteuerbetrug beziehungsweise der Umsatzsteuerhinterziehung erfolgreich eingegriffen hat“, berichtet Krug. Es gebe nun die Pflicht, Rechnungen elektronisch zu erstellen. Diese würden in einem vorgegebenen Datenformat über ein zentrales Register an den Rechnungsempfänger übermittelt. Für den früheren Bürgermeister von Bad Homburg liegt der Vorteil auf der Hand: Dieses Vorgehen ermögliche der Finanzverwaltung sofort eine elektronische Kontrolle der Zahlungen. In Deutschland hat der Föderalismus im Zusammenspiel mit den üblichen Beharrungskräften ein solches System verhindert. Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages gehen davon aus, dass das italienische System grundsätzlich hierzulande eingeführt werden kann. (Manfred Schäfers, FAZ)

Dieser Artikelhinweis kam in den Kommentaren von CitizenK, und ich will ihn an der Stelle noch einmal aufgreifen. Wie in so vielen Fällen ist der Kampf gegen Steuerhinterziehung einer, der selektiv nicht geführt wird, weil die Politik ihn nicht führen will. Die Möglichkeiten dafür bestehen. Man sieht das auf zahlreichen anderen Feldern auch, wo die geltenden Gesetze nur unzureichend durchgesetzt werden, vom Falschparken bis zum Tempolimit. Bestimmte Dinge, vor allem wenn sie von bestimmten Gruppen verübt werden, gelten nur als Kavaliersdelikte.

Ebenfalls interessant ist einmal mehr die Korrektur des völlig verzerrten Italien-Bilds, das viele Deutsche haben (was auch andere Länder betrifft, aber hier ist es eben Italien). Der Überlegenheitsdünkel der Deutschen ist gerade angesichts des multiplen Staatsversagens nicht nur in der Corona-Krise, sondern gerade auch bei Digitalisierung, Öffentlichem Nahverkehr und vielen anderen Bereichen immer wieder gerechtfertigt; es ist die mangelnde Selbstreflexion angesichts der eigenen Mittelmäßigkeit, die ich auch jüngst im Podcast angesprochen habe, die hier ausschlaggebend ist.

10) Der CDU-Mann von gestern

Solche und ähnliche Argumente sind landauf, landab in den Debatten zu hören, geht es um die Zukunft der Christdemokraten. Sie kommen aber nicht aus der CDU, sondern vom linken bis linksliberalen Publikum, dem es bei der Vorstellung graust, Merz könnte zum Widerpart der kommenden Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP werden. Offenbar liegt diesen Stimmen nichts näher, als sich um die Zukunft einer Partei zu sorgen, die sie selbst niemals wählen würden. [...] Und deshalb ist die weitverbreitete Furcht von einem Gottseibeiuns-Friedrich-Merz falsch. Als Vorsitzender einer CDU in der Opposition ist der Mann ideal dazu geeignet, um ein Anwachsen der christdemokratischen Stammklientel in die Mitte zu verhindern. Seine gesellschaftlichen Vorstellungen würden vielmehr den Abstand zu SPD et al. vergrößern und damit dafür sorgen, dass die CDU als konservative Partei wieder kenntlicher und wählbarer wird. [...] Wenn die Ampelkoalition hält, und dafür spricht momentan ja so einiges, wird Friedrich Merz bei der nächsten Bundestagswahl kurz vor seinem 70. Geburtstag stehen. Zwar erlangte Konrad Adenauer auch erst im 74. Lebensjahr die Kanzlerschaft für die CDU, doch solche Karrieren älterer Herrschaften – von Frauen ganz abgesehen – sind in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland doch höchst seltene Ausnahmen geblieben. Und so bliebe Friedrich Merz für einige Jahre ein auch für die Anhänger der Regierungsparteien höchst nützlicher CDU-Chef, der, wenn es wieder ans Wählen geht, sein Haltbarkeitsdatum überschritten hat (wobei wir ihm stets beste Gesundheit wünschen). (Klaus Hillenbrand, taz)

Hillenbrand hat natürlich einerseits völlig Recht: meine Präferenz für den CDU-Vorsitz kann der CDU grundsätzlich egal sein, weil diese Partei meine Stimme nicht bekommen wird. Aber ich denke, er sitzt einem Denkfehler auf. Denn irrelevant ist die Ansicht breiter Bevölkerungsgruppen, die die CDU nicht wählen würden, bezüglich der CDU-Spitze trotzdem nicht. Man muss nicht weiter schauen als Angela Merkel um zu sehen warum. Ihre Kritiker verweisen gerne darauf, dass ihre hohen Beliebtheitswerte von der Partei entkoppelt sind; dass ihr Kurs mehr Anhänger außer- als innerhalb der CDU habe.

Während diese Behauptung immer eine absurde Übertreibung war, ist eines definitiv wahr: Angela Merkel war eine Kanzlerin, mit der eine riesige Mehrheit der Deutschen grundsätzlich leben konnte. Für die Wahlchancen der CDU war das nicht deswegen wichtig, weil viele Leute die Partei wegen Merkels wählten, sondern weil viele wegen dieser Grundzufriedenheit ihre Konkurrenz NICHT wählten. Jemand wie Merz mag zwar das eigene Lager konsolidieren. Er konsolidiert aber auch die Gegner. Ob das am Ende ein Netto-Plus wird, ist schlicht unklar. Ein Automatismus aber ist es keinesfalls.

Auch das Argument mit dem Alter würde ich mit Vorsicht genießen. Wenn wir die Gerontokratie in den USA ansehen, vom Supreme Court (siehe Fundstück 4) über Biden, Warren und Trump - es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die Altersmarke von 70 irgendwie zu einer Verlangsamung der politischen Aspirationen führen würde...

11) Eröffnungsrede von Außenminister Heiko Maas anlässlich des Berliner Forum Außenpolitik der Körber Stiftung

Und deshalb bedeutet Afghanistan einen Einschnitt. Wir dürfen aus diesem Einsatz nun nicht ableiten, dass Deutschland zukünftig international keine Verantwortung mehr übernehmen sollte. Etwa die Abwehr terroristischer Gefahr, die sehr schnell auch in Europa ankommen kann, wird auch in Zukunft weiterhin Bundeswehr-Auslandseinsätze rechtfertigen. Aber dennoch ist klar: Unsere Hebel, um andere Länder zu beeinflussen, haben Grenzen. Mehr Mitteleinsatz bringt nicht zwangsläufig bessere Ergebnisse. Der Export uns genehmer Staatsformen kann nicht allein der Anspruch deutscher Außenpolitik sein. Stattdessen muss sich diese deutsche Außenpolitik zukünftig realistische Ziele setzen, die klar definierten deutschen Interessen entsprechen. Oder zugespitzt gesagt: Es ist Zeit für ein Ende der Illusionen. Meine Damen und Herren, das klingt erst einmal hart – nach Zynismus, Resignation oder Rückzug. Ich plädiere allerdings dafür – und so tut dies auch Reckwitz in dem von mir erwähnten Buch – Desillusionierung als Chance zu begreifen: für eine neue politische Nüchternheit, für undogmatische Zuversicht und für einen pragmatischen Realismus. Genau ein solcher Realismus eröffnet auch der deutschen außenpolitischen Debatte neue Perspektiven: Er lässt überzogene Hoffnungen auf ein „Ende der Geschichte“ hinter sich. Aber er vermeidet auch einen ebenso übertriebenen Pessimismus und Alarmismus, der sich zuletzt in vielen außenpolitischen Wortmeldungen in Deutschland breitgemacht hat. Denn Sachlichkeit – nicht Übermut oder Angst – sind die richtige Grundlage für eine Analyse der Lage Deutschlands in der Welt. (Heiko Maas, Auswärtiges Amt)

Heiko Maas ist echt ein Außenminister, den ich absolut nicht ernstnehmen kann. Nachdem er vier Jahre lang im Endeffekt nur irrelevanten Quatsch geredet (Stichwort Zauberstab der Verhandlungen) hat, fällt ihm jetzt, wo er sein Amt wird abgeben müssen, quasi eine Minute vor zwölf auf, dass eine Definition strategischer Ziele für Deutschland schon ganz praktisch wäre. Das ist auf einem Level mit Jens Spahn, der gerade erkennt, dass weitsichtige Corona-Politik doch gar nicht so verkehrt wäre.

Mangelnde strategische Weitsicht ist ein Dauerproblem in Deutschland. Es ist ja nicht so, dass Deutschland keine strategische Außenpolitik machen KÖNNTE, es ist vielmehr, dass es keine machen WILL. Da brauch ich dann auch nicht von "strategischen Interessen" zu reden, denn die zu definieren, erfordert ja erstmal die Einsicht, dass man welche hat.

Nachdem diese Erkenntnis bei Maas jetzt verspätet doch noch auftragt, überkompensiert er gleich und verfällt in den alten Denkfehler, dass Werte/Moral und Pragmatismus/Realismus sich ausschließen würden. Das schließt sich aber eben nicht aus, wie Ulrich Speck schön darstellt. Wie wir gerade in Belarus sehen, kann man sich mit der Idee ebenfalls schön in die Sackgasse manövriern. Nein, nur mit ein paar markigen One-Linern von wegen "Realismus" und "pragmatisch" und einer entschlossenen Visage kommt man da nicht raus.

Also, Heiko Maas schon. Gott sei Dank. Hoffen wir, dass die Grünen das besser machen werden. Die Latte hängt ja tief genug.

Freitag, 19. November 2021

Oral History: Medienzugriff

 

Einer der faszinierenden (und ehrlich gesagt auch milde erschreckenden) Bestandteile des Älterwerdens ist die Feststellung, dass der eigene Referenzrahmen von einer jüngeren Generation nicht mehr geteilt wird und diese bei zunehmend mehr Aspekten nicht mehr weiß, wovon man eigentlich spricht. Meine Elterngeneration (spätestens) dürfte ein Leben ohne Elektrizität und fließend Wasser nicht nachvollzogen haben können, während ich selbst mir nicht vorstellen konnte, dass es einmal Familien ohne Farbfernseher gab. Ich habe mich deswegen entschlossen, diese unregelmäßige Artikelserie zu beginnen und über Dinge zu schreiben, die sich in den letzten etwa zehn Jahren radikal geändert haben. Das ist notwendig subjektiv und wird sicher ein bisschen den Tonfall "Opa erzählt vom Krieg" annehmen, aber ich hoffe, dass es trotzdem interessant ist. Als Referenz: ich bin Jahrgang 1984, und meine prägenden Jahre sind die 1990er und frühen 2000er. Was das bedeutet, werden wir in dieser Serie erkunden. In dieser Folge soll es um den Zugriff auf mediale Erzeugnisse gehen, von Musik über Filme zu TV-Serien zu Videospielen.

Wenn ich dieser Tage ein Videospiel spielen möchte, ist die größte Frage, ob es auf Steam verfügbar ist oder ob ich die Krücke einer Plattform wie Origins oder UPlay benutzen muss. Suche ich nach einer Serie, browse ich durch die Archive von Netflix, Amazon Prime, Hulu und Apple+. Möchte ich einen Film sehen, kann ich weitgehend dieselben Formate nutzen oder auf einen der kuratierenden Medienservices wie Mubi zurückgreifen. Musik kann ich auf AppleMusic, AmazonMusic, Spotify und diversen anderen Streamingdiensten bekommen. Habe ich ein System wie Alexa oder Siri eingerichtet, kann ich das sogar per Sprachsteuerung tun.

Wenn ich in den 1990er Jahren ein Videospiel haben wollte, musste ich entweder einen spezialisierten Laden in der Nähe haben (die es heutzutage praktisch kaum mehr gibt und die auch damals nicht unbedingt häufig waren, vor allem außerhalb der Städte) oder in einen Elektronikgroßmarkt wie Media Markt oder Saturn. Ob die das entsprechende Spiel dann führten, war Glückssache. Vielleicht konnten sie es ordern. In vielen Fällen allerdings war wegen des durch einen geradezu hysterischen Jugendschutz abgeriegelten deutschen Marktes (der einen eigenen Artikel wert ist) schwierig, diese Spiele zu bekommen, für Jugendliche sowieso. Die Märkte verkauften Spiele mit dem roten "Ab 18"-USK-Label oft nicht, weil es Kassengift war, und indizierte Spiele waren im Handel praktisch nicht zu bekommen, für Jugendliche ohnehin nicht.

Wesentlich schlimmer aber war es bei Filmen und TV-Serien. Filme konnte man hauptsächlich sehen, wenn sie entweder im Kino oder im Fernsehen liefen. Außerdem waren sie in Videotheken ausleihbar. Im Kino wurden die Altersgrenzen der FSK ziemlich streng durchgesetzt, was viele Werke dem Anschauen entzog. Ich konnte zum Beispiel trotzdem dass meine Eltern dabeigewesen wären Jurassic Park nicht im Kino sehen, weil ich - begeisterter Dinosaurier-Fan, der ich war - neun Jahre alt war, als der Film 1993 um Kino lief, und die FSK-Freigabe ab 12 war. Nachdem ein Film aus dem Kino war erschien er rund ein Jahr später auf VHS-Kassette (fragt nicht) und war im Handel für rund 30 Mark erwerbbar, was real wesentlich mehr als die heutigen Kosten für einen neuen Film betrug und größtenteils unbezahlbar war. Nach drei Jahren lief er dann zum ersten Mal im Fernsehen.

Das war der wichtige Moment, denn hier konnte man mittels einer leeren VHS-Kassette und einem Aufnahmegerät den Film aufnehmen. Wir hatten eine riesige Sammlung aufgenommener Filme; massenhaft handbeschriebene VHS-Kassetten in einer großen Schublade, die immer wieder neu bespielt wurden. Manche Schätze wurden lange behalten, andere schnell wieder überspielt, wobei sich die Einschätzung meiner Eltern, was behalten werden musste, und meine eigene nicht immer deckten. Dabei nahm man auch die häufigen Werbeunterbrechungen mit auf (20 Minuten pro Stunde!), über die man dann immer spulte, wenn man sich die aufgenommenen Filme ansah. Dazu kamen Filme in festgelegten Zeitslots, die für Kinder praktisch ausschließend waren: 20.15 Uhr für Filme mit FSK-12-Freigabe, 22.15 Uhr für Filme mit FSK-16-Freigabe.

Hatte man einen Film nicht aufgenommen oder im Kino gesehen und wollte die VHS nicht kaufen, blieb nur die wesentlich günstigere Ausleihe in einer Videothek. Dabei handelte es sich um räumlich ausladende, wenngleich nicht sonderlich ästhetische Läden, in denen Filme (und gelegentlich auch CDs und Videospiele) gegen eine täglich anfallende Gebühr ausgeliehen werden konnten. Der Zugang der Videotheken war meist erst ab 18 Jahren erlaubt, weil mindestens die Hälfte der Ladenfläche dem ausladenden Porno-Angebot gewidmet war, mit dem diese Läden ihr Hauptgeschäft machten (ja, früher haben Leute für Pornos bezahlt). Erst in den späten 1990er Jahren wurde es Standard, dass Videotheken einen abgetrennten "ab 18"-Bereich für solche Dinge hatten und der Rest frei zugänglich war. Ich erinnere mich noch, dass der gemeinsame Besuch einer Videothek am frühen Samstag abend eine Art Ritual war, an dem wir als Familie den schwierigen Konsens finden mussten, einen gemeinsamen Film zu wählen, und den dann abends ansahen.

Musik konnte auf zwei Arten konsumiert werden: im Radio oder auf gekauften Tonträgern. Letztere waren zu meiner Zeit bereits CDs. Schallplatten besaß mein Vater zwar noch, aber sie waren bereits aus der Mode. CDs waren ebenfalls ziemlich teuer (üblicherweise auch um die 30 Mark) und so kaum erschwinglich. Auf einer CD befanden üblicherweise rund 15 Musiktitel des/der jeweiligen Interpret*in; bei Singles zwischen zwei und vier Titel. Diese Singles kosteten 10 bis 15 Mark. Ansonsten hatte man die Möglichkeit, das Radioprogramm passiv zu konsumieren (mit tonnenweise Werbeunterbrechungen und stündlichen Nachrichten) oder gar auf eine Kassette aufzunehmen.

Letzteres war auch eine Möglichkeit, die Musik auf CDs, die man von anderen lieh, für sich selbst nutzbar zu machen. Eine CD konnte gut auf eine Kassette überspielt werden, aber anders als CDs erlaubten Kassetten nicht, einzelne Titel anzuspielen - man musste spulen, vor und zurück, was auf Dauer die ohnehin nicht hohe Qualität ruinierte. Kasetten gab es auch noch zu kaufen, aber sie waren auf dem absteigenden Ast - dafür aber mit um die zehn Mark auch recht günstig, zumindest im Vergleich zu CDs.

Am schlimmsten aber war es, theoretisch, für TV-Serien. Diese liefen im deutschen Fernsehen wenn überhaupt in schrecklich verstümmelter Version. Die TV-Sender machten sich oft nicht einmal die Mühe, die Folgen in der richtigen Reihenfolge zu senden, oder alle davon. Sie kamen einmal in der Woche, zu unmöglichen Zeiten, und alle Folgen zu sehen war praktisch unmöglich. Das war allerdings nicht so schlimm, weil Serien, wie wir sie heute kennen, ohnehin weitgehend unbekannt waren. Die meisten waren Comedyserien, in denen jede Folge ohnehin Standalone war, oder Kinderserien, für die im Wesentlichen dasselbe galt.

Mit dem Aufstieg des Internets begann sich das radikal zu ändern. Der illegale Download ist mit Sicherheit einen eigenen Artikel wert, weswegen an dieser Stelle nur darauf verwiesen sei, dass wir in den 2000er Jahren mit der Verbreitung von CD-Brennern (und später DVD-Brennern), die das direkte Kopieren der CDs und DVDs erlaubten, genauso wie mit dem "Rippen" (der Konvertierung von DVDs in ein auf Computern abspielbares Format) einen wesentlich verbesserten Zugriff auf Filme und Musik hatten. So verbessert, dass die Musik- und Filmindustrie damals in eine tiefe Krise gerieten, weil die Masse illegal verbreiteten Materials in einem gigantischen Ausmaß zunahm. Aber erneut, das ist einen eigenen Artikel wert; diese Zeit anarchischer Freiheit dauerte nicht allzu lange.

Zusammenfassend: der Besitz von Medien und der Zugriff darauf waren in den 1990er Jahren und auch in den 2000er Jahren wesentlich beschränkter, als es das heute ist. Für meine Kinder ist die Vorstellung, ein bestimmtes Medium nur konsumieren zu können, wenn es zu einer willkürlichen Zeit im Fernsehen oder Radio läuft, völlig fremd. Wenn sie etwas ansehen wollen, dann können sie das machen. Dasselbe gilt für Musik. Wenn meine Kinder ein Musikstück hören wollen, sagen sie das Alexa, und es läuft über die Lautsprecher, die im ganzen Haus verteilt sind. Kein Versammeln vor der sündteuren Stereoanlage im Wohnzimmer, deren Zugang sich die Familie teilen muss. Spiele können sie problemlos über den jeweiligen Onlinestore erwerben und quasi direkt spielen, ohne auch nur das Haus verlassen zu müssen. Würde ich diesen Stand meinem rund zehnjährigen Selbst erzählen, es wäre ein blankes Utopia.

Und zweifellos wird dasselbe einmal für meine Enkel gelten, wenn sie den Geschichten meiner Kinder aus diesem "Utopia" zuhören.

Donnerstag, 18. November 2021

Die Ampel spaltet die kenianische Gesellschaft mit einer Kritik der medialen Deutschkenntnisse - Vermischtes 18.11.2021

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Es gibt keine Spaltung der Gesellschaft

Der Top-Hit unserer Zeit bleibt indes die Rede von der „Spaltung der Gesellschaft“, um diese opulente Formel dann doch noch mal auszuschreiben. Meist folgen auf den Befund noch gute oder weniger gute Ratschläge: „Wir brauchen mehr Entschleunigung“ oder „Wir brauchen bessere Kommunikation“. Was aber nicht gesagt wird, wenn die SdG zur Sprache kommt, ist das soziologisch Banalste: Dass Menschen verschieden sind, dass sie divers ticken und im Übrigen auch sehr gern irrtumsanfällig, erratisch sind. Sie haben nämlich Interessen, eigene. Die zu ermitteln wäre wichtig, sie zur Kenntnis zu nehmen oder nehmen zu müssen, darauf käme es an. SdG – das ist die Formel des explorierten Nichts und Alles, und vermag nicht damit umzugehen, wenn Menschen einfach ihre (gemeinsame) Kraft einsetzen, um etwas gegen andere durchzusetzen. Wie etwa, klassisch aus der Arbeiter*innenbewegung, mit einem Streik: Lohnabhängig Beschäftigte wollen etwas durchsetzen und ihr Arbeitgeber muss sich dem stellen, ob mit dem Streik nun eine Spaltung des Betriebes attestiert werden muss oder nicht. Ein Streik, bei dem es ums Eingemachte, mithin um Geld und Zeit, geht, ist immer eine spalterische Angelegenheit – und das ist auch richtig so. Das aber ist dann kein Partygeplauder mehr, in der kommunikative und kritisch gesinnte Besorgnis der wohlfeilsten Sorte geäußert wird, sondern eben eine Interessenkollision, die entweder in einen Kompromiss mündet, in der Zerschlagung der Aktion (mit womöglich krassen Folgen für die Rädelsführer*innen) oder im Erfolg dessen, was eben ein Streik vermag: eine Lohnerhöhung, die Gründung eines Betriebsrats oder kürzere Arbeitszeiten. [...] Mit anderen Worten: Da „Gesellschaft“ ein hochkompliziertes Gebilde ist, da sie eben keine „Gemeinschaft“ ist, kein familiäres Konstrukt, sondern arbeitsteilig, kommunikativ verwirrend uneinheitlich, multikulturell und multischichtenartig strukturiert, ist die Rede von ihrer Spaltung antipolitisch. Wer von SdG spricht, will über Interessengegensätze, möchte über Macht nicht reden. (Jan Feddersen, taz)

Jan Feddersen schreibt hier eine Menge richtiger Dinge auf. Es ist eine grundsätzliche Geschichte, die weit über Impfen oder andere aktuelle Themen hinausgeht. Wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft. Diese ist per Definition gespalten. Wir leben in verschiedenen Milieus (Soziolog*innen unterscheiden derer aktuell 11), haben verschiedene Ansichten, präferieren verschiedene politische Richtungen (sechs davon sind gerade im Bundestag vertreten). Da gibt es nichts zu spalten. Spaltung ist der Naturzustand einer jeden Gesellschaft, die nicht einem totalitären Terrorregime unterworfen ist.

Das ändert nichts daran, dass das als etwas Schlechtes gesehen wird. Ob abwertend von "Kampfkandidaturen" gesprochen wird, wenn eine Partei es wagt, ihren Vorsitz ernsthaft einer echten Wahl zu unterwerfen, ob Menschen unterschiedliche Haltungen zum Bau eines Durchgangsbahnhofs in der schwäbischen Landeshauptstadt haben oder ob eine Debatte darüber stattfindet, wie (und ob) man geschlechtergerecht sprechen und schreiben soll, überall gibt es Konflikte, und stets werden die als ein Problem betrachtet. Aber es sind Konflikte, in denen wir uns definieren und deren Austragung uns nach vorne bringt.

2) Climate change, covid and global inequality

Economic dislocations would be huge. It is not only the question of the entire upper middle class and the rich in advanced countries (and, as we have seen, elsewhere) losing significant parts of their real income as prices of most “staple” commodities (for them) increase by two, three or ten times; the dislocation will affect large sectors of the economy. Go back to the example of travel. A permanent 60% decrease will more than halve the number of airline employees, will practically leave Boeing and Airbus with no new orders for airplanes for years and possibly lead to a liquidation of one of them, will decimate hotel industry, will close even more restaurants than were closed by the pandemic, will make parts of the most touristy cities that currently complain of excess of tourists (Barcelona, Venice, Florence, probably even London and New York) look like ghost towns. The effects will trickle down: unemployment will increase, incomes will plummet, the West will record the largest real income decline since the Great Depression.  However if such policies were steadfastly pursued for a decade or two, not only would emissions plummet too (as they have done in 2020), but our behavior and ultimately the economy would adjust. People will find jobs in different activities that will remain untaxed and thus relatively cheaper and whose demand will go up. Revenues collected from taxing “bad” actvities may be used to subsidize “good” activities or retrain people who have lost their jobs. (Branko Milanovic, Global Inequality)

Milanovics Aufstellung ist ein weiteres Zeichen für das, was ich in meinem Artikel zur CO2-Steuer angemahnt habe: eine solche Steuer wird, wenn sie tatsächlich die gewünschte Lenkungswirkung haben soll, massive Verwerfungen zur Folge haben. Glaubt jemand, dass die Fluglinien nicht mit Händen und Füßen gegen die Einführung einer CO2-Steuer vorgehen werden, die ihr Geschäftsmodell gefährdet? Oder die Tourismusbranche? Und so weiter und so fort? Ich halte die Vorstellung, dass eine linear steigende Steuer und der mit ihr gekoppelte Zertifikatehandel solche Verwerfungen auslösen und diese alleine über Jahrzehnte implementieren könnte für naiv. Ohne begleitende Maßnahmen und politische Aushandlungsprozesse, Subventionen und schmutzige Deals wird da nichts gehen, einfach, weil es politisch anders nicht durchsetzbar sein wird.

3) One more body in the septic tank that is British colonial history

The Kenyan government’s callousness and recalcitrance in dealing with crimes against Kenyans is a reflection both of its own commission of similar crimes against them and of its colonial roots. [...] The attempt to cover up the Wanjiru case by both the Kenyan and British governments is also a potent reminder that no British settlers, officials, troops, or police officers have ever been held to account for the brutal murder and torture of thousands, and the incarceration of up to 1.5 million people in concentration camps, during the 7-year State of Emergency declared in 1952 at the height of the Mau Mau rebellion against colonial rule. In fact, for more than half a century, the British government stole, destroyed and hid any documents that might, as reported by the Guardian, “‘embarrass [the British government] or other government’ or cause problems for any colonial policeman, civil servant or member of the armed forces”. [...] By 2020, Germany had paid nearly $92 billion in reparations to Jewish and non-Jewish victims of its World War II crimes. To this day, the country continues to pay stipends to survivors, last year agreeing to provide nearly $700 million to aid 240,000 Holocaust survivors struggling under the burdens of the coronavirus pandemic. By comparison, the British agreement to compensate 5,000 victims of its torture camps at the rate of $4,000 per victim, without even having to offer an apology, is a travesty and speaks to racism and power imbalance that continued to devalue African lives and suffering. And not a penny has been paid to the vast majority of the tens of millions it terrorised and brutalised across the world under its Empire. (Patrick Gathara, Al-Jazeera)

Es fällt immer wieder auf, was für ein Alleinstellungsmerkmal wir in Deutschland bei all unseren Schwächen auf diesem Feld in der Vergangenheitsbewältigung noch haben. Gerade in Großbritannien ist eine geradezu widerliche Empire-Nostalgie immer noch weit verbreiteter Standard. Auch andere Länder wie Frankreich und Belgien haben ihre Kolonialgeschichte nur sehr bruchstückhaft aufgearbeitet, und wie die aktuelle Debatte in Deutschland zeigt sind wir auch da nicht eben mustergültig. Die Ausnahme macht allein der Holocaust.

4) Wie die Ampel und die CDU eine seltene Chance vergeuden

Eine neue Koalition, ein im Bund nie da gewesenes Bündnis, das sich selbst über Veränderung zu definieren versucht, hätte ausbrechen können aus der Logik. Dass sie es nicht schafft, sieht man daran, dass Parteien weiter Profilierung gegen Klimaschutz betreiben, [...] Das ist die alte Logik: Es für eine gute Nachricht zu halten, wenn die anderen wenig Klimaschutz planen, weil man daneben leichter bestehen kann. [...] [Röttgens] Kontrahent Friedrich Merz hat allerdings bislang noch viel weniger Ambition erkennen lassen, Klimaschutz als zentrale Aufgabe der kommenden Jahrzehnte zur Grundlage seines politischen Denkens zu machen. So wenig wie sonst vor allem die Junge Union. Selbst wenn Röttgen seine Initiative also konsequenter weitertreiben wollte: Klima bliebe unionsintern ein Marker für einen Teil der Partei. Kein Konsens, sondern erneut: Profilierungsmöglichkeit. [...] Noch vor Weihnachten soll die Ampelkoalition stehen. Mitte Januar endet eine mögliche Stichwahl um den CDU-Vorsitz. Bis dahin können sich alle Parteien noch relativ freischwebend ausrichten. Spätestens dann setzt die politische Schwerkraft wieder ein. (Jonas Schaible, SpiegelOnline)

Das ist glaube ich das erste Mal, dass ich einem Essay von Jonas nicht weitgehend zustimme. Nicht, dass seine Einschätzung der Dringlichkeit entschlossenen Handelns angesichts der Klimakrise falsch wäre, oder dass er daneben liegen würde, wenn er sowohl Ampel als auch CDU weitgehende Tatenlosigkeit vorwirft. Nein, ich halte es nur für eine merkwürdige Vorstellung, hier bestünde eine ungenutzte Chance, weil alles in der Schwebe sei.

Denn die Parteien müssen ja ihre Machtposition festigen, und dazu gilt es ja gerade in der Schwebe, die eigenen Grundlagen zu festigen. Man experimentiert nicht, wenn ein feines Gewebe austariert wird. Die Ampelverhandlungen funktionieren ja vor allem deswegen, weil die Positionen der drei Parteien ziemlich klar sind und niemand plötzlich die Primadonna spielt oder einfach neue Ideen einwirft, die vorher nie angesprochen waren. Dafür ist ja der Wahlkampf da, und der hat deutlich genug gezeigt, wie wenig Appetit sowohl seitens der Parteien als auch, und das ist entscheidend, der Wählendenschaft für solche neuen Ansätze besteht.

5) Eine Partei droht zu sterben

Währenddessen sitzt Sarah Wagenknecht, die nur noch einfache Abgeordnete ist, als prominentestes Gesicht der Partei in Talkshows. Dort postuliert sie, etwa in den Themen Migration, Identitätspolitik oder auch der Corona-Impfkampagne, teilweise von der Parteilinie abweichende Meinungen. Auch dies verstärkt in der Öffentlichkeit den Eindruck von Unklarheit. Die Partei muss damit umgehen, dass sich ihre Rolle im Parteiensystem in den letzten Jahren verändert hat. Lange lebte sie im Osten des Landes maßgeblich von ihrem Image als Protestpartei. Je stärker sie in den Ländern in Regierungsverantwortung gegangen ist, desto schwieriger konnte sie die Protestrolle ausfüllen. Mittlerweile liegt die AfD in allen ostdeutschen Bundesländern außer in Berlin vor der Linken. [...] Die Ursachen für den Stimmenverlust liegen allerdings tiefer: In ihren Gründungsjahren konnte die Linke einhellig gegen den "Sozialabbau" protestieren. Bei den sozialen Themen fanden die verschiedenen Strömungen der Partei viele Schnittpunkte zueinander. In gegenwärtigen Debatten über die Aufnahme von Geflüchteten, über den Umgang mit Minderheiten und insbesondere in identitätspolitischen Diskussionen ist die Partei zerrissen. Die Folge sind Lähmungserscheinungen in der Außenwirkung. [...] Inhaltlich wollte die Linke immer Partei der sozialen Fragen sein. Jedoch genießt sie ausgerechnet hier immer weniger Vertrauen. In den Themen der sozialen Gerechtigkeit, bei angemessenen Löhnen und der Altersversorgung wird die Linke als weniger glaubwürdig gesehen als noch bei der vorangegangenen Bundestagswahl. Besonders auffällig ist, dass die Kompetenzen der SPD auf diesen Gebieten erstmals seit Jahren wieder gestiegen sind. Der Partei also, gegen deren Politik sich die Linke einst gegründet hat. (Michael Freckmann, T-Online)

Mit Oskar Lafontaines Spaltung der einstmals mächtigen LINKE-Fraktion im Saarland bewahrheitet sich einmal mehr das alte Bonmot, nachdem sich Geschichte stets wiederhole: einmal als Tragödie, einmal als Farce. Die Tragödie war das Schisma in der SPD, die Farce ist nun die Spaltung der LINKEn. Der Mann ist zerstörerische Kraft, auf die ein Schumpeter stolz sein könnte. Er reißt nieder, er erschafft, und nun reißt er wieder nieder. Ich bezweifle, dass noch irgendetwas Konstruktives aus dieser Ecke zu erwarten ist.

Ansonsten aber zeigen sich für die LINKE in meinen Augen vor allem zwei Probleme. Einmal macht ihr die AfD die Rolle als Interessenvertreter*in der Ostdeutschen streitig, die bundespolitisch einfach eine Sackgasse ist - eine Sackgasse, aus der die LINKE dank ihrer fundamentalistischen Positionen in der Außenpolitik bisher nicht ausbrechen konnte. Und zum anderen lebte die LINKE von ihrem Kernkompetenzfeld als Partei "sozialer Gerechtigkeit". Wenn die SPD diesen verlorenen Grund nun einerseits wieder gutmacht und andererseits die Bevölkerung ihren Frieden mit dem Status Quo gemacht hat, verliert die Partei auch hier jegliches politische Kapital.

Aus diesem Dilemma auszubrechen ist extrem schwierig und könnte gut und gern mit der Rückkehr der Partei unter die 5%-Hürde enden. Da wäre sie gut aufgehoben.

6) Menace Enters the Republican Mainstream

From congressional offices to community meeting rooms, threats of violence are becoming commonplace among a significant segment of the Republican Party. Ten months after rioters attacked the United States Capitol on Jan. 6, and after four years of a president who often spoke in violent terms about his adversaries, right-wing Republicans are talking more openly and frequently about the use of force as justifiable in opposition to those who dislodged him from power. [...] But historians and those who study democracy say what has changed has been the embrace of violent speech by a sizable portion of one party, including some of its loudest voices inside government and most influential voices outside. In effect, they warn, the Republican Party is mainstreaming menace as a political tool. [...] Notably few Republican leaders have spoken out against violent language or behavior since Jan. 6, suggesting with their silent acquiescence that doing so would put them at odds with a significant share of their party’s voters. [...] The increasing violence of Republican speech has been accompanied by a willingness of G.O.P. leaders to follow Mr. Trump’s lead and shrug off allegations of domestic violence that once would have been considered disqualifying for political candidates in either party. [...] There is little indication that the party has paid a political price for its increasingly violent tone. (Lisa Lerer/Astead Herndon, New York Times)

"Faschismus liegt in der Luft", schreibt die USA-Expertin Annika Brockschmidt angesichts dieser Entwicklungen. Während ich ihre Besorgnis erregende Analyse durchaus teile - die Republicans haben sich von demokratischer Politik längst verabschiedet - finde ich "Faschismus" den falschen Begriff. Trump sah sich gerne als ein moderner Mussolini, aber die USA sind wesentlich empfänglicher für dezentralere Formen politischer Gewalt. Man muss nur zurück ins 19. Jahrhundert blicken um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie das aussehen kann. Damals wurde massive Gewalt gegen den politischen Gegner ausgeübt, man ergab sich in Straßenschlachten und Terrorattentaten. So etwas sehe ich wahrscheinlicher als den Aufstieg eines charismatischen Führers und den formalen Untergang der Republik.

7) »Perfekte Deutschkenntnisse vorausgesetzt« – warum eigentlich?

Am Arbeitsplatz geht es darum, Informationen sowohl richtig aufzunehmen als zu vermitteln. In vielen Branchen und Positionen ist das auch mit grammatikalischen Fehlern und Akzent möglich. Das können Sie vergleichen mit Deutsch-Muttersprachlern, die in einem Projekt Englisch sprechen müssen. Bei denen wird schließlich auch ohne Bedenken toleriert, dass das Englisch nicht perfekt, aber zum Arbeiten absolut ausreichend ist. [...] Selbstverständlich werden Sie Positionen identifizieren, auf denen weiterhin eine fehlerfreie schriftliche und verbale Kommunikation notwendig ist. Aber deshalb muss man nicht ungeprüft zu hohe Sprachanforderungen stellen. Viele gute potenzielle Kandidaten werden durch die Anforderungen »perfekt, verhandlungssicher oder fließend« abgeschreckt – und bewerben sich erst gar nicht. Diese Hürde können sich Unternehmen, die mit Fachkräftemangel zu kämpfen haben, nicht leisten. [...] Zu hohe Sprachanforderungen können übrigens dazu führen, dass Mitarbeiter sich scheuen, Deutsch im Arbeitsalltag zu sprechen – zum Beispiel weil sie mit der Grammatik hadern. Das ist aber wichtig, damit sich die Kollegen weiter verbessern können. Machen Sie ihnen Mut! Es ist okay, etwas auf Englisch oder in einer anderen Sprache zu sagen, wenn mal eine Vokabel fehlt. Das Gleiche gilt natürlich auch für Teammitglieder, die plötzlich Englisch sprechen müssen. Gleiches Recht für alle. (Lunia Hara, SpiegelOnline)

Ich finde neben der Tatsache, dass hier wieder einmal die gewisse Willkürlichkeit des Personalauswahlprozesses sichtbar wird, das vor allem deswegen unterhaltsam, weil die meisten Leute ja selbst kein "perfektes Deutsch" sprechen und gar nicht merken, welche Fehler sie machen oder welche grammatikalischen Besonderheiten sie nicht beherrschen. Ich sag nur "Futur II" oder "Konjunktiv II". Auch am Deklinieren des Plusquamperfekt scheitern reihenweise Erwachsene, und das ist Stoff der 5. Klasse. Was gemeint ist ist ja letztlich "fließend Deutsch" sprechen, also auf eine Art schriftlich und mündlich kommunizieren, die zur Mehrheitsgesellschaft passt.

8) Lockdown für alle?

Es wäre dann eine durchaus offene Frage, ob nicht gerade der Vorteil einer expliziten Feststellung des Ausnahmezustands, ob man ihn nun „epidemische Lage“ oder sonstwie nennen mag, darin liegen könnte, die zeitliche Begrenztheit dieses Zustands zu markieren und ihn durch seine formelle Beendigung von einem Tag auf den anderen einfach abzuschalten, um dann wieder zum Normalbetrieb zurückzukehren. Darauf habe ich keine klare Antwort. Aber auch dieses Argument verliert an Überzeugungskraft, wenn der als solcher gedachte Ausnahme- zu einem Dauerzustand geworden ist, dessen Ende offen ist: Wer sagt eigentlich, dass im nächsten Winter alles besser wird? Oder es überhaupt irgendwann einmal vorbei ist? Bislang hat sich noch jede Nachricht vom Ende der Pandemie, ob durch wärmeres Wetter oder den Impfstoff, zuverlässig als verfrüht erwiesen. Wollen wir dann immer in diesem Modus weitermachen? [...] Auch eine allgemeine Impfpflicht ließe sich, wie die bisherige Diskussion gezeigt hat, in diesem Sinne verfassungsrechtlich durchaus begründen; man bräuchte nur eine Vorstellung, wie man sie denn durchsetzt, nachdem die politisch Verantwortlichen sie von Anfang an – und wie sich auch hier zeigt: vorschnell – ausgeschlossen haben. Liefen wir dann trotz allem doch in eine Triagesituation hinein, wie sie natürlich niemand wollen kann, wäre die nüchterne Frage, ob und inwieweit die Weigerung, sich selbst impfen zu lassen, als Kriterium für die dann zu treffende Entscheidung zu berücksichtigen ist. Dafür lassen sich durchaus rechtfertigende Gründe anführen, wie kürzlich gezeigt worden ist. Dabei ginge es nicht um ein achselzuckendes „Selber schuld“, wie oft unterstellt wird, um das Argument von vornherein zu diskreditieren: Natürlich soll jeder, ob geimpft oder nicht, die beste Behandlung bekommen, die möglich ist. Aber wenn eine solche Behandlung nach den gegebenen Umständen nur für einige möglich ist, für andere aber nicht, müssen Kriterien gefunden werden, nach denen die Auswahl getroffen wird. Auch hier entspricht es dann einem Gebot gerechter Lastenverteilung, dass, wenn man Entscheidungen frei und eigenverantwortlich trifft, man im Fall des Falles auch die Konsequenzen dieser Entscheidung zu tragen hat; jedenfalls fällt mir kein plausibles Argument ein, das es rechtfertigen könnte, diese stattdessen auf Dritte – wie andere dringend Behandlungsbedürftige – abzuwälzen. (Uwe Volkmann, Verfassungsblog)

Was in dieser beknackten Diskussion übrigens regelmäßig untergeht: die Mehrheit ist konsistent seit Beginn für schärfere Maßnahmen, und zwar deutlich, aber es wird gerne so getan, als ob die Schwurbler die "schweigende Mehrheit" darstellen würden. Dabei sind sie nur ein besonders lauter Haufen. Das Problem der Impfpflicht ist nicht der verfassungsrechtliche Rahmen. Es sind die politischen Kosten, die von den Verantwortlichen gescheut werden, und die völlige Verweigerung irgendwelcher Planung und Vorbereitung, die eine Impfpflicht de facto unmöglich machen. Selbst wenn eine solche Pflicht nun verabschiedet würde - die Kapazitäten sind ja gerade gar nicht da, wenn man sich die Schlangen anschaut, die allein wegen der Booster-Impfung gerade entstehen. Und die Impfzentren hat man ja in dieser bescheuerten Weigerung, auch nur eine Woche vorauszudenken, ebenfalls geschlossen.

9) Andrew Sullivan and the Narrative of the "MSM Narrative"

In recent years Andrew Sullivan has been othered by parts of the MSM for sins against current political orthodoxy. To him, these recent developments feel like a big, all-consuming story. Because for him, personally, they have been. And I’ll be honest: I get that. I get that a lot. But someone has to defend the honor of the dreaded mainstream media. Because here is the very boring truth about “MSM narratives”: The media is a vast space where actors and institutions are interconnected, but operate semi-independently, according to a variety of incentives. Sometimes independent actors make good-faith mistakes. Sometimes they make bad-faith mistakes. But in most cases—in nearly every case, actually—the marketplace of ideas eventually wins and the truth outs. The MSM is like a giant peer-review system, but where the peer-reviewing takes place after publication. Jonathan Rauch talks about this at length in The Constitution of Knowledge—that the scientific enterprise and the journalistic enterprise have similar modes of operation. Is the journalistic mode great? No. Like democracy, it is the worst system there is—except for all the others. By its diffuse nature, the media can’t be optimized. There will always be flaws and inefficiencies. (Jonathan Last, Bulwark)

Jonathan Last schlägt in seiner Kritik in die gleiche Kerbe, in die ich mit meinen Artikeln zur Frage der Parteilichkeit und zu den Öffentlich-Rechtlichen auch angesprochen habe: die Medien sind ihr eigenes Korrektiv. Das ist quasi die positive Variante. Negativ gesehen neigen sie eben auch zu einem gewissen Herdentrieb und überkorrigieren dann gerne. Das führt dann zu diesen Einseitigkeiten, die immer wieder von den Betroffenen beklagt werden - ob wie ich seinerzeit in den 2000ern der neoliberale Konsens oder diverse Leute jetzt die verspätete Erkenntnis und Überkorrektur der bisher fehlenden Diversity.

Aber insgesamt ist sicher richtig, dass das System sowohl zur Selbstkorrektur neigt (zumindest langfristig) als auch in seinen Problemen kaum zu reformieren ist. Gerade die Freiheit der Medien, die unabdingbar zur Demokratie gehört, verhindert letztlich, dass diese Grunddynamiken sich jemals ändern können. Jede Institution, jedes System hat seine eigenen Dynamiken und Prozesse, die gleichzeitig sein Funktionieren garantieren und ein Problem sind. Die richtige Strategie scheint mir eher ein informierter Umgang damit und der Versuch, die schlimmsten Auswüchse zu vermeiden, zu sein.

10) SPD will Sondersitzung des Landtags

Die SPD-Fraktion dringt wegen der sich zuspitzenden Corona-Lage im Land auf eine Sondersitzung des Landtags noch vor der Konferenz der Ministerpräsidenten am Donnerstag. „Die passive Haltung der Landesregierung in der Corona-Politik der vergangenen Wochen muss ein Ende haben“, sagte SPD-Fraktionschef Andreas Stoch am Montag in Stuttgart. „Während andere Bundesländer bereits strengere Regeln zur Pandemieeindämmung eingeführt haben, schaut die grün-schwarze Landesregierung wie das Kaninchen auf die Schlange, wann denn endlich die Alarmstufe erreicht ist.“ Die SPD könne bei der grün-schwarzen Landesregierung derzeit keine klare Strategie zur Bewältigung der vierten Corona-Welle erkennen. (dpa, Stuttgarter Nachrichten)

Wir sehen hier dieselbe Dynamik, wie ich sie auch beim Thema der Schuldenbremse kritisiert habe. Die Politik hat die unglückliche Neigung, sich selbst aus der Verantwortung zu nehmen, indem sie sich an arbiträre Zahlen bindet. Das erlaubt es ihr, kollektiv die Hände in die Luft zu werfen und nichts zu tun. In diesem Fall ist es die "Alarmstufe". Seit sicherlich zwei Wochen explodieren überall die Inzidenzen. Jede*r weiß, dass zwingend Maßnahmen ergriffen werden müssen, und jede*r weiß, dass diese kommen werden.

Aber anstatt zu handeln, wo diese Dinge klargeworden sind, wartet man, bis die Inzidenzen den (arbitären) Wert erreicht haben, für den man die "Alarmstufe" festgelegt hat. Niemand tut etwas vorher, es wird auch nicht nennenswert geplant und vorbereitet. Seit über zwei Wochen etwa zeigen alle Zahlen deutlich, dass die Infektionen unter Kindern und Jugendlichen explodieren. Trotzdem hat die Landesregierung sich standhaft geweigert, die Regeln zu ändern, bevor die Alarmstufe wieder erreicht ist, diese sinnlose, bedeutungslose Zahl, an die man sich gekettet hat, um auf scheinbare Sachzwänge zu verweisen und ja keine politischen Entscheidungen treffen zu müssen, für die man dann kritisiert werden könnte.

Deswegen ist auch Armin Nassehis Frage, ob wir nichts gelernt hätten, deplatziert. Es ist ja nicht so, als ob Winfried Kretschmann zu blöd wäre, zu lernen, oder zu faul. Es erfordert tatsächlich eine ganze Menge Aufwand, nichts zu lernen. Das ist ein bewusster, stark getriebener Vorgang, anders sind solche abartigen Aussagen wie "hinterher ist man immer schlauer" gar nicht zu erklären. Hier wird mit einer arroganten Bräsigkeit ganz bewusst nicht dazugelernt, weil das erfordern würde, eigene Entscheidungen zu treffen, mithin also den Job zu machen, für den man gewählt wurde. Deswegen ist es auch so verquer, dieses Phänomen immer auf Merkel zu verengen. Sie ist der herausragendste Exponent dieser Haltung, aber das findet sich quer über alle Parteien und ist ein Prozess der letzten zwei Jahrzehnte. Es ist eine Weigerung der Politik, politisch zu sein.

11) "Der Schlüssel für die Interessen junger Menschen" (Interview mit Carl Mühlbach)

ntv.de: Viele junge Menschen gehen in den vergangenen Jahren schon auf die Straße, weil sie sich Sorgen machen, wie Politiker heute ihre Zukunft beeinflussen, etwa durch eine verfehlte Klimapolitik. Wie kamen Sie dazu, sich ausgerechnet mit Fiskalpolitik zu beschäftigen?

Carl Mühlbach: Politisch engagiert war ich schon früher, zum Beispiel als Schülervertreter in Bremen. Damals haben wir gegen harte Sparmaßnahmen im Bildungsbereich demonstriert. Später erst habe ich erfahren, dass diese Kürzungen auf die Einführung der Schuldenbremse zurückzuführen waren. Gezielt aktiv geworden bin ich dann in der Anfangsphase der Corona-Pandemie. Als Volkswirtschaftsstudent hat mich die große Diskrepanz zwischen dem ökonomischen Forschungsstand und der öffentlichen Debatte zum Thema Schulden gestört. Wenn es etwa hieß, dass man die Neuverschuldung aufgrund der Corona-Hilfspakete bald zurückzahlen müsse. Ebenso irreführend ist der Mythos, dass sich Deutschland nur aufgrund der Schwarzen Null der Vorjahre die umfangreichen Corona-Hilfen leisten konnte. Um darüber aufzuklären, und die Debatte zu versachlichen, habe ich Fiscal Future ins Leben gerufen. Inzwischen sind wir circa 70 Menschen, die meisten Studierende. Wir haben eine Website gelauncht, übersetzen den wissenschaftlichen Erkenntnisstand und sind auf Twitter und Instagram aktiv. [...]

Sie berufen sich auf den Stand der Wirtschaftswissenschaften. Es gibt allerdings auch Ökonomen, die das ganz anders sehen. Gerade in der vergangenen Woche haben sich immerhin zwei der vier Wirtschaftsweisen vehement für den Erhalt der Schuldenbremse ausgesprochen. Kommen Sie da nicht manchmal ins Zweifeln an ihrer Position?

Es stimmt, dass es auch andere Positionen gibt. Es gibt auch immer noch Ökonomen, die glauben, für den Klimaschutz seien überhaupt keine zusätzlichen staatlichen Investitionen notwendig und es handle sich nur um ein Regulierungsproblem. Doch das sind Positionen, die selbst in Deutschland in den Wirtschaftswissenschaften in die Minderheit geraten. Und global gesehen ist das bereits eine Außenseitermeinung. (Max Borowski, NTV)

Wie ich in meinem Artikel zum Paradigmenwechsel bereits prognostiziert habe, schwingt das Pendel der Wirtschafts- und Finanzpolitik gerade langsam in die andere Richtung. Ich zitiere das obige Interview weniger wegen des Inhalts - offensichtlich teile ich diese Positionen - sondern wegen des Framings. Die Abkehr von der bisherigen Orthodoxie wird als zukunftsgewandt geframet, als eine notwendige Voraussetzung zur zukünftigen Krisenbewältigung. Auch die Betonung, dass es sich bei der bisherigen Orthodoxie mittlerweile um eine Minderheitenmeinung handelt ist ein neuer Ton. Die linke Kritik war bislang immer die des einsamen Rufers in der Wüste. Das ändert sich, und irgendwann in den nächsten Jahren wird eine kritische Masse erreicht sein und den Paradigmenwechsel komplett machen.

Montag, 15. November 2021

Menschen als Waffe

 

Der belarussische Diktator Lukaschenko fühlt sich seit seinem Wahlbetrug Anfang des Jahres und der folgenden Unterdrückungskampagne gegen seine Bevölkerung wohl stark genug im Sattel, um sich als Handlanger Putins für dessen Schützenhilfe bei der erwähnten Unterdrückungskampagne zu bedanken und die EU unter Druck zu setzen. Mit Waffengewalt lässt der Diktator Geflüchtete zur belarussisch-polnischen Grenze treiben, um sie dort in die EU zu zwingen. Eventuell im Weg stehende Grenzbefestigungen der polnischen Seite ließ er durch seine Truppen beseitigen; diese sind auch dafür zuständig, dass die Geflüchteten nicht wieder zurückkommen können. Polen seinerseits reagiert mit der Abordnung von Truppen und der Aufstellung rechtsextremistischer Milizen. Es kam zu ersten Konfrontationen zwischen den Soldaten beider Seiten. Lukaschenko betrachtet die geflüchteten Menschen offensichtlich als Waffen in einem asymmetrischen Konflikt, aber was ist sein Ziel, und wie sollte die EU darauf reagieren?

Sehen wir uns zunächst genauer an, was geschieht. Bereits oberflächliche geografische Kenntnisse zeigen, dass Belarus nicht unbedingt ein natürlicher Durchgangspunkt für Geflüchtete aus Afghanistan oder dem Mittleren Osten ist. Tatsächlich ist es beinahe so schwierig, Belarus zu erreichen, wie, sagen wir, Großbritannien, nur nicht halb so attraktiv. Wie also kommen Geflüchtete aus Syrien nach Belarus? Die Antwort ist: sie werden eingeflogen. Belarussische Airlines holen die Leute ab, bringen sie nach Minsk, dort werden sie in Transporter gezwungen und zur Grenze gekarrt. Insgesamt hat Lukaschenko so eine mittlere vierstellige Zahl Geflüchtete ins Land geholt und setzt sie nun gegen die Außengrenzen der EU ein.

Warum tut er das? Rein rechtlich gesehen könnten Geflüchtete unter dem Dublin-Regime in Polen oder Litauen Asyl beantragen, da sie vorher in keinem anderen EU-Staat waren (inwieweit man Belarus als sicheren Drittstaat ansehen will, sei mal dahingestellt). Normalerweise liegen Polen und Litauen außerhalb der Fluchtrouten, und zumindest Polen weigert sich unter seiner rechtsradikalen PiS-Regierung auch hartnäckig, irgendwie bei der Verteilung der Geflüchteten innerhalb der EU zu kooperieren und hat praktisch keine aufgenommen. Die Geflüchteten an seiner Ostflanke stellen von daher eine symbolisch aufgeladene Bedrohung dar: die "anderen", die man so lange abgehalten hat, drohen nun ins Land zu kommen. Da die Herrschaft der PiS auf Ideen von ethnischer Homogenität und ähnlichem nationalistischen Blödsinn beruht, sind selbst die Handvoll Geflüchteter an der belarussischen Grenze eine ernsthafte Bedrohung für die Legitimität des polnischen Staates, der dieser sich entgegensetzen muss.

Neben dieser ideologischen Dimension müssen Polen und Litauen natürlich auch ihre Grenzen gegen den simplen Akt belarussischer Aggression absichern. Es ist als souveräne Nation ja nicht hinnehmbar, dass ein anderes Land die Grenze verletzt, egal auf welche Art. Spätestens mit der Sabotage der Grenzanlagen hat Belarus eine Linie überschritten, die grundsätzlich als Kriegsanlass durchgehen würde, auch wenn glücklicherweise niemand aktuell so stark eskalieren will.

Natürlich sind 4000 oder auch 8000 Geflüchtete keine reale Bedrohung von irgendwas, das weiß man in Minsk genauso gut wie in Warschau. Es geht um die Symbolwirkung, die hier entfaltet wird. Das ist offensichtlich auch die Idee hinter dieser Strategie, die Grenze dichtzumachen und so die Heuchelei des Westens offenzulegen. Es ist ein Kalkül, das Putins Handschrift trägt. Die Forderung der Einhaltung von Menschenrechten, mit der der Westen Belarus seit Monaten unter Druck setzt, wird hier auf die autokratisch üblich krude Weise gespiegelt: Seht her, wie könnt ihr von uns verlangen, irgendwelche Werte und Normen einzuhalten, wenn ihr euch selbst nicht daran haltet? Angesichts der immer schärferen Repression auch in Russland, das gerade mit Memoria eine hervorgehobene zivilgesellschaftliche Organisation verboten hat, ist das Interesse daran für die beiden Diktatoren klar ersichtlich.

Diese Strategie ist alt. Bereits Lenin forderte, die "Widersprüche hervorzuheben", die dem Kapitalismus (verstanden nicht als Wirtschafts-, sondern als liberal-westliche Gesellschaftsform) zu eigen sind. Durch den gesamten Kalten Krieg hindurch droschen die Kreml-Herrscher politisches Heu damit, auf die Menschen- und Völkerrechtsverstöße der USA hinzuweisen und sich in besserem Licht zu präsentieren, als ob das ihre eigenen Verstöße irgendwie rechtfertigte. Es ist effektiv. Dass sich deutsche Politiker wie der sächsische Ministerpräsident Kretschmer dabei zu ihren Wasserträgern machen, ist leider nicht das erste Mal. Oder, wie es der Postillon in einer Verballhornung des typischen BILD-Schlagzeilenstils so schön formuliert: "Gemeinheit! Fieser Weißrusse nutzt Weigerung der EU, Flüchtlinge wie Menschen zu behandeln, als Druckmittel aus!"

Polen hat bekanntlich selbst eine ganze Reihe von Problemen mit der Rechtsstaatlichkeit, um es höflich auszudrücken, aber anders als Ungarn fährt es eine scharf antirussische außenpolitische Linie, was angesichts von Geschichte und Disposition des Landes absolut verständlich ist. Angesichts dieser fehlenden Rechtsstaatlichkeit auf der einen und der hart rechten Haltung der Regierung andererseits war absolut berechenbar, dass die polnische Regierung mit Gewalt auf diese Herausforderung reagieren würde. Das ist genau das, was Lukaschenko will: Bilder von toten Geflüchteten an der EU-Außengrenze, getötet durch die Hände polnischer Soldaten und Milizen. Und Kaczinsky erfüllt ihm aus innenpolitischen Gründen und ideologischer Verblendung diesen Wunsch.

Die bisherigen Pushbacks der EU an den Grenzen sind zwar illegal, aber man macht sich entweder nicht persönlich die Hände schmutzig oder verheimlicht das Geschehen. Überwiegend hat man es outgesourct: serbische und türkische Grenzbeamte sind es, die die meiste Gewalt verüben. Wenn nun polnische Soldaten direkt für Tote verantwortlich sind, ist das eine neue Dimension. Fast noch schlimmer sind die rechtsextremen Milizen, die sich in Polen formiert haben und die (sprichwörtlich) den Segen der Regierung besitzen. Denn einer der großen Kritikpunkte der EU/NATO an Russland seit 2014 war deren Nutzung von Paramilitärs. Polen normalisiert nun auch das.

Um es kurz zu machen: die polnische Reaktion ist ebenso vorhersehbar wie für die EU schlecht. Aber die Vorhersehbarkeit erstreckt sich leider auch auf das Verhalten der restlichen EU. Sie gab einige lasche Erklärungen ab und überließ das Problem ansonsten Warschau. Einige Spezialisten wie der sächsische Ministerpräsident Kretschmer besorgten sogar noch das Geschäft für die Missetäter aus Minsk, indem er verkündete, dass die EU "solche Bilder aushalten muss". Eine offenere Erlaubnis für das Töten oder zumindest Sterben lassen von Menschen im Niemandsland zwischen Belarus und Polen ist kaum vorstellbar.

Die Eskalation zwischen den Streitkräften der beiden Länder hat die Dynamik allerdings noch einmal verändert. Heute hat Polen die NATO offiziell ersucht, Konsultationen auf Basis von Artikel 4 einzuleiten. Es ist auffällig, dass Warschau gar nicht erst versucht, über die EU-Strukturen - die ja ebenfalls ein Militärbündnis enthalten, und sogar ein stärkeres als die NATO! - zu einer Lösung zu kommen, sondern direkt die NATO bemüht. Artikel 4 sieht, anders als der so genannte "Bündnisfall" von Artikel 5, nur Beratungen vor. Er dient tatsächlich in diesem Fall dem faktischen Ausschließen der Eskalation auf Artikel 5, wie Carlo Masala erklärt, was die wohl einzig gute Nachricht der Chose ist.

Mittlerweile ist sogar Heiko Maas so weit, Sanktionen gegen Belarus zu fordern, was für ihn eine wahrlich harte Haltung darstellt. Tatsächlich sind Sanktionen in diesem Fall ein sehr probates Mittel. Die belarussische Strategie basiert darauf, dass die Airlines Flüchtende nach Minsk fliegen. Das ist dank der Sanktionen mittlerweile kaum mehr möglich. Die jetztigen Geflüchteten dort sind also ein einmaliges Event, so viel hat die EU-Politik bereits geleistet.

Was jetzt notwendig wäre ist der Aufbau von Resilienz, wie es Carlo Masala formulierte. Damit meint er ironischerweise dasselbe wie Michael Kretschmer - "wir müssen das aushalten" - nur auf eine völlig andere Art. Das vom Außenministerium wütend dementierte Gerücht, Deutschland würde die Geflüchteten mit Transitbussen aus Belarus nach Deutschland bringen, zeigt im Endeffekt den simplen Ausweg aus der Krise. Es handelt sich nur um einige tausend Geflüchtete. Die ließen sich problemlos in der EU verteilen, ohne dass das ein Land auch nur bemerkt. Selbst wenn wir die Autokratien Polen und Ungarn ignorieren und ausnehmen, ist die Verteilung stressfrei. Das Argument, dass damit ein Präzedenzfall geschaffen würde, der weitere Flüchtlingsströme nach sich zieht, greift nicht. Denn Minsk kann das nicht endlos wiederholen. Und selbst wenn es das tun würde: die EU kann es sich unendlich mehr leisten, Geflüchtete, die Lukaschenko teuer einfliegen lässt, aufzunehmen. Das ist ein Rüstungswettlauf, den wir nur gewinnen können.

Es muss einfach klar sein, dass es hier nicht um Geflüchtete geht. Die Situation ist eine vollständig andere als bei den Pushbacks im Mittelmeer, als auf Lampedusa oder in Moria. Diese Menschen werden als Waffe benutzt, als eine Waffe, die auf das Herz der EU gerichtet ist. Lukaschenko will zeigen, dass die EU genauso schrecklich und menschenverachtend ist wie er. Kretschmer und Kaczinsky wollen ihm diesen Gefallen tun. Das ist ein Fehler. Wir sollten stattdessen die Sanktionen gegen die Machthaber verschärfen, ihnen ihre Waffen aus der Hand schlagen und zeigen, warum diese Menschen nach Deutschland und nicht nach Belarus flüchten wollen.

Was hier stattfindet ist mindestens so sehr ein ideologischer wie ein machtpolitischer Konflikt. Wie im Kalten Krieg ist es am Westen, nicht nur seine Grenzen, sondern auch seine Werte in diesem Konflikt zu bewahren. Eine EU, die zwar ein paar Tausend Geflüchtete von ihrer Grenze fernhält, aber dafür die Menschenrechte bricht, hört auf, die EU zu sein. Die Angriffe Lukaschenkos und Putins richten sich auf unser Herz mindestens ebenso sehr wie auf unsere Glieder.

Donnerstag, 11. November 2021

Elon Musk trennt panisch in der Personalabteilung Müll, um geimpfte Flüchtende aus North Carolina fernzuhalten - Vermischtes 11.11.2021

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Ist »Longtermism« die Rettung – oder eine Gefahr?

Der Philosoph Phil Torres dagegen hat Longtermism in einem viel beachteten und diskutierten, durchaus polemischen Essay gerade als »üppig finanziert und zunehmend gefährlich« bezeichnet. Die Longermists seien technologiegläubig und, weil sie den Wert künftiger, noch ungelebter Leben ebenso hoch ansetzen wollten wie den heute lebender Menschen, teilweise zynisch und menschenverachtend. Longtermism sei eine »säkulare Religion«.  [...] Ein Mitglied der Szene schätzt, dass derzeit 46 Milliarden Dollar bereitstehen, um in Projekte des »effektiven Altruismus« investiert zu werden.  [...] Longtermism und effektiver Altruismus sind derzeit die bei vielen Reichen aus dem Silicon Valley wohl populärsten Denkschulen. Eng verknüpft sind sie wiederum mit Transhumanismus, also der Vorstellung, dass der Mensch sich technologisch selbst verbessern könnte und anderen Zukunftsvisionen, die sämtlich vor allem nach Science-Fiction klingen. Denkt man all das mit den Unsterblichkeitsfantasien von Leuten wie dem Milliardär und bekennenden Trump-Fan Peter Thiel und den Weltraumabenteuern von Superreichen wie Musk und Jeff Bezos zusammen, ergibt sich ein unangenehmes Gesamtbild: Kann es sein, dass die ultrareichen Finanziers der Longtermism-Idee daran vor allem eins mögen: dass sie eine gute Ausrede zu sein scheint, sich nicht mit dem Leid und den existenziellen Gefahren der Gegenwart beschäftigen zu müssen? Sondern lieber mit den eigenen Hobbys? Schließlich geht es doch um »das Potenzial der Menschheit«, nichts Geringeres? (Christian Stöcker, SpiegelOnline)

Eine weitere Folge in der beliebten Reihe, warum Milliardäre ein echtes Problem sind und wesentlich zu viel Einfluss besitzen. Radikale Ideen, gepaart mit viel zu viel unproduktivem Kapital, dazu ein gehöriger Schuss Hybris und Egomanie, und fertig sind die Organisationen, die die Welt in ihrem Sinne umzugestalten gedenken. Und im vorliegenden Fall haben wir es ja vor allem mit der cringe-würdigen Hobby-Philosophiererei von Leuten zu tun, die glauben, qua persönlichem Vermögen auch zur intellektuellen Elite zu zählen, und die damit Kollateralschäden anrichten. Viel schlimmer sind Leute wie die Koch-Brüder, die aktiv destruktive Agenden verfolgen und mit ihren Milliardenvermögen durchsetzen..

2) Few willing to change lifestyle to save the planet, climate survey finds

The survey found that 62% of people surveyed saw the climate crisis as the main environmental challenge the world was now facing, ahead of air pollution (39%), the impact of waste (38%) and new diseases (36%). [...] About 36% rated themselves “highly committed” to preserving the planet, while only 21% felt the same was true of the media and 19% of local government. A mere 18% felt their local community was equally committed, with national governments (17%) and big corporations (13%) seen as even less engaged. Respondents were also lukewarm about doing more themselves, citing a wide range of reasons. Most (76%) of those surveyed across the 10 countries said they would accept stricter environmental rules and regulations, but almost half (46%) felt that there was no real need for them to change their personal habits. [...] Asked which actions to preserve the planet should be prioritised, moreover, people attributed more importance to measures that were already established habits, required less individual effort, or for which they bore little direct responsibility. About 57%, for example, said that reducing waste and increasing recycling was “very important”. [...] Respondents viewed measures likely to affect their own lifestyles, however, as significantly less important: reducing people’s energy consumption was seen as a priority by only 32%, while favouring public transport over cars (25%) and radically changing our agricultural model (24%) were similarly unpopular. (Jon Henley, The Guardian)

Natürlich sind diese Ergebnisse eine Katastrophe. Wenn bereits jetzt eine große Mehrheit der Überzeugung ist, sie könne stolz auf ihre Leistungen zur CO2-Reduktion sein, spricht das für eine kollektive Selbsttäuschung von eklatantem Ausmaß, die gerade im Hinblick auf die kommenden Disruptionen - wir diskutierten jüngst die CO2-Steuer - nicht eben optimismusfördernd ist.

Mich erinnert das auch an die Selbsteinschätzung der eigenen Fähigkeiten hinterm Steuer, die von rund 90% der Autofahrenden als "überdurchschnittlich" eingestuft werden. Man geht davon aus, dass man selbst besser als die (nebulöse) Mehrheit ist und suhlt sich in einer selbstvergewissernden Überheblichkeit, die vor allem die Legitimation gibt, nichts am eigenen Verhalten zu ändern. Auch wenn man beständig andere Verkehrsteilnehmende schneidet oder gefährdet, da gibt es nichts zu ändern, weil man ja schon besser fährt als die meisten. Gleiches beim Klima: Man leistet ja schon mehr, jetzt sollen mal andere ran. Das funktioniert auf der individuellen Ebene genauso gut wie auf der staatlichen, wo das Narrativ von "Deutschland tut schon so viel für's Klima" erstaunliche Beharrungskräfte aufweist, obwohl es wenig mit der Realität zu tun hat.

Die Umfragen bestätigen auch, was ich in meinem Artikel zur CO2-Steuer geschrieben habe: die notwendigen Veränderungen werden von der Mehrheit abgelehnt und bekämpft. Man muss sich nur einmal die Zahlen anschauen. Eine knappe Mehrheit lässt sich für so minimalinvasive Maßnahmen wie Mülltrennung gewinnen, die zwar gut für die Umwelt, für den Klimaschutz aber weitgehend irrelevant sind. Bereits bei offensichtlichen, generisch-allgemeinen Maßnahmen wie der Reduzierung des Energieverbrauchs, die völlig offensichtlich notwendig sind und durch eine CO2-Steuer ja auch klar inzentiviert würden, stimmt nur noch ein knappes Drittel zu; common-sense-Maßnahmen wie einer Umgestaltung der industriellen Landwirtschaft oder dem motorisierten Individualverkehr nur noch jeder Vierte. Und das ist, bevor es tatsächlich konkret wird, und jeder konkrete Streit senkt üblicherweise die Zustimmungsraten noch einmal drastisch. Ein düsteres Bild.

3) Vollkommen losgelöst von der Realität

In Deutschland ist die Wahrnehmung von Kriminalität seit Jahren vollkommen entkoppelt von der tatsächlichen Kriminalitätsentwicklung. Während in der Befragung der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) fast zwei Drittel von einer starken bis sehr starken Zunahme der Kriminalität in den letzten fünf  Jahren ausgehen, schätzen nur sechs Prozent der Befragten die Kriminalitätsentwicklung realistisch ein. Diese Zahlen decken sich mit einer Umfrage aus dem Jahr 2016, in der mehr als zwei Drittel der Befragten von dieser Fehlannahme ausgingen. [...] Zwei Drittel der Befragten in der KAS-Studie gehen zudem davon aus, dass Kriminalität ein großes oder sehr großes Problem sei. Bei den über 65 Jahre alten Menschen sind es sogar mehr als drei Viertel, die das so sehen. Dabei ist diese Altersgruppe am wenigsten von Kriminalität betroffen, wie der Sicherheitsbericht feststellt. [...] Die Angst vor Kriminalität hat ein politisches Betätigungsfeld geschaffen, in dem Innenpolitiker „anpacken“ und Handlungsbereitschaft mit immer neuen Maßnahmen zeigen können. Denn da, wo Bürger:innen ein Problem sehen, können Politiker:innen etwas gegen das Problem tun. Auch wenn das Problem in der Realität immer kleiner und kleiner wird. In einem der sichersten Länder der Welt. (Markus Reuter, Netzpolitik.org)

Das ist kein neues Phänomen. Die Wahrnehmung von Kriminalität ist schon seit mindestens 20, eher 30 Jahren eine von gefühlten Wirklichkeiten. Ich würde für die Erklärung dieses Phänomens gar nicht so sehr das "cui bono" bemühen. Klar profitieren die Boulevard-Medien von den Horrorstories, klar profitieren Innenpolitiker*innen von dem Druck hinter ihren Forderungen. Aber letztlich ist das Narrativ einfach nur wahnsinnig attraktiv.

Genauso wie die im vorletzten Vermischten angesprochene "moral panic" über Squid Game ist die Erregung über angeblich steigende Kriminalität einfach nur ein super Gesprächsthema. Man kann sich ein bisschen gruseln, sich der eigenen Überlegenheit bestätigen, jeder und jede kann irgendwas dazu sagen, man kann über die Jugend von heute schimpfen und über Migrant*innen, und am Ende ist wie in eine warme Decke der Selbstsicherheit gehüllt, eine Bastion der Ruhe und Ordnung in einer chaotischen Welt zu sein.

4) Tweet

Ein weiteres Lieblingsthema von mir ist das Betrachten des Arbeitsrechts als allenfalls grobe Richtlinien durch die Arbeitgebenden. Zahlreiche Gesetze zum Schutz der Arbeitnehmenden beziehungsweise zu ihrem Vorteil werden gerne ignoriert oder bewusst gebrochen, wenn es den eigenen Interessen dient, die gerne selbstherrlich mit denen der Gesellschaft gleichgesetzt werden. Ob es darum geht, dass Vorgesetzte im Bewerbungsgepräch oder im Betrieb Frauen nach ihrem Schwangerschaftsstatus fragen, ob die Bildung von Betriebsräten verhindert wird, ob Überstunden nicht (richtig) abgerechnet werden, ob Arbeitszeitregelungen gebrochen werden, ob Ansprüche auf Gesundheitsschutz nicht gewährt werden, an allen Ecken und Enden kommt dem Arbeitsrecht ungefähr der Status der Straßenverkehrsordnung zu.

Ein weiteres "hobby horse", das ich in dem Zusammenhang habe, ist die vollständige Unseriosität der Personalerbranche. Ich habe das immer wieder im Unterricht, wenn Schüler*innen um Hilfe für ihre Bewerbungen oder Bewerbungsgespräche bitten und fragen, ob dieses oder jenes gut oder schlecht ankommt. Meine Antwort ist, sofern es nicht um grobe Formverstöße geht, meist ein hilfloses Schulterzucken. Wer weiß das schon? Diese Entscheidungen sind grotesk intransparent, niemand weiß wirklich nach welchen Kriterien Bewerbungen gesichtet werden, und letztlich ist es ein willkürlicher, von Glück und Zufall bestimmter Prozess.

Nicht, dass Notengebung an der Schule viel anders wäre, nebenbei gesagt.

5) The New Puritans

And today we are not just hip and modern; we live in a land governed by the rule of law; we have procedures designed to prevent the meting-out of unfair punishment. Scarlet letters are a thing of the past. Except, of course, they aren’t. Right here in America, right now, it is possible to meet people who have lost everything—jobs, money, friends, colleagues—after violating no laws, and sometimes no workplace rules either. Instead, they have broken (or are accused of having broken) social codes having to do with race, sex, personal behavior, or even acceptable humor, which may not have existed five years ago or maybe five months ago. Some have made egregious errors of judgment. Some have done nothing at all. It is not always easy to tell. [...] Still, no one quoted here, anonymously or by name, has been charged with an actual crime, let alone convicted in an actual court. All of them dispute the public version of their story. Several say they have been falsely accused; others believe that their “sins” have been exaggerated or misinterpreted by people with hidden agendas. All of them, sinners or saints, have been handed drastic, life-altering, indefinite punishments, often without the ability to make a case in their own favor. [...] Here is the first thing that happens once you have been accused of breaking a social code, when you find yourself at the center of a social-media storm because of something you said or purportedly said. The phone stops ringing. People stop talking to you. You become toxic. [...] Here is the second thing that happens, closely related to the first: Even if you have not been suspended, punished, or found guilty of anything, you cannot function in your profession. (Anne Applebaum, The Atlantic)

Ich kann der Kritik an diesen Auswüchsen wenig entgegenstellen. Klar ist das scheiße. Klar sollte das nicht existieren. Mein Problem mit diesem Text und anderen Texten dieser Art ist ein anderes, das ich in meinem Artikel zur Cancel-Culture-Debatte aufgeworfen habe: Das war schon immer so, es trifft jetzt aber andere Gruppen. Schon immer wurden aggressiv bestimmte Normen eingehalten, schon immer wurden Menschen, die gegen Normen verstießen, durch soziale Ausgrenzung, berufliche Vernichtung und Schlimmeres bestraft. Die im Artikel geschilderten Probleme sind gegenüber Leuten, die etwa in den 1950er Jahren in den USA Sympathisanten des Sozialismus waren, in den 1940er Jahren eine Mischehe führen wollten oder sich in den 1930er Jahren gegen Lynchmorde aussprachen, völlig harmlos.

Das macht es natürlich keinen Deut besser, und entsprechend dem Konzept ideologischer Nachbarschaft ist es auch die Aufgabe der Progressiven, gegen Auswüchse in ihrem Lager entschieden vorzugehen und diese zu verurteilen, eine Verantwortung, an der ich in der Vergangenheit sicher auch oft genug gescheitert bin und in Zukunft scheitern werde. Aber zu glauben, das Phänomen wäre neu, besonders stark verbreitet oder gar spezifisch links ist ein Irrtum, der nur in ideologische Schützengräben führt und Lösungen verbaut.

Ich halte es, neben den ideologischen Dimensionen, weiterhin für ein Kernproblem, dass die Gesellschaft Fehler nicht ermöglicht und Entschuldigungen nicht akzeptiert. Auch die Neigung, das Arbeitsrecht zur politischen Hexenjagd zu missbrauchen, ist der relevante Fall. Ich finde es gut und richtig, dass Leute, die etwa rassistische Äußerungen tätigen, sich sexistisch verhalten oder Ähnliches, dafür kritisiert werden Ich finde es völlig falsch, diese dann als Rassisten oder Sexisten zu bezeichnen, ist doch Rassismus wie Brokkoli. Genauso falsch ist es, deren berufliche Existenz deswegen vernichten zu wollen. Das Ziel muss sein, dass sie ihren Fehler einsehen und ihn künftig vermeiden. Dazu muss ich Leute weder dauerhaft an den Pranger stellen noch für ihre Kündigung sorgen.

6) Wir befinden uns im Krieg

An der Seegrenze zwischen der Türkei und Griechenland versuchen Menschen in Schlauchbooten von der Türkei aus, die ägäischen Inseln zu erreichen und werden auf dem Wasser an der Weiterfahrt gehindert. Die griechische Küstenwache fängt die Schlauchboote ab, beschädigt sie und lässt die manvövrierunfähigen Boote in Richtung Türkei zurücktreiben. Vermehrt kommt es auch dazu, dass die Schutzsuchenden auf Rettungsinseln gesetzt werden, die dann orientierungs- und hilflos in der Nacht auf dem Wasser zurückgelassen werden. Im Oktober 2021 hat ein Team aus Investigativjournalistinen noch einmal klarer belegen können, dass hier eine Spezialeinheit der griechischen Küstenwache die Menschen unter Androhung von Gewalt daran hindert, einen Asylantrag in der Europäischen Union stellen zu können. Mittlerweile ist dieses Vorgehen zu einer solchen Routine geworden, dass die türkische Küstenwache alle durch die Pushbacks erzeugten Seenotrettungsfälle dieser Art auf einer eigens angelegten Website mit dem einschlägigen Titel „Pushback Incidents“ sammelt. [...] Auch auf dem Balkan, in den Grenzregionen rund um Bosnien, Kroatien und Ungarn kommt es immer wieder und immer häufiger zu Pushbacks. Menschen auf der Flucht versuchen dort über die sogenannte „grüne Grenze“ zu kommen und werden nach einigen Kilometern innerhalb der Europäischen Union aufgegriffen, brutal zusammengeschlagen und unter Androhung von Gewalt wieder zurück nach Bosnien gebracht. Die Zahlen und die Entwicklungen der letzten Jahre sind beeindruckend und schockierend. [...] Um zu verhindern, dass Menschen erfolgreich die lebensgefährliche Fluchtroute über das zentrale Mittelmeer nach Italien, Malta und Spanien hinter sich bringen können, finanziert die Europäische Union die libysche Küstenwache – die Fluchtroute beginnt meist in Libyen – die wiederum sogenannte „Pullbacks“ durchführt. (Michael Schneiß, Verfassungsblog)

Die massiven Rechtsbrüche an den EU-Außengrenzen sind, leider Gottes, keine Neuigkeit. Ich weiß nicht, ob ich von einem "Krieg" sprechen würde. Doch, ich weiß es, so gesehen, das war nur ein Stilmittel: Ich würde es nicht tun. Schließlich schießen die EU-Grenzschützenden nicht auf Flüchtende, schließlich findet kein Völkermord statt, schlussendlich sind Kriege eigentlich ohnehin nur zwischen Staaten möglich. Nein, was hier passiert ist banaler. Es ist ein kollektiver, massiver und völlig unsanktionierter Rechtsbruch, der durch die Politik aller Staaten bewusst herbeigeführt wird. Die deutsche Regierung ist genauso schuldig wie die EU-Kommission, die griechische Regierung genauso wie die belgische.

Es ist auch ein weiterer Beleg dafür, dass sonst mit solcher Verve vorgetragene Überzeugungen eben doch meist viel weniger wert sind, als man annehmen könnte. Dieselben Konservativen und Liberalen, die ob der Verletzungen des Maastricht-Vertrags oder den Maßnahmen der EZB in einen rechtschaffenden Moralfuror verfallen und ihren Kontrahenten (gerne auch hier im Blog) mangelnde Rechtsstaatlichkeit vorwerfen, haben sehr viel weniger Probleme mit den planmäßigen Rechtsbrüchen, solange diese die Zahlen der Geflüchteten in Europa niedrig halten.

7) The Right’s Total Loss of Proportion

After some House progressives refused to vote for the package, Speaker Nancy Pelosi relied on 13 Republicans to help eke the plan through. Suffice it to say that those 13 Republicans—mostly moderates or those representing swing districts—have not been hailed as exemplars of pragmatic policy making. Democrats have little incentive to praise their political opponents. Voters have sent them vitriolic and threatening messages, which is no less acceptable for the fact that it is utterly predictable. But all of that is relatively mild compared with the incensed backlash that has come from fellow Republicans in Congress and the conservative press. “Any Republican that votes yes to an infrastructure bill that helps Biden pass his agenda when bumbling Biden doesn’t even know what he’s doing, then that Republican is a traitor to our party, a traitor to their voters, and a traitor to our donors,” Representative Marjorie Taylor Greene said ahead of the vote. Afterward, she accused the 13 Republicans of backing “Joe Biden’s Communist takeover of America.” [...] Even as Republican members clamor for their colleagues to be stripped of their committee assignments, the only Republican member who has been formally punished by the caucus in the aftermath of January 6 is Liz Cheney, who committed the cardinal sin of joining Democrats’ select committee to investigate the attacks. When House Majority Leader Kevin McCarthy’s poison-pill appointments of pro-insurrection lawmakers to the panel were rejected, Cheney broke ranks. She was quickly removed as House GOP conference chair. (Cheney, for her part, voted against the infrastructure bill.) If you find it easier to know what you think about a spending bill than an attempt to overturn an election, or if the former makes you angrier than the latter, you’ve decided that party matters more than country. (David A. Graham, The Atlantic)

Ich bin mir nicht sicher, ob ich einen akuten "loss of proportion" sehe; diese Haltung eint die GOP bereits seit 2009. Komplette, destruktive Opposition mit der Erzwingung absoluter Disziplin in den eigenen Reihen wurde bereits durch die komplette Obama-Ära betrieben, da ist nichts Neues. Natürlich ist es immer wieder gut, wenn das in Mainstream-Medien wie dem Atlantic explizit festgestellt wird, und besonders, dass auch der Hinweis kommt dass das eben kein Fall von "both sides are doing it" ist, denn die Democrats waren unter Trump sehr gesprächsbereit und haben Abgeordnete, die wie Joe Manchin manchmal für Trump-Maßnahmen stimmten, nie derart angegangen.

8) North Carolina Republicans Passed A Heavily Skewed Congressional Map. How Will The Courts Respond?

North Carolina’s previous congressional map — which is to say, the one used in last year’s election — already gave Republicans eight seats and Democrats five seats in a state President Biden lost by just 1 percentage point, but the new map gives the GOP an even greater advantage. According to our analysis, it creates 10 Republican seats, three Democratic seats and one highly competitive seat. The approved map has an efficiency gap of R+20.1, up 11.6 points from the old map, which had an efficiency gap of R+8.5. (Efficiency gap is a measure of which party has more “wasted” votes, i.e., votes that don’t contribute toward a candidate winning. This means that the new map is more than twice as efficient for Republicans as the old map, which was already pretty efficient for them.) Under the new map, North Carolina’s median congressional district is also now 11.4 points redder than the state as a whole. In other words, Democrats would have to win North Carolina by 11.4 points just to win half its congressional seats. [...] This isn’t the first time North Carolina has drawn maps that favor one group over others. During the 2010s, the state had two maps thrown out in court due to racial and partisan gerrymandering. Following the initial map in 2011, the courts ruled in 2016 that the state’s map had been racially gerrymandered to disadvantage Black voters in the state, a decision that was upheld by the Supreme Court. Then, in 2019, a state court panel threw out North Carolina’s 2016 map because it was ruled a partisan gerrymander that gave Republicans an advantage. (Mackenzie Wilkes, 538)

Und wo wir gerade bei den Machenschaften der Republicans sind (Fundstück 7): Auch das aggressive Gerrymandering ist nichts Neues, und in North Carolina schon gar nicht. Der Staat ist bereits Jahren an der absoluten Vorfront der Wählendenunterückung, da können die Republicans noch so viele Niederlagen vor Gericht erleiden. Der Staat mag eine besonders krasse Variation dieses Problems sein, aber ein Problem ist es vielerorten. Und ja, in dem Fall machen es auch Democrats, wo sie die Macht dazu haben, wenngleich nicht auf diese heftige Art und Weise. Aber das gehört zu den vielen systemischen Problemen des amerikanischen Staatsaufbaus.

9) Democrats are learning a vintage lesson about inflation

Such thinking even had the imprimatur of the lodestar of center-left econ punditry: "Don't worry about inflation: Why fears of the return of 1970s-style inflation are overblown," directed a Vox headline from July. And Larry Summers, a Democratic-leaning economist who expressed inflation concerns about the Biden agenda, was roundly mocked by lefty pundits. Democrats are now learning the hard way, however, that economic analysis should never be confused with political analysis. Recent polls are suggesting inflation doesn't need to be "great" or long-lasting to sour voters on the economy, even a fast-growing economy in which unemployment is falling. [...] The psychology of rising prices is a strange one. Even if wages are rising as fast, or even faster, an inflation upturn can unnerve people. [...] No president or incumbent party likes it when the Fed starts a tightening cycle in an election year given the risks rising rates present to the stock market and economy. The recent gubernatorial elections in New Jersey and Virginia gave Democrats plenty to worry about next year. Inflation is now giving them even more. And those concerns are likely here to stay. (James Pethokoukis, The Week)

Ich habe wenig Zweifel daran, dass die Inflation, höflich ausgedrückt, kein Gewinnerthema für die regierende Partei ist, gleich welche der beiden. Meine Vermutung wäre, dass sich der Effekt in Grenzen hält, solange die Wirtschaft boomt (was aktuell der Fall ist), aber wenn das Wachstum sich abkühlt, wird die Unzufriedenheit ziemlich schnell ziemlich stark steigen. Und dann wird sich einmal mehr bewahrheiten, dass es "the economy, stupid" ist, die vor allem anderen Wahlentscheidungen treibt, und dass es den meisten Leuten dabei recht egal ist, was Ökonom*innen dazu sagen - die gefühlten Wirklichkeiten triumphieren.

10) "Ich hoffe, dass man nicht wieder Schulen schließt" (Interview mit Christian Drosten)

ZEIT: Finden Sie die Abwägung zwischen dem Infektionsrisiko und den Schäden von Kindern im Lockdown legitim?

Drosten: Natürlich. Aber wie die Abwägung ausfällt, kommt auf die Welle an, die man betrachtet. In der zweiten Welle war die Situation eine ganz andere. Wir hatten eine hohe Infektionsdichte, viele Menschen waren bereits gestorben. Die Schulschließungen haben die zweite Welle gestoppt. Die Schulen waren das Zünglein an der Waage.

ZEIT: Hätte es auch da Alternativen gegeben?

Drosten: Man hätte auch sagen können, die Schulen bleiben offen, aber wir setzen richtig harte Homeoffice-Kriterien im Dienstleistungsbereich durch. Wir nehmen die Wirtschaft in die Pflicht, nicht die Schulen. [...]

ZEIT: Und halten Sie das [eine Kampagne für Booster-Impfungen] noch für machbar?

Drosten: Ich halte das infektionsbiologisch für sinnvoll. Neben dem Schutz der Alten würde man wahrscheinlich den Übertragungsschutz wieder zurückerobern, dann wird die Inzidenz rapide sinken. Besser wäre es noch, wenn man beides machen würde: boostern und Impflücken schließen. Aber das ist Sache der Politik. Ich fordere hier wohlgemerkt gar nichts, und ich will auch nicht suggerieren, dass Boostern allein das Problem lösen könnte. Die Zeit ist dafür wahrscheinlich ohnehin zu knapp.

ZEIT: Aber Sie sagen, was jetzt geboten wäre: Boostert! Schließt die Impflücken! Da gibt es allerdings eine Bevölkerungsgruppe, die sich verweigert.

Drosten: Ja. Aber wir haben auch die meisten Menschen durch eine Anschnallpflicht dazu gebracht, sich beim Fahren vor dem Unfalltod zu schützen. Als die eingeführt wurde, haben sich auch viele aufgeregt.

ZEIT: Egal, mit welcher Partei wir sprechen, alle sagen, eine Impfpflicht sei politisch nicht durchsetzbar. Was dann?

Drosten: Immunitätslücken schließen ist ein mittelfristiges Ziel. Kurzfristig muss man die Zahl der Neuansteckungen verringern. Die derzeitigen Forderungen nach Testung finde ich problematisch. Damit suggeriert man der Politik wieder einmal eine vermeintliche Lösung, deren Umsetzung nicht realistisch ist. So wie letztes Jahr das "Abschirmen der Altersheime". Für einen spürbaren Testeffekt auf Bevölkerungsebene bräuchten wir wieder zehn Millionen Tests pro Woche wie im Frühjahr. Und eine PCR-Testung als Ausweg für die Impfunwilligen ist durch Logistik und Zeitverzug unrealistisch.

ZEIT: Wo ist der Ausweg?

Drosten: Mangels Alternativen wird man wegen der Ungeimpften wieder in kontakteinschränkende Maßnahmen gehen müssen. Ob das juristisch zu halten ist, weiß ich nicht. Übrig bleibt dann das 2G-Modell, also ein Lockdown für Ungeimpfte. Ob das noch im November die Inzidenz senkt – ich habe da meine Zweifel. In jedem Fall hoffe ich, dass man nicht wieder Schulen schließt. Das wäre eine verhältnismäßig leicht umsetzbare Maßnahme. Für die Politik ist das viel leichter, als zu sagen: Jetzt machen wir eine Homeoffice-Pflicht. Und die Folgen für Gastronomie und Handel, kurz vor Weihnachten, darüber möchte ich jetzt gar nicht nachdenken. ( /, ZEIT)

Ich habe aus diesem sechsseitigen (!) Interview nur zwei Aspekte herausgegriffen. Ich empfehle es zur kompletten Lektüre.

Aspekt Nummer 1 ist die Frage der Schulen. Der deutsche Staat macht seine komplette Verachtung gegenüber Kindern und Jugendlichen einerseits und Familien andererseits während der Pandemie immer wieder deutlich, und die konstante Weigerung, auch nur die zartesten Verpflichtungen gegenüber den Unternehmen auszusprechen, um umso drakonischer in das Leben der jungen Menschen einzugreifen, ist ebenso offensichtlich wie abstoßend.

Aspekt Nummer 2 ist das ständige Verzögern von Handlungen, deren Notwendigkeit völlig offensichtlich auf uns zukommt. Wie versetzungsgefährdete Schüler*innen handelt die Politik solange nicht, bis alles zu spät ist und die Verantwortung für das Geschehen aus den Händen genommen ist. Gerne verfällt man dann in hektische Betriebsamkeit und erfindet Ausreden, aber machen kann man ja, leider, leider, nichts. Auch das ist ebenso parteiübergreifend wie abstoßend.

11) Heavy Metal

Genau so soll, genau so muss es sein. Die ganz normalen Leute, die hart arbeiten, jeden Tag rackern, haben in den vergangenen Jahrzehnten kaum mehr Lohnzuwächse gesehen. Deswegen fühlt sich die Inflationsrate auch höher an als sie ist. Sie ist immer noch niedriger als in früheren Zeiten, als es für alle aufwärts ging – nur damals stiegen auch die Löhne stärker. Nun ist das mit den Metallern und ihrer Gewerkschaft so eine Sache: traditionell geben sie einmal ein Maß vor, einen Richtwert. Andererseits können viele Branchen nicht so viel Druck machen wie die Metaller: bei den Arbeitern und Angestellten in der Metallindustrie gibt es immer noch eine starke gewerkschaftliche Vertretung, die Beschäftigten arbeiten gemeinsam in einer Fabrik, oft hunderte, oft sogar tausende. Man kennt sich da, hält zusammen, bringt Kampfkraft auf die Waagschale und es gibt auch noch einen Facharbeitermangel, der sich gewaschen hat. [...] Es ist Zeit für mehr Solidarität. Denn wenn jeder und jede für sich alleine ums Überleben rennt, dann bleiben am Ende alle über. Wer gute Arbeit leistet, soll ordentlich bezahlt werden. Wer rackert, muss davon zumindest einigermaßen über die Runden kommen. Der Abschluss bei den Metallern ist prima, aber eigentlich ist noch viel wichtiger, dass in anderen Branchen, in denen die Einkommen kaum mehr zum Leben reichen, die Gewerkschaften ordentliche Abschlüsse hinkriegen. Dafür brauchen sie Rückenwind und damit „uns“ – also die öffentliche Meinung, ein Meinungsklima in der Bevölkerung, das sagt: Legt mal bei denen ordentlich drauf, die es am meisten brauchen. (Robert Misik)

In meinem Grundatzartikel zur Ungleichheit hatte ich seinerzeit bereits auf die Bedeutungen von Gewerkschaften hingewiesen. Wo Beschäftigte gut organisiert sind, ist auch ihre Verhandlungs- und Machtposition gegenüber den Arbeitgebenden wesentlich stärker als dort, wo der Organisationsgrad gering ist. Wenn es der Linken, vor allem aber der Sozialdemokratie, ernst ist mit dem Ziel, die Ungleichheit zu reduzieren, dann sollten sie darin ansetzen, den Organisationsgrad zu heben, wo sie nur können.