Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.
1) »Squid Game« auf deutschen Pausenhöfen
Die bislang erfolgreichste Serie auf Netflix, »Squid Game«, hat nun auch die Schulhöfe in Deutschland erreicht. »Lehrerinnen und Lehrer haben berichtet, dass diese Serie auch an ihren Schulen nachgespielt wird«, sagte die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV), Simone Fleischmann, der Nachrichtenagentur dpa. Zwar spielten Kinder und Jugendliche auch andere Serien oder Computerspiele immer wieder nach, das sei ganz normal. »Aber das hat schon eine neue Qualität, und es sorgt für Aufregungen.« In Augsburg soll es wegen der Serie bereits zu Auseinandersetzungen unter Schülerinnen und Schülern gekommen sein, berichtet der Bayerische Rundfunk. »Wir beobachten, dass Kinder die Spiele aus der Serie nachspielen. Dabei werden dann Schüler geohrfeigt oder beschimpft«, sagte Michaela Zipper, Medienpädagogische Beratung des Schulamts, dem Sender. Zudem sollen Einladungskarten für »Squid Game« an Grund- und Mittelschulen gefunden worden sein. Eine Schule in Berlin hat Eltern eigens vor der Serie gewarnt. In einem Infoschreiben der Grundschule in Berlin-Mitte wird deutlich gemacht, dass einige Kinder über die Serie sprechen, diese aber erst ab einem Alter von 16 Jahren freigegeben ist, berichtet die »Berliner Zeitung«. Das bayerische Kultusministerium sieht die Popularität der Serie »mit Sorge«, wie ein Sprecher sagte. Sie verbinde »harmlose Kinderspiele mit massiver Gewaltausübung bis hin zu Tötungsdelikten«. Von konkreten Nachspiel-Fällen wisse das Ministerium zwar noch nichts – aber: »Da Schulen die Gesellschaft widerspiegeln, ist diese Serie sicherlich auch Thema auf den Schulhöfen.« Welche Spiele genau auf Schulhöfen nachgespielt werden, ist bislang noch nicht ganz klar. (dpa, SpiegelOnline)
Ich finde den Diskurs um "Squid Game" nur noch ätzend. An allen Ecken und Enden quillt da dieser scheiß Kulturpessimismus hervor, den diese Debatten schon immer an sich hatten. Der moralinsaure Alarmismus ist auch derselbe. Ob Rock'n'Roll in den 1950ern, Minirock und Pille in den 1960er Jahren, Punk und Dungeons&Dragons in den 1980er Jahren oder Counterstrike zu Beginn der 2000er Jahre (das war meine Generation, und oh mein Gott wurde da viel gequirlte Kacke erzählt...) - immer wird von gesetzten Politiker*innen, Eltern, Lehrer*innen und Journalist*innen verdammt, was sie selbst nicht nicht machen und verstehen, als nie dagewesenes Problem inszeniert und ist ein Jahr später zugunsten des nächsten Aufregers vergessen, der die Jugend gefährdet. Es ist so ungemein ermüdend.
Was mich ebenfalls wahnsinnig ärgert: Warum ist die Reaktion dieser ganzen Moralist*innen sofort, Verbote zu fordern? Einmal abgesehen davon, dass es ohnehin unmöglich ist, den Jugendlichen den Umgang mit den neuesten Aufregern zu verbieten (was man wissen könnte, weil es noch nie geklappt hat, aber ungefähr alle drei Jahre erneut versucht wird) - warum wird nicht die Forderung erhoben, das im Unterricht zu thematisieren? Anstatt in moralistische Panik zu verfallen, könnte man ja mal darüber sprechen, was die Kids an der Serie so toll finden, sie und ihre Interessen ernst nehmen und ihnen dabei helfen, Medien kritischer zu konsumieren. Vielleicht würden sie dann von selbst auf die Idee kommen, dass die Botschaft dieser (nicht besonders spannenden) Sozialkritik nicht unbedingt zum Nachspielen einlädt. Vielleicht auch nicht, aber so what? Die Moralpanik war noch nie begründet. Zumindest ist keiner meiner alten Klassenkameraden zum Terroristen oder Spezialeinheitensoldat geworden, nur weil wir Counterstrike gedaddelt haben.
2) Ein jahrelanges Martyrium in Deutschland – und niemand hält es auf
Die Geschichte des »Drachenlords« ist eine Geschichte der Hassfolklore einer ganzen Generation, eine Art kollektives Squid Game mit einem einzigen Opfer, vielen Tausend Tätern und Millionenpublikum. Es ist auch eine Geschichte der Verachtung von Außenseitern, des Hasses auf dicke und auf nicht besonders smart auftretende Menschen. Die Geschichte des »Drachenlords« zeigt, dass die extremste Form des Cybermobbing in Deutschland dazu führen kann, dass der Staat nicht etwa das Opfer schützt – sondern dazu gebracht werden kann, mitzumobben. Die Geschichte des »Drachenlords« ist damit eine katastrophale Versagensgeschichte der digitalen Gesellschaft, verantwortet von Medien, Politik, Exekutive, Jurisdiktion und dem Publikum. [...] Die bittere Erkenntnis des Falles »Drachenlord« ist: Wenn ein Tausende Köpfe starker Hassmob im Netz beschließt, eine Person fertig zu machen – kann die Bundesrepublik dem nichts entgegensetzen. Schlimmer noch – der Hassmob ist durch die Unwissenheit und den Zynismus von Staatsorganen und der medialen wie sozialmedialen Öffentlichkeit in der Lage, den Staat zum Komplizen zu machen. (Sascha Lobo, SpiegelOnline)
In diesem FAZ-Interview mit Dennis Leifel wird die problematische Seite des "Drachenlords" etwas näher beleuchtet, aber die Kritik an der Untätigkeit des Staates beziehungsweise der verkrusteten Strukturen, miesen Infrastruktur der Strafverfolgungsbehörden und deren mangelnden Kenntnisstand ist dieselbe wie bei Lobo, und ziemlich sicher zurecht. Deutschland ist auf allen Gebieten, was das Digitale angeht, ein zurückgebliebener Dinosaurier, ob Polizei, ob Bildungswesen, ob Infrastruktur oder Wirtschaft. Da ist nichts und niemand ausgenommen.
Ich stimme der These jedenfalls zu, dass wir es hier mit einem staatlichen Versagen zu tun haben, einer Art Abgabe des staatlichen Gewaltmonopols beziehungsweise dem Zulassen des Entstehens eines rechtsfreien Raums. So etwas passiert immer, wenn zwar Gesetze bestehen, diese aber de facto nicht durchgesetzt werden. Es zeigt sich hier, dass es wenig zielführend ist, über 15 Jahre lang ständig vom "rechtsfreien Raum" Internet zu schwurbeln, wie es CDU-Innenpolitiker*innen ausdauern getan haben, ohne je irgendetwas dagegen zu tun.
Wir haben solche rechtsfreien Räume übrigens auch in anderen Gebieten. Ich darf nur an den Individual-Autoverkehr erinnern, wo zahlreiche Regeln vom Tempolimit zum Sicherheitsabstand zum Parken praktisch nicht verfolgt und wenn nur milde bestraft werden und gesamtgesellschaftlich als Kavaliersdelikt gelten. Nur dass hier gerne erklärt wird, dass es sich eben um den Normfall handle...
Aber die Grundsicherung ist doch bereits höher als woanders!, könnte man jetzt einwenden. Ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts fließt in Sozialausgaben. Es ist jedoch komplizierter. Zu diesem Drittel zählen auch Steuererleichterungen für Familien, das Kindergeld und Zuschüsse zu sämtlichen Versicherungen, etwa zur Rentenversicherung. Schaut man sich an, wie viel Geld ein alleinstehender Grundsicherungsempfänger im Verhältnis zum mittleren Einkommen des jeweiligen Landes erhält, liegt Deutschland im Vergleich aller 38 OECD-Länder auf Platz 15, hinter Dänemark und Italien. Die Kosten der Arbeitslosigkeit allein lagen 2019 bei 51,3 Milliarden Euro, was nur 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts sind. In diesem Betrag ist allerdings nicht nur das enthalten, was tatsächlich bei den Menschen ankommt: Kosten für Wohnung, Versorgung, Versicherungen. Fast die Hälfte dieser 51,3 Milliarden sind sogenannte "Mindereinnahmen" – also theoretisches Geld, das der Staat als Steuern hätte einnehmen können. Diese Mindereinnahmen werden anhand eines durchschnittlichen Einkommens errechnet, das die Arbeitslosen hätten erarbeiten können, hätten sie einen Job gehabt. Das Geld ist also nicht weg, es war nur nie da. [...] Eine Erhebung der OECD kommt zu dem Schluss, dass 2017 nur 0,86 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts tatsächlich für Arbeitslose ausgegeben wurden. [...] Es kostet allerdings auch eine Menge Geld, wenn Menschen in finanzieller Not leben. Armut erzeugt Stress, und Stress macht krank, auf allen Ebenen. Der Staat bezahlt früher oder später Sozialarbeiter, Förderunterricht für die Kinder von Arbeitslosen, Krankenkassen bezahlen Therapeuten, Ärzte, Medikamente gegen Depressionen und ADHS. Armut erzeugt also im schlimmsten Fall Erwerbsunfähigkeit. Und damit noch mehr Armut. Hinzu kommt ein Verwaltungsapparat, der mit immer mehr Formularen und Kontrollvorgängen seine eigene Existenzberechtigung aufrechterhält. (Anna Mayr, ZEIT)
Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wie stichhaltig die Zahlen sind, die hier vorgebracht werden; vielleicht kann jemand in den Kommentaren etwas Licht auf die Sache werfen. Was aber unzweifelhaft richtig ist und, wenngleich mit völlig unterschiedlichen Argumenten und Zielrichtung, aus allen politischen Lagern kritisiert wird ist, dass das deutsche Sozialsystem wenig dazu angetan ist, tatsächlich Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Während von links vor allem der sanktionierende Charakter des Systems kritisiert wird, wird von rechter und liberaler Seite eher der mangelnde Förderungscharakter beklagt. Ich will diese Debatte an der Stelle gar nicht weiter vertiefen, sondern noch einen grundsätzlichen Kommentar loswerden. Diese Kritik mag ja berechtigt sein; gleichzeitig ist das deutsche System aber auch eines, in dem Arbeitslosigkeit nicht mit demselben katastrophalen Absturz verbunden ist wie in vielen anderen Ländern. Bei allen Problemen, die das System hat, gehört es weltweit doch zu den besseren.
4) How a Conservative Activist Invented the Conflict Over Critical Race Theory
‘Critical race theory’ is the perfect villain,” Rufo wrote. He thought that the phrase was a better description of what conservatives were opposing, but it also seemed like a promising political weapon. “Its connotations are all negative to most middle-class Americans, including racial minorities, who see the world as ‘creative’ rather than ‘critical,’ ‘individual’ rather than ‘racial,’ ‘practical’ rather than ‘theoretical.’ Strung together, the phrase ‘critical race theory’ connotes hostile, academic, divisive, race-obsessed, poisonous, elitist, anti-American.” Most perfect of all, Rufo continued, critical race theory is not “an externally applied pejorative.” Instead, “it’s the label the critical race theorists chose themselves.” [...] On air, set against the deep-blue background of Fox News, he told Carlson, “It’s absolutely astonishing how critical race theory”—he said those three words slowly, for emphasis—“has pervaded every aspect of the federal government.” [...] The next morning, Rufo was home with his wife and two sons when he got a phone call from a 202 area code. The man on the other end, Rufo recalled, said, “ ‘Chris, this is Mark Meadows, chief of staff, reaching out on behalf of the President. He saw your segment on ‘Tucker’ last night, and he’s instructed me to take action.” Soon after, Rufo flew to Washington, D.C., to assist in drafting an executive order, issued by the White House in late September, that limited how contractors providing federal diversity seminars could talk about race. [...] At my lunch with Rufo, I’d asked what he hoped this movement might achieve. He mentioned two objectives, the first of which was “to politicize the bureaucracy.” Rufo said that the bureaucracy had been dominated by liberals, and he thought that the debates over critical race theory offered a way for conservatives to “take some of these essentially corrupted state agencies and then contest them, and then create rival power centers within them.” I thought of the bills that Rufo had helped draft, which restricted how social-studies teachers could describe current events to millions of public-school children, and the open letter a Kansas Republican legislator had sent to the leaders of public universities in the state, demanding to know which faculty members were teaching critical race theory. Mission accomplished. (Benjamin Wallace-Wells, New York Magazine)
Ich empfehle den ganzen, langen Artikel über Rufo. Es ist ein interessantes, nuanciertes Porträt. Der Mann ist offensichtlich stolz auf seine Arbeit und hat Wallace-Wells bereitwillig Auskunft gegeben. Gerade die Offenheit darüber, was er (und, generell, seine Kolleg*innen) tun, ist beachtlich. Ich habe das ja schon öfter thematisiert, auch wenn das konservative Spektrum der Lesendenschaft hier es nicht wahrhaben will. Und wer glaubt, dass Rufo nicht offen erklärt, was er da macht - er twittert das sogar.
Die Parallele zur Gender-Debatte ist in meinen Augen auch offenkundig. Denn der Begriff stammt, genauso wie die "Critical Race Theory", aus dem links-grünen akademischen Lager der späten 1990er Jahre. In dem Fall war es "Gender Mainstreaming", aber das mittlerweile eingedeutschte "Gendern", das in rechten Kreisen gerne in Komposita zu "Gender-Gaga" oder "Gender-Wahnsinn" vermischt wird, hat sich hier als wirkungsvoller erwiesen und ist der Dauerhit der rechten Empörungs- und Identitätsmaschinerie, immer auch garniert mit der häufig wiederholten, aber wenig substanziellen Behauptung, in Wirklichkeit verteidige man sich nur gegen das Vordringen der bösen, das "normale" Deutschland unterwandernden progressiv-intellektuellen Elite. Es ist dasselbe Drehbuch, nur mit anders besetzten Rollen, angepasst an die lokalen Gegebenheiten.
5) Why the so-called “energy crisis” is both a threat and an opportunity
This is a familiar gambit. In economic policy, crisis talk is never innocent. Already in 1943, the Polish economist Michal Kalecki warned his Keynesian friends that in their battle to shape economic policy, the business lobby would use tactics similar to this. Too much government spending, employers would argue, was bad for “confidence” and would depress private investment and undermine growth and jobs. Invoking a “crisis in confidence” is an all-purpose rhetorical weapon. If business representatives declare that their spirits are flagging, who are we to argue with them? As the economist and New York Times pundit Paul Krugman once remarked, in economics the “confidence fairies” are conservatism’s last resort. Eighty years on, the discourse of today’s “energy crisis” follows the Kalecki playbook to the letter. First, the lobbyists and journalists, eager for a good story, declare energy price rises to be a crisis. Then they attribute the crisis to a shortfall in investment and blame this on a loss of confidence in the future of fossil fuels. The conclusion writes itself. To push down energy prices, all we have to do is moderate overly aggressive climate policy and give gas more latitude as a key transition fuel. Even the undead nuclear industry can be summoned from the crypt. But if we are serious about eliminating fossil fuels from energy systems, we are going to have to get used to weathering this type of crisis talk. Governments and societies at large have to call the bluff of the confidence lobby. (Adam Tooze, The New Statesman)
Ich empfehle Toozes kompletten Artikel; er geht noch wesentlich detaillierter auf die ökonomische Theorie ein, vor allem das Werk von Michal Kalecki und wie es hier Anwendung finden könnte. Für mich zeigt das alles einmal mehr die Bedeutung von Narrativen: wie über bestimmte Themen gesprochen wird, mit welchem Vokabular, ist entscheidend. Kein Framing ist je neutral, kann je neutral sein. Deswegen ist es relevant, einerseits Abwehrmechanismen gegen die ideologisch geprägten, aber scheinbar objektiven Narrative der Gegenseite und andererseits eigene, positive Narrative zu entwickeln, die eine Alternative bieten.
6) Zemmour, Le Pen and the French bourgeoisie
He is what could be called an authoritarian neo-reactionary. He believes in natural, biological hierarchies — between men an women, between people, between civilizations and religious traditions. A woman’s role is in the home, kinder-kuche-kirche, and the wealthy should retain more of their hard-earned fortunes. While challenged by foreign powers and contested from the inside by Marxists, feminists and immigrants, Judeo-Christian Europe sits at the top. Per the LA Times he recently spoke of the terrible plight of the “white, heterosexual, Catholic” man. I had missed that one, but who’s counting. Anyways, the solution to all of our society’s problems is to restore the natural order, otherwise the French will be replaced by hordes of Muslims. None of this is particularly original, let alone groundbreaking. It’s identity politics for Versailles and Neuilly, Paris’ very bourgeois western suburbs. The novelty is not Zemmour’s ideas, which are firmly rooted in the 19th century. What's new is that he is contesting Marine Le Pen's hold on the far right and expanding her somewhat limited base. [...] Zemmour, on the other hand, does not have to care about all that horse-trading, party mechanics, local elections and whatnot. He can say whatever he wants about Vichy and immigrants. He can go farther than Jean-Marie Le Pen himself ever went, precisely because he is a TV pundit. Given enough time and encouragements, I bet he’ll end up telling us that Captain Dreyfus was guilty of treason. He has no party apparatus nor bureaucracy behind him, he represents nobody but himself, his words have no consequences on the electoral prospects of local officials. He is a political free-rider. It’s all a big circus of increasingly desperate stunts, a race to nowhere to keep the spotlight trained on him. (Manu, Le Campagne)
Der Substack "Le Campagne" ist für Informationen zur französischen Präsidentschaftswahl sehr zu empfehlen, ich zitiere ihn allein in diesem Vermischten zweimal. Damit aber genug der Vorrede, zum Thema.
Die Person Zemmours scheint mit ein Beleg dafür zu sein, dass wir es in der Politik mit größeren Trends zu tun haben, die alle westlichen Demokratien auf die eine oder andere Art und Weise erfassen. Das Auftauchen von Rechtspopulisten etwa, die ihre politische Kraft aus einer publizistischen Karriere und nicht aus irgendwelchen Parteien ziehen, ist kein allein französisches Phänomen. Auch der Kampf gegen die Werte des Liberalismus und Kosmopolitismus findet sich in allen Ländern und wird häufig als Positionierung gegen die intellektuelle Elite, die angeblich die traditionellen Werte verrate, inszeniert.
Der Rest ist dann die Nutzung jeweiliger Eigenheiten der politischen Landschaft. Ein Erzkatholik hätte es im UK oder den USA natürlich schwerer als in Frankreich, aber das Ranwanzen an religiöse Konservative ist auch einem Trump nicht fremd. Die Vorstädte von Paris sind sicherlich etwas anderes als die ländlichen Gebiete in Pennsylvania, aber das spaltende, "Wir gegen die", machen diese Bewegungen alle.
Ebenfalls gemein ist diesen politischen Außenseitern, dass sie politische Dynamiken bis zu einem gewissen Grad ignorieren können, weil ihre Stärke so personenbasiert ist und auf dem beruht, was in den USA "free media" genannt wird: die Dauerberichterstattung in den traditionellen Medien. Dieser verdankte Trump wie nichts anderes seinen Erfolg, und ähnlich scheint das bei Zemmour auch zu sein. Ob es reicht, hängt alleine von einem Faktor ab: wenn die Wahl zwischen einem Demokraten (fast mit Sicherheit Macron) und einem oder einer Rechtsradikalen ist (Zemmour oder Le Pen), wie verhalten sich die Konservativen? 2017 haben sie sich überwältigend für die Demokratie entschieden, wo ihre Cousins in den USA für die Autokratie optierten (ich hatte darüber geschrieben). Ich hoffe, dass das dieses Jahr ähnlich sein wird.
7) 9Punkt
Derzeit ist der Wohnungsbau beim "Heimatministerium" untergebracht. In der SZ wünschte sich Gerhard Matzig dagegen von der neuen Regierung ein "Superministerium der zukünftigen Lebensraumplanung". Einfach schnell mal 400.000 neue Wohnungen hochziehen, wie es die Ampelkoalition plant, reicht ihm nicht aus, man müsse "das Ganze zu sehen. Lamia Messari-Becker, Bauingenieurin und bis 2020 Mitglied des Sachverständigenrats für Umweltfragen der Bundesregierung, bringt das Thema auf den Punkt: 'Klar ist, dass es endlich um Lebensraumplanung gehen muss - und nicht mehr nur darum, Baumassen aufzutürmen und Fläche unkontrolliert zu verbrauchen.' Sie fragt (ein fiktives Bundesbauministerium): 'Wie verbinden wir Wohnen und Arbeit? Wie schaffen wir innerstädtische Freiräume? Wie überwinden wir die Kluft zwischen Stadt und Land? Wie nutzen wir die ökonomische Stärke der Baubranche für eine Kreislaufwirtschaft? Wie reduzieren wir den Energie- und Materialverbrauch beim Bauen? Wie schaffen wir eine Trendwende beim Flächenverbrauch? Wie lassen sich Energie und Mobilität bezahlbar für alle Menschen gestalten?' Das sind nur die drängendsten Fragen. Für die Antworten fehlt bisher nicht die Expertise in Deutschland - aber die politische Macht. Der politische Mut. Der Aufbruch." (Perlentaucher)
Ich bin etwas skeptisch, ob die Antwort auf alle Fragen im Gründen von "Superministerien" sein kann - schließlich geht es um das Bündeln von Kompetenzen, und da wir schon ein Superklimaministerium kriegen sollen, ist das kaum sinnig. Viel wichtiger wäre, dass die Ministerien wesentlich vernetzter denken und handeln, als das aktuell der Fall ist. Aber das ist nur ein Nebenaspekt des Themas.
Denn grundsätzlich ist absolut richtig, dass diese Fragen viel aktiver gestellt werden müssen. Wohnungsbau und Wohnraumpolitik laufen immer noch auf Autpilot, mit einem Programm, das aus den 1950er, bestenfalls den 1960er Jahren stammt und hoffnungslos veraltet ist. Man hat es, um im Bild zu bleiben, immer wieder gepatcht, damit es auf dem aktuellen Stand der Technik ist (was unter anderem zu einer heillosen Überregulierung geführt hat), aber es funktioniert nicht mehr. Was es braucht, ist eine komplett neue Software, die den Anforderungen des 21. Jahrhunderts genügen kann.
8) Architect Resigns in Protest over UCSB Mega-Dorm
In his October 25 resignation letter to UCSB Campus Architect Julie Hendricks, Dennis McFadden ― a well-respected Southern California architect with 15 years on the committee ― goes scorched earth on the radical new building concept, which calls for an 11-story, 1.68-million-square-foot structure that would house up to 4,500 students, 94 percent of whom would not have windows in their small, single-occupancy bedrooms. The idea was conceived by 97-year-old billionaire-investor turned amateur-architect Charles Munger, who donated $200 million toward the project with the condition that his blueprints be followed exactly. Munger maintains the small living quarters would coax residents out of their rooms and into larger common areas, where they could interact and collaborate. He also argues the off-site prefabrication of standardized building elements ― the nine residential levels feature identical floor plans ― would save on construction costs. The entire proposal, which comes as UCSB desperately attempts to add to its overstretched housing stock, is budgeted somewhere in the range of $1.5 billion. Chancellor Henry Yang has hailed it as “inspired and revolutionary.” [...] “Munger Hall, in comparison, is a single block housing 4,500 students with two entrances,” McFadden said, and would qualify as the eighth densest neighborhood on the planet, falling just short of Dhaka, Bangladesh. It would be able to house Princeton University’s entire undergraduate population, or all five Claremont Colleges. “The project is essentially the student life portion of a mid-sized university campus in a box,” he said. (Tayler Hyden, The Independent)
Wo wir gerade (Fundstück 7) bei neuem Wohnraum sind, so haben wir ein Beispiel dafür, wie das nicht geht. In einem Paradebeispiel dafür, warum Milliardäre nicht existieren sollten, haben wir hier einen völligen Amateur, der einfach nur kraft seines Geldes und seines Einflusses für zehntausende Leute ein Sozialexperiment startet, gegen das manche sozialistische Diktaturen wie Urlaubsressorts wirken. Das Gebäude, das Munger entworfen hat, ist ein absoluter Albtraum, und es ist nur deswegen eine realistische Option, weil der Staat selbst die Verantwortung aufgegeben und an private Akteure übergeben hat. Damit wird das Leben von Zehntausenden zur Spielewiese irgendwelcher Superreicher, die glauben, dass ihr beruflicher Erfolg (oder Glück) auf einem bestimmten Feld sie zu Experten für alles macht, nur ohne jede Kontrolle. Wo staatliche Projekte durch zig Genehmigungsverfahren und Bürger*innenanhörungen müssten, können diese Superreichen Amateure einfach dank ihrer undemokratischen Macht tun und lassen, woraus sie Lust haben, und ihre dystopischen Zukunftsvisionen umsetzen. Siehe auch Musk, Elon.
9) The French Left in the time of monsters: Anne Hidalgo and the decline of the Socialist Party
In the last 100 years it succeeded in leveraging the State’s apparatus to raise a vast, prosperous and educated urban middle class. It did its work of modernization as a governing force, from Léon Blum and Pierre Mendès-France to Mitterrand, Rocard and Jospin. And it did it as the opposition as well, constantly pushing for the expansion of the welfare State. As Piketty noted in his most recent opus, the material fortunes and political interests of the urban middle class diverged from those of their working class parents, as a consequence of the Left's success. At this juncture, these urban middle class voters are sorting themselves further between the ecologists, Macron, and a Socialist Party reduced to mere electoral machine. It is certainly on the Left, although more by virtue of institutional memory than anything else. One would be hard-pressed to find out what “Left” means to the Socialist Party today, what they propose, what is their vision of the future. They pay lip service to the “acquis sociaux” (the social benefits) past Socialist governments enacted, they are generically pro-Europe and pro-green policies and they manage the various cities and regional jurisdictions they win with the professionalism of professional politicians. Conversely, the people who did not catch the tide of the Trente Glorieuses and globalization, dwindling peasants and factory workers, private sector employees, youth from immigrant backgrounds, no longer see the Socialist Party as a standard bearer for their aspirations, precisely because the Socialist Party no longer represents their interests. Some vote for Le Pen, others for Mélenchon’s La France Insoumise, others shun electoral politics altogether and demonstrate at rural roundabouts wearing yellow emergency vests. (Manu, La Campagne)
Genauso wie im Fundstück 6 sind die Paralellen offenkundig. Die Schwäche der Sozialdemokratie ist eine europäische. Die Trends, die zu ihrem Niedergang führten und mich hier im Blog (wie viele andere an anderen Stellen auch) die Frage haben stellen lassen, wer eigentlich die Sozialdemokratie noch braucht, gleichen sich europaweit. Anders als in Deutschland hat Hidalgo aber nicht das Glück, dass ihre Konkurrenz sich vollständig selbst zerlegt und sie als Fluchtpunkt für Beständigkeit und Stabilität gesehen wird. Entsprechend fehlt ihr, wie früher Schulz, Steinbrück und Steinmeier, eine Wählendenschaft, für die sie attraktiv wäre. Da die Linke dazu zu blöd ist, sich angesichts dieser Probleme zu koordinieren, stellen sie in der Präsidentschaftswahl auch keinen Machtfatktor dar. Auch das ist ein Schicksal, das der deutschen Linken bestens bekannt sein dürfte, wo R2G ein Traum bleibt - feuchter Traum der einen, Albtraum der anderen, aber Traum so oder so.
10) Der kurze Weg von der Lappalie zur Cancel Culture
Der Begriff «Cancel Culture» ist erst ein paar Jahre alt, aber aus dem Vokabular des deutschen Feuilletons nicht mehr wegzudenken. Wenn es Cancel Culture nicht gäbe, hätte das deutsche Feuilleton sie erfinden müssen. Gewissermassen hat es das auch. In der deutschsprachigen Presse ist um diese Schauergeschichten für die Boomerseele ein regelrechtes Ökosystem entstanden. Da lohnt es sich zu fragen, warum. Gewiss sind solche Formen der Panikmache Ausdruck konkreter Ängste. Aber sie werfen auch ein Schlaglicht auf Verschiebungen in der deutschsprachigen Publizistik und im europäischen Selbstverständnis. Cancel Culture reiht sich in ein Muster ein: Aufregung unter Rechten in den USA wird Futter fürs liberale deutschsprachige Feuilleton. Man fühlt sich an den alten Marx-Satz erinnert, Deutschland habe die Restaurationen gehabt, selbst wenn es die Revolutionen übersprungen habe. Europa mag Entwicklungen unter US-Campus-Linken – wie die Gender Studies und Critical Race Theory – zwar verschlafen haben. Für die Ängste seitens Konservativer über Gendern ist es aber hellwach. Der britische Soziologe Stanley Cohen hat dafür schon in den siebziger Jahren den Begriff der moralischen Panik geprägt: Moralische Panik ist immer ein Stück Aufmerksamkeitsökonomie, eine Art kollektiver Konzentration auf scheinbar marginale Dinge, von denen auf eine gesamtgesellschaftliche Gefahr geschlossen wird. Bestimmte Ereignisse sollen plötzlich viel mehr Aufmerksamkeit verdienen als andere, äusserlich sehr ähnliche. Moralische Panik macht uns hypersensibel für die einen und blind für andere. Cohen hat auch darauf hingewiesen, dass bei moralischer Panik immer irgendeine Form der Jugendkultur im Zentrum der Projektion stehe: Mods, Rocker, Heavy-Metal-Fans – und jetzt eben «woke» Student:innen. Die Angst vor der jeweiligen Nichtigkeit ist immer auch eine Angst davor, selber obsolet zu werden. (Adrian Daub, Wochenzeitung)
Daubs Artikel ist in seiner Gänze empfehlenswert, und weil wir das Thema hier ja schon das eine oder andere Mal hatten, sei an dieser Stelle vor allem auf einen noch eher unterdiskutierten Aspekt hingewiesen: Neben der sich wiederholenden Natur dieser moral panic scheint mir hier dieselbe Dynamik am Laufen zu sein, die (siehe Fundstück 1) diese dämliche Squid-Game-Debatte befeuert. Das Gerede über Cancel Culture, die moral panic also, ist unglaublich attraktiv. Ich nehme das ständig (anekdotenhaft natürlich) um mich herum wahr; solche Themen eignen sich für Smalltalk wie nichts anderes. Man kann es in praktisch jedem Kontext aufbringen, jeder und jede kann eine eigene Anekdote oder Entrüstung beisteuern, alle stimmen einander zu und haben damit wieder einmal die eigene Überlegenheit gegenüber dem Zeitgeist bestätigt. So funktioniert Smalltalk seit Jahrtausenden, und es gibt einen permanenten Hunger nach der nächsten moral panic, mit der man solche Unterhaltungen befeuern kann. Das macht es auch zu einem solchen Wirtschaftsfaktor, denn die Artikel sind nicht nur super schnell geschrieben (die Faulheit und Gleichförmigkeit des Anti-Woke-Journalismus ist schon augenfällig), sondern auch attraktiv und macht es damit zu einem guten Geschäft, was natürlich der Springerpresse nicht gerade entgeht.
11) „Schüler:innen können sich ihre Noten selbst geben“ (Interview mit Philipp Wampfler)
Sie halten es für grundfalsch, Noten zu vergeben. Warum?
Ich habe zahlreiche Gründe, der weitreichendste ist: Sie sind überflüssig geworden. Denken Sie mal an die Zeit nach der Schule. Wenn ein Unternehmen eine wirklich gute Human-Resources-Abteilung hat, achtet diese nicht mehr auf Noten. In der digitalen Gesellschaft kommt es auf Kommunikation und Zusammenarbeit an. Noten, die diese Kompetenzen gar nicht abbilden können, sind heute nicht mehr zeitgemäß – in den 1970ern hingegen waren sie das noch. [...] Jetzt könnte man sagen: Wer sich genug anstrengt, wer gute Leistung bringt, muss auch keine Angst haben. Aber das stimmt nicht. Es gibt Untersuchungen, die versuchen, die Leistung von Schüler:innen standardisiert zu messen, die PISA-Studie ist eine davon. Wenn man die Ergebnisse dann mit den Schulnoten der Schüler:innen vergleicht, merkt man: Die Noten bilden die Leistung gar nicht richtig ab.
Warum nicht?
Da ist zunächst mal der Einfluss der eigenen Klasse. Eine sehr gute Schülerin in einer sehr guten Klasse kann eine schlechtere Note bekommen als eine eigentlich schlechtere Schülerin in einer schwachen Klasse. Dann hängt es auch davon ab, wie die Lehrkräfte die Schüler:innen wahrnehmen. Das wiederum hängt von der Beziehung zum Schüler ab, von Vorurteilen, von Verzerrungen, von der Herkunft der Eltern. Und dann ist es auch einfach Zufall: Mag der Lehrer die Aufgabenstellung, die dir besonders liegt, nicht – weil er da so viel zu korrigieren hat? Ich zum Beispiel mag entdeckendes, diskursives Lernen, bei dem Lernende begründen und reflektieren. Das mögen aber nicht alle Schüler:innen, viele würden gern einfach mal eine Antwort hinschreiben, bei der ich dann sage, ob sie richtig oder falsch ist – ohne sie begründen zu müssen. Am Ende lassen sich nur etwa 50 Prozent einer Note auf die tatsächliche Leistung zurückführen. [...]
Sie sagen, Noten verhindern Lernen sogar. Wie meinen Sie das?
Die Aufmerksamkeit und die Gefühle richten sich auf die Noten statt aufs Lernen. Die Prüfungen sind heute sehr an Wissensvermittlung angelehnt, an den Stoff, den Schüler:innen „können“ sollen. Die Notenvergabe ist nicht Teil des Lernprozesses, sie beendet den Lernprozess. Die Tatsache, dass eine Note gegeben wird, suggeriert: Dieses Thema ist jetzt beendet, jetzt kommt das nächste. (Bent Freiwald, Krautreporter)
Ich teile Wampflers Kritik zu 100% und habe sein gerade erschienenes Buch "Schule ohne Noten" ziemlich weit oben auf meiner To-Do-Liste. Meine eigenen entsprechenden Erfahrungen und Kritiken sind glaube ich zu umfangreich für einen kurzen Kommentar im Vermischten, weswegen ich vor allem den letzten Punkt in obigem Auszug hervorheben will: die Konzentration auf Prüfungen und Noten verhindert aktiv Lernen. Schüler*innen sind unheimlich schwer für irgendetwas zu motivieren, das nicht in einer Klausur abgefragt wird, und das Abfragen in Klausuren wiederum ist eine reine Simulation von Kompetenzmessung. Für mich ist es inzwischen der frustrierendste Aspekt an meinem Beruf, wie viel sinnlose Zeit aller Beteiligten da rein geht.
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