Mit eine der größten Überraschungen der Bundestagswahl waren die starken Gewinne der FDP bei den Jungwählenden. In der ZEIT ist unter der etwas missglückten Überschrift "Ich habe bei YouTube mehr Mathe gelernt als in der Schule" ein Interview mit Jens Teurine erschienen, dem Vorsitzenden der JuLis, der es in den Bundestag geschafft hat. Teurines Interview ist deswegen so interessant, weil er, typisch für die Jugendorganisationen der Parteien, sehr frei spricht und die üblichen Phrasen vermeidet. Aber es ist nicht nur sein Stil; auch der Inhalt dessen, was er sagt, zeigt ein anderes Gesicht der FDP, als es etwa Kubicki oder Lindner präsentieren. Ich möchte es in Auszügen hier diskutieren.
ZEIT ONLINE: Herr Teutrine, der neue Bundestag hat 736 Abgeordnete, warum braucht es ausgerechnet Sie?
Jens Teutrine: Vielleicht, weil ich auf der einen Seite zu einer neuen, jungen Generation gehöre, aber auf der anderen Seite auch die politischen Mechanismen kenne. Ich habe zehn Jahre ehrenamtlich Politik gemacht, ich wohne in Bielefeld in einer Fünfer-WG und mein soziales Umfeld hat mit Berufspolitik nichts zu tun. Ich sehe mich als Dolmetscher zwischen der Politik und der jungen Generation, in beide Richtungen. Und der zweite Grund: meine Lebenserfahrung. Nicht mein biologisches Alter, das wird ja viel zu oft gleichgesetzt. Mit dem, was ich erlebt habe, muss ich mich hinter anderen Persönlichkeiten im Bundestag nicht verstecken.
ZEIT ONLINE: Ihre Mutter war alleinerziehend und ist zeitweise putzen gegangen, Sie haben in Bäckereien und im Baumarkt gejobbt. Damit sind Sie in der FDP und im Bundestag etwas Besonderes.
Teutrine: Es gibt Millionen Menschen, die die gleichen Struggles haben, wie ich sie hatte. Die sitzen halt nur selten im Bundestag.
ZEIT ONLINE: Sie waren wegen Sprachproblemen außerdem auf einer Förderschule.
Teutrine: Das ist vielleicht schon besonderer. Und ja, diese Erfahrungen haben mich geprägt. Auch wenn ich das zehn Jahre lang, wenn es um Politik ging, nie angesprochen habe.
ZEIT ONLINE: Warum nicht?
Teutrine: Es gab eine Zeit, in der ich mich ein bisschen für meine Herkunft geschämt habe. Das tut mir meiner Mutter gegenüber heute wahnsinnig leid. Mittlerweile bin ich unglaublich stolz darauf, was sie für mich geleistet hat. Außerdem wollte ich nicht darauf reduziert werden, nicht bei den JuLis und auch sonst nicht.
Eine Sache, die zumindest mir sofort auffällt, ist der Sprachstil Teurines. Genauso wie Kevin Kühnert versteht er es, bestimmte generationelle Elemente ("struggles", "besonderer") einfließen zu lassen und seinen Satzbau mehr wie tatsächlich gesprochene Sprache klingen zu lassen, als dies bei der älteren Politiker*innengeneration der Fall ist. Das schleift sich vermutlich mit den Jahren ab, aber es ist trotzdem wohltuend.
Auffällig ist aber auch, was im weiteren Verlauf noch ausführlicher thematisiert wird, dass die Herkunft und Biographie Teurines ja tatsächlich nicht eben dem Klischee eines FDP-Politikers entsprechen. Bekäme man die Geschichte im luftleeren Raum erzählt, würde man sofort auf einen Sozialdemokraten tippen. Das ist, glaube ich, mehr als nur ein statistischer Zufall.
Auf der einen Seite hat die SPD ihre lange Hegemonie in dieser Demografie und für diese spezifische Art von Aufstieg verloren (was mit Sicherheit auch mit der Agenda2010 zu tun hat), andererseits aber haben sich die anderen Parteien geöffnet. Es ist inzwischen möglich, als Muslim*in in der CDU, als soziale*r Aufsteiger*in in der FDP oder als Unternehmer*in bei den Grünen zu sein. Die früheren Klassenschranken, wie sie noch zur Zeit der Honoratiorenparteien bestanden und teils bis in die 2000er Jahre fortlebten (und im Bundestag etwa noch durch Friedrich Merz verkörpert werden, ungeachtet dessen, dass er sich einen populistischen Anstrich zu geben versucht), sind zwar nicht gefallen. Aber sie sind deutlich durchlässiger geworden.
ZEIT ONLINE: Sie haben dann 2020 bei Ihrer Bewerbungsrede für den JuLi-Vorsitz von Ihrer Herkunft erzählt. Ihr Parteivorsitzender Christian Lindner, der ebenfalls Sohn einer alleinerziehenden Mutter ist und mal verraten hat, dass er Sozialwohnungsbau nicht nur aus Budgetplänen kennt, geht mit seiner Herkunft nicht so offensiv um wie Sie. Verändert sich da gerade was bei der FDP?
Teutrine: Wir beschäftigen uns als JuLis und als FDP heute mehr mit sozialem Aufstieg als noch vor ein paar Jahren. Es gibt bei uns in der Partei unzählige solcher Lebenswege, auch deshalb habe ich von meinem erzählt. [...]
Hier bestätigt Teurin dann genau diesen Punkt. Ich zitiere das deswegen gesondert, weil das "als noch vor ein paar Jahren" an dieser Stelle wichtig ist. Es ist eine neue Entwicklung, dass die FDP sich offen als eine mögliche Heimat für diese Art von Lebensweg bewirbt, was letztlich nur unter dem Preis möglich ist, sich ein Stück weit von der alten "Bürgerlichkeit" zu verabschieden, die sie so lange ausgemacht hat. Gerade Westerwelle dürfte da echt großen Anteil daran haben, einerseits durch den Klamauk 2002, andererseits durch seine relative Jugend und natürlich seine sexuelle Orientierung, die allesamt irgendwie in der FDP eines Genscher oder Scheel noch No-Gos gewesen wären. Der wirklich große Umschwung scheint aber gerade erst zu kommen.
ZEIT ONLINE: Sie haben es dann von der Förderschule über die Gesamtschule an ein Wirtschaftsgymnasium geschafft, dann an die Uni Bielefeld, wo Sie Philosophie und Sozialwissenschaften studieren. Früher hätte man gesagt: typische SPD-Biografie.
Teutrine: Ich bin 2009 in die FDP eingetreten, und zwar wegen ihres Leistungsbegriffs …
Exakt: Typische SPD-Biografie. 2009 ist die Periode, in der die SPD bereits offen mit ihrem Agenda-Erbe haderte und der Streit um Hartz-IV sie komplett auffraß. Es verwundert nicht, dass Leute wie Teurine sie nicht als den natürlichen Hafen ansahen, der sie früher für diese Biografien einmal gewesen sein dürfte. Ob sich das nun wieder ändern wird und kann, bleibt abzuwarten. Ich bin auf jeden Fall ziemlich zuversichtlich, dass die Grünen dezidiert keine Anlaufstelle dafür sind. Der Wettbewerb zwischen SPD und FDP auf diesem Feld ist daher eine eher ungewohnte Konstellation, die ziemlich spannend ist
ZEIT ONLINE: Das war, als die FDP unter Guido Westerwelle sich gerade ihren Ruf als Besserverdienenden- und Mövenpick-Partei erworben hat.
Teutrine: Mich hat es wahnsinnig geärgert, wenn Leute in der Schule nicht die Note bekommen haben, die sie verdient haben. Ich finde es einfach ungerecht, wenn nicht alle faire Chancen haben. Dazu kommt eine andere Erfahrung: Als ich auf der Förderschule war, hatte ich teilweise auch motorische Probleme, Schuhe zubinden hat ewig gedauert. Ich war schnell stinkig auf mich, weil ich das nicht geschafft habe. Meine Mutter hat dann immer gesagt: "Komm, wir versuchen es noch mal, du schaffst das." Sie hat mich sehr früh zur Selbstständigkeit erzogen, anstatt mich zu übermuttern. Bei der FDP heißt das: Stärken wir den Glauben des Menschen an sich selbst!
Die Geschichte, die er dann erzählt, ist weniger klassisch sozialdemokratisch. Denn hier würde eine Institution mit hineinspielen - die Schule, die Gewerkschaft, irgendwelche solidarischen Institutionen. Demgegenüber greift Teurine eher auf typisch amerikanische Narrative zurück: Halt in der Familie, Zurückgeworfensein auf sich selbst. Sehr effektiv.
ZEIT ONLINE: Bildungspolitik ist eines Ihrer Themen. Was würden Sie anders machen?
Teutrine: Wir fordern ein Bafög unabhängig vom Elterneinkommen und eine Exzellenzinitiative auch für berufliche Bildung. Dazu einen zweiten Digitalpakt Schule. Während der Pandemie sind nicht nur die digitalen Lernplattformen, die Schulclouds, ständig abgestürzt, es sind eigentlich auch keine echten Schulclouds. Da kann man PDFs hochladen, na, herzlichen Glückwunsch! Eigentlich bräuchte eine Schulcloud eine E-Book-Bibliothek, eine digitale Hausaufgabensprechstunde und eigentlich müsste die Schulcloud so gut sein, dass ich dort die Lernvideos gucke, weil es da die besten gibt und nicht bei YouTube. Ich habe während des Abiturs bei YouTube mehr Mathe gelernt als in der Schule. Schulen könnten außerdem Fremdsprachenapps einsetzen, um den Lernfortschritt der Schüler zu tracken, sie könnten eine Plattform anbieten, auf der Schüler einfach posten können, wenn sie ein Grammatikproblem haben, und dann hilft ihnen ein Lehrer oder ein anderer Schüler. Das ist alles keine Raketenwissenschaft, weder technisch noch organisatorisch. Das geht! Aber wir machen es nicht. Und ich glaube, ein Grund ist der falsch verstandene Stolz beim Bildungsföderalismus.
ZEIT ONLINE: Würden Sie Schulpolitik zur Bundessache machen?
Teutrine: Wenn ich ganz neu anfangen könnte, würde ich persönlich den Bildungsföderalismus in seiner jetzigen Form wahrscheinlich abschaffen, ja. Es gibt ja zwei grundsätzliche Argumente für Wettbewerb, die aber beim Bildungsföderalismus beide nicht greifen. Das erste ist die größere Auswahl. Ich kann aber nicht einfach von NRW nach Bayern ziehen, wenn mir da die Schulen besser gefallen. Das zweite Argument ist, dass durch Wettbewerb mehr ausprobiert und man voneinander lernen kann, was funktioniert. Ganz ehrlich, das habe ich in zehn Jahren Bildungspolitik nicht erlebt, dass Mal ein Ministerpräsident gesagt hätte: Das funktioniert woanders so gut, dass machen wir jetzt auch.
Jetzt kommen wir in die policy-Debatte. Ich habe eingangs schon erwähnt, dass ich den Spruch mit YouTube für eine misslungene Überschrift halte, einerseits, weil sie mir den Geist von Teurines Interview nicht einzufangen scheint, andererseits, weil ich es für Quatsch halte. Ich bezweifle nicht, dass er auf YouTube mehr Mathe gelernt hat als in der Schule; die Qualität des Mathe-Unterrichts ist katastrophal, das ist ein gesamtdeutsches Problem. Aber Erklärfilme sind nicht die Lösung.
Grundsätzlich aber bin ich voll auf Teurines Linie. Der Stand der Digitalisierung im Bildungswesen ist katastrophal, da muss so viel mehr passieren. Und der Bildungsförderalismus ist ein schlechter Scherz, da bin ich ebenfalls voll bei der FDP, die da schon immer der einsame Rufer in der Wüste war. Da würde ich mir deutlich mehr Einfluss der Partei wünschen.
ZEIT ONLINE: Was wäre Ihre Lösung?
Teutrine: Viel mehr Freiheit für die Schulen! Die sollten ihr Angebot stärker selbst bestimmen können. Dann können Eltern und Schüler in größeren Städten tatsächlich wählen, es gäbe echten Wettbewerb. Und die Schulen könnten, auch in ländlichen Regionen, besser auf die Bedürfnisse der Schüler eingehen und die Umstände. Und der Bund sollte für Vergleichbarkeit sorgen und das alles viel stärker finanzieren als bisher.
Auch hier: unbedingt dabei. Ich glaube zwar nicht wirklich an den Effekt von Wettbewerb im Schulwesen, weil die Kund*innen die Qualität meist erst dann vernünftig abschätzen können, wenn es zu spät ist, und weil die Wechsel zwischen Schulen so ungemein schwierig sind. Wenn noch mehr Freiheit an den Schulen kommt (wofür ich bin!) wird dieser Faktor noch verschärft. Da sich die Profile dann deutlich unterscheiden, wird es sehr schwierig sein, zwischen Schulen vernünftig zu wechseln, vom Effekt des Herausreißens aus der Peer-Group mal abgesehen.
ZEIT ONLINE: In den Koalitionsverhandlungen sind Sie in der Arbeitsgruppe zur Arbeitsmarktpolitik. Was wollen Sie da erreichen?
Teutrine: Ich setze mich für einen Staat ein, der Aufstieg ermöglicht und Leistung belohnt. Wenn es nach mir geht, sollten Kinder und Jugendliche, die in einer Bedarfsgemeinschaft leben, alles Geld behalten dürfen, das sie verdienen. Nicht nur 170 von 450 Euro, wie es bisher ist. Und ich fände einen Amazon-Warenkorb für Sozialleistungen gut.
ZEIT ONLINE: Bitte was?
Teutrine: Der Sozialstaat bietet einiges an Sachleistungen an. Aber nur ein Bruchteil davon wird überhaupt abgerufen, weil der bürokratische Aufwand immens ist. Unser Staat ist an vielen Stellen ein Bürokratiemonster. Das kostet viel Geld und zudem findet sich in einem Bürokratielabyrinth niemand zurecht. Warum macht man das also nicht digital, wie bei Amazon? Alle, die berechtigt sind, kriegen einen Zugang und klicken sich dann die Leistungen zusammen, die sie brauchen: Kurse, Förderungen, Hilfe für Klassenfahrten und so weiter. Auf der anderen Seite sitzt dann nur noch jemand vom Amt, der das per Klick freigibt. Vielleicht kann das sogar ein Algorithmus. In der Sozialpolitik redet man schnell darüber, dass immer mehr Geld ausgeben werden soll. Dabei sollten wir viel mehr darüber reden, wie wir unseren Sozialstaat so gestalten, dass das Geld überhaupt zielgenau ankommt.
Auch hier sehen wir wieder den Modernisierungaspekt, den ich bereits in meinem Lagerdenken-Artikel ausgeführt habe. Die FDP hat das Potenzial, hier zusammen mit den Grünen aus den altbackenen Debatten der beiden ehemaligen Volksparteien auszubrechen. Es sind neue Ideen, die in die Debatte kommen, und ich habe bei Teurine auch nicht das Gefühl, dass seine Reformvorschläge für Arbeitsmarkt und Soziales sofort auf Kürzungen rauslaufen - dieses stupide nach-unten-Treten, das so lange die schwarz-gelbe Haltung hier bestimmt hat.
ZEIT ONLINE: Sie laufen in T-Shirt, bunter Wolljacke und Baggy-Jeans durch den Bundestag. Wollen Sie auffallen?
Teutrine: (lacht) Das klingt ja als wäre ich zu Hause so ein Philipp-Amthor-Typ und dann verkleide ich mich, wenn ich zur FDP oder in den Bundestag gehe! So ist das nicht, es ist eher andersrum: Politik war mein Hobby, deshalb trage ich dabei auch die Klamotten, die ich in meiner Freizeit trage, wenn ich mit meinen Freunden im Shisha-Café abhänge.
ZEIT ONLINE: Im Bundestag fallen Sie damit auf.
Teutrine: Aber in der Fußgängerzone nicht.
ZEIT ONLINE: Herr Teutrine, woran sollen wir Sie in vier Jahren messen?
Teutrine: (überlegt lange) Ob ich immer noch mit der gleichen Leidenschaft, mit der gleichen Hingabe Politik mache. Ja, das gefällt mir: Messen Sie mich daran, ob mich der Politikbetrieb in vier Jahren träge und desillusioniert gemacht hat, oder, ob ich noch mit Feuer dabei bin.
Das scheint mir vor allem das Jungpolitiker-Ding zu sein. In zehn Jahren läuft Teurine bestimmt auch im Anzug rum. Viel mehr habe ich dazu auch nicht zu sagen.
Insgesamt fand ich das Interview sehr aufschlussreich und Hoffnung machend. Hier tut sich was, und es tut sich etwas nach vorne. Ich hoffe, dass Leute wie Teurine mehr Einfluss in der Partei haben werden, und dass ihre Ideen eine gewisse Priorität in der Partei bekommen.
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