Donnerstag, 18. November 2021

Die Ampel spaltet die kenianische Gesellschaft mit einer Kritik der medialen Deutschkenntnisse - Vermischtes 18.11.2021

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Es gibt keine Spaltung der Gesellschaft

Der Top-Hit unserer Zeit bleibt indes die Rede von der „Spaltung der Gesellschaft“, um diese opulente Formel dann doch noch mal auszuschreiben. Meist folgen auf den Befund noch gute oder weniger gute Ratschläge: „Wir brauchen mehr Entschleunigung“ oder „Wir brauchen bessere Kommunikation“. Was aber nicht gesagt wird, wenn die SdG zur Sprache kommt, ist das soziologisch Banalste: Dass Menschen verschieden sind, dass sie divers ticken und im Übrigen auch sehr gern irrtumsanfällig, erratisch sind. Sie haben nämlich Interessen, eigene. Die zu ermitteln wäre wichtig, sie zur Kenntnis zu nehmen oder nehmen zu müssen, darauf käme es an. SdG – das ist die Formel des explorierten Nichts und Alles, und vermag nicht damit umzugehen, wenn Menschen einfach ihre (gemeinsame) Kraft einsetzen, um etwas gegen andere durchzusetzen. Wie etwa, klassisch aus der Arbeiter*innenbewegung, mit einem Streik: Lohnabhängig Beschäftigte wollen etwas durchsetzen und ihr Arbeitgeber muss sich dem stellen, ob mit dem Streik nun eine Spaltung des Betriebes attestiert werden muss oder nicht. Ein Streik, bei dem es ums Eingemachte, mithin um Geld und Zeit, geht, ist immer eine spalterische Angelegenheit – und das ist auch richtig so. Das aber ist dann kein Partygeplauder mehr, in der kommunikative und kritisch gesinnte Besorgnis der wohlfeilsten Sorte geäußert wird, sondern eben eine Interessenkollision, die entweder in einen Kompromiss mündet, in der Zerschlagung der Aktion (mit womöglich krassen Folgen für die Rädelsführer*innen) oder im Erfolg dessen, was eben ein Streik vermag: eine Lohnerhöhung, die Gründung eines Betriebsrats oder kürzere Arbeitszeiten. [...] Mit anderen Worten: Da „Gesellschaft“ ein hochkompliziertes Gebilde ist, da sie eben keine „Gemeinschaft“ ist, kein familiäres Konstrukt, sondern arbeitsteilig, kommunikativ verwirrend uneinheitlich, multikulturell und multischichtenartig strukturiert, ist die Rede von ihrer Spaltung antipolitisch. Wer von SdG spricht, will über Interessengegensätze, möchte über Macht nicht reden. (Jan Feddersen, taz)

Jan Feddersen schreibt hier eine Menge richtiger Dinge auf. Es ist eine grundsätzliche Geschichte, die weit über Impfen oder andere aktuelle Themen hinausgeht. Wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft. Diese ist per Definition gespalten. Wir leben in verschiedenen Milieus (Soziolog*innen unterscheiden derer aktuell 11), haben verschiedene Ansichten, präferieren verschiedene politische Richtungen (sechs davon sind gerade im Bundestag vertreten). Da gibt es nichts zu spalten. Spaltung ist der Naturzustand einer jeden Gesellschaft, die nicht einem totalitären Terrorregime unterworfen ist.

Das ändert nichts daran, dass das als etwas Schlechtes gesehen wird. Ob abwertend von "Kampfkandidaturen" gesprochen wird, wenn eine Partei es wagt, ihren Vorsitz ernsthaft einer echten Wahl zu unterwerfen, ob Menschen unterschiedliche Haltungen zum Bau eines Durchgangsbahnhofs in der schwäbischen Landeshauptstadt haben oder ob eine Debatte darüber stattfindet, wie (und ob) man geschlechtergerecht sprechen und schreiben soll, überall gibt es Konflikte, und stets werden die als ein Problem betrachtet. Aber es sind Konflikte, in denen wir uns definieren und deren Austragung uns nach vorne bringt.

2) Climate change, covid and global inequality

Economic dislocations would be huge. It is not only the question of the entire upper middle class and the rich in advanced countries (and, as we have seen, elsewhere) losing significant parts of their real income as prices of most “staple” commodities (for them) increase by two, three or ten times; the dislocation will affect large sectors of the economy. Go back to the example of travel. A permanent 60% decrease will more than halve the number of airline employees, will practically leave Boeing and Airbus with no new orders for airplanes for years and possibly lead to a liquidation of one of them, will decimate hotel industry, will close even more restaurants than were closed by the pandemic, will make parts of the most touristy cities that currently complain of excess of tourists (Barcelona, Venice, Florence, probably even London and New York) look like ghost towns. The effects will trickle down: unemployment will increase, incomes will plummet, the West will record the largest real income decline since the Great Depression.  However if such policies were steadfastly pursued for a decade or two, not only would emissions plummet too (as they have done in 2020), but our behavior and ultimately the economy would adjust. People will find jobs in different activities that will remain untaxed and thus relatively cheaper and whose demand will go up. Revenues collected from taxing “bad” actvities may be used to subsidize “good” activities or retrain people who have lost their jobs. (Branko Milanovic, Global Inequality)

Milanovics Aufstellung ist ein weiteres Zeichen für das, was ich in meinem Artikel zur CO2-Steuer angemahnt habe: eine solche Steuer wird, wenn sie tatsächlich die gewünschte Lenkungswirkung haben soll, massive Verwerfungen zur Folge haben. Glaubt jemand, dass die Fluglinien nicht mit Händen und Füßen gegen die Einführung einer CO2-Steuer vorgehen werden, die ihr Geschäftsmodell gefährdet? Oder die Tourismusbranche? Und so weiter und so fort? Ich halte die Vorstellung, dass eine linear steigende Steuer und der mit ihr gekoppelte Zertifikatehandel solche Verwerfungen auslösen und diese alleine über Jahrzehnte implementieren könnte für naiv. Ohne begleitende Maßnahmen und politische Aushandlungsprozesse, Subventionen und schmutzige Deals wird da nichts gehen, einfach, weil es politisch anders nicht durchsetzbar sein wird.

3) One more body in the septic tank that is British colonial history

The Kenyan government’s callousness and recalcitrance in dealing with crimes against Kenyans is a reflection both of its own commission of similar crimes against them and of its colonial roots. [...] The attempt to cover up the Wanjiru case by both the Kenyan and British governments is also a potent reminder that no British settlers, officials, troops, or police officers have ever been held to account for the brutal murder and torture of thousands, and the incarceration of up to 1.5 million people in concentration camps, during the 7-year State of Emergency declared in 1952 at the height of the Mau Mau rebellion against colonial rule. In fact, for more than half a century, the British government stole, destroyed and hid any documents that might, as reported by the Guardian, “‘embarrass [the British government] or other government’ or cause problems for any colonial policeman, civil servant or member of the armed forces”. [...] By 2020, Germany had paid nearly $92 billion in reparations to Jewish and non-Jewish victims of its World War II crimes. To this day, the country continues to pay stipends to survivors, last year agreeing to provide nearly $700 million to aid 240,000 Holocaust survivors struggling under the burdens of the coronavirus pandemic. By comparison, the British agreement to compensate 5,000 victims of its torture camps at the rate of $4,000 per victim, without even having to offer an apology, is a travesty and speaks to racism and power imbalance that continued to devalue African lives and suffering. And not a penny has been paid to the vast majority of the tens of millions it terrorised and brutalised across the world under its Empire. (Patrick Gathara, Al-Jazeera)

Es fällt immer wieder auf, was für ein Alleinstellungsmerkmal wir in Deutschland bei all unseren Schwächen auf diesem Feld in der Vergangenheitsbewältigung noch haben. Gerade in Großbritannien ist eine geradezu widerliche Empire-Nostalgie immer noch weit verbreiteter Standard. Auch andere Länder wie Frankreich und Belgien haben ihre Kolonialgeschichte nur sehr bruchstückhaft aufgearbeitet, und wie die aktuelle Debatte in Deutschland zeigt sind wir auch da nicht eben mustergültig. Die Ausnahme macht allein der Holocaust.

4) Wie die Ampel und die CDU eine seltene Chance vergeuden

Eine neue Koalition, ein im Bund nie da gewesenes Bündnis, das sich selbst über Veränderung zu definieren versucht, hätte ausbrechen können aus der Logik. Dass sie es nicht schafft, sieht man daran, dass Parteien weiter Profilierung gegen Klimaschutz betreiben, [...] Das ist die alte Logik: Es für eine gute Nachricht zu halten, wenn die anderen wenig Klimaschutz planen, weil man daneben leichter bestehen kann. [...] [Röttgens] Kontrahent Friedrich Merz hat allerdings bislang noch viel weniger Ambition erkennen lassen, Klimaschutz als zentrale Aufgabe der kommenden Jahrzehnte zur Grundlage seines politischen Denkens zu machen. So wenig wie sonst vor allem die Junge Union. Selbst wenn Röttgen seine Initiative also konsequenter weitertreiben wollte: Klima bliebe unionsintern ein Marker für einen Teil der Partei. Kein Konsens, sondern erneut: Profilierungsmöglichkeit. [...] Noch vor Weihnachten soll die Ampelkoalition stehen. Mitte Januar endet eine mögliche Stichwahl um den CDU-Vorsitz. Bis dahin können sich alle Parteien noch relativ freischwebend ausrichten. Spätestens dann setzt die politische Schwerkraft wieder ein. (Jonas Schaible, SpiegelOnline)

Das ist glaube ich das erste Mal, dass ich einem Essay von Jonas nicht weitgehend zustimme. Nicht, dass seine Einschätzung der Dringlichkeit entschlossenen Handelns angesichts der Klimakrise falsch wäre, oder dass er daneben liegen würde, wenn er sowohl Ampel als auch CDU weitgehende Tatenlosigkeit vorwirft. Nein, ich halte es nur für eine merkwürdige Vorstellung, hier bestünde eine ungenutzte Chance, weil alles in der Schwebe sei.

Denn die Parteien müssen ja ihre Machtposition festigen, und dazu gilt es ja gerade in der Schwebe, die eigenen Grundlagen zu festigen. Man experimentiert nicht, wenn ein feines Gewebe austariert wird. Die Ampelverhandlungen funktionieren ja vor allem deswegen, weil die Positionen der drei Parteien ziemlich klar sind und niemand plötzlich die Primadonna spielt oder einfach neue Ideen einwirft, die vorher nie angesprochen waren. Dafür ist ja der Wahlkampf da, und der hat deutlich genug gezeigt, wie wenig Appetit sowohl seitens der Parteien als auch, und das ist entscheidend, der Wählendenschaft für solche neuen Ansätze besteht.

5) Eine Partei droht zu sterben

Währenddessen sitzt Sarah Wagenknecht, die nur noch einfache Abgeordnete ist, als prominentestes Gesicht der Partei in Talkshows. Dort postuliert sie, etwa in den Themen Migration, Identitätspolitik oder auch der Corona-Impfkampagne, teilweise von der Parteilinie abweichende Meinungen. Auch dies verstärkt in der Öffentlichkeit den Eindruck von Unklarheit. Die Partei muss damit umgehen, dass sich ihre Rolle im Parteiensystem in den letzten Jahren verändert hat. Lange lebte sie im Osten des Landes maßgeblich von ihrem Image als Protestpartei. Je stärker sie in den Ländern in Regierungsverantwortung gegangen ist, desto schwieriger konnte sie die Protestrolle ausfüllen. Mittlerweile liegt die AfD in allen ostdeutschen Bundesländern außer in Berlin vor der Linken. [...] Die Ursachen für den Stimmenverlust liegen allerdings tiefer: In ihren Gründungsjahren konnte die Linke einhellig gegen den "Sozialabbau" protestieren. Bei den sozialen Themen fanden die verschiedenen Strömungen der Partei viele Schnittpunkte zueinander. In gegenwärtigen Debatten über die Aufnahme von Geflüchteten, über den Umgang mit Minderheiten und insbesondere in identitätspolitischen Diskussionen ist die Partei zerrissen. Die Folge sind Lähmungserscheinungen in der Außenwirkung. [...] Inhaltlich wollte die Linke immer Partei der sozialen Fragen sein. Jedoch genießt sie ausgerechnet hier immer weniger Vertrauen. In den Themen der sozialen Gerechtigkeit, bei angemessenen Löhnen und der Altersversorgung wird die Linke als weniger glaubwürdig gesehen als noch bei der vorangegangenen Bundestagswahl. Besonders auffällig ist, dass die Kompetenzen der SPD auf diesen Gebieten erstmals seit Jahren wieder gestiegen sind. Der Partei also, gegen deren Politik sich die Linke einst gegründet hat. (Michael Freckmann, T-Online)

Mit Oskar Lafontaines Spaltung der einstmals mächtigen LINKE-Fraktion im Saarland bewahrheitet sich einmal mehr das alte Bonmot, nachdem sich Geschichte stets wiederhole: einmal als Tragödie, einmal als Farce. Die Tragödie war das Schisma in der SPD, die Farce ist nun die Spaltung der LINKEn. Der Mann ist zerstörerische Kraft, auf die ein Schumpeter stolz sein könnte. Er reißt nieder, er erschafft, und nun reißt er wieder nieder. Ich bezweifle, dass noch irgendetwas Konstruktives aus dieser Ecke zu erwarten ist.

Ansonsten aber zeigen sich für die LINKE in meinen Augen vor allem zwei Probleme. Einmal macht ihr die AfD die Rolle als Interessenvertreter*in der Ostdeutschen streitig, die bundespolitisch einfach eine Sackgasse ist - eine Sackgasse, aus der die LINKE dank ihrer fundamentalistischen Positionen in der Außenpolitik bisher nicht ausbrechen konnte. Und zum anderen lebte die LINKE von ihrem Kernkompetenzfeld als Partei "sozialer Gerechtigkeit". Wenn die SPD diesen verlorenen Grund nun einerseits wieder gutmacht und andererseits die Bevölkerung ihren Frieden mit dem Status Quo gemacht hat, verliert die Partei auch hier jegliches politische Kapital.

Aus diesem Dilemma auszubrechen ist extrem schwierig und könnte gut und gern mit der Rückkehr der Partei unter die 5%-Hürde enden. Da wäre sie gut aufgehoben.

6) Menace Enters the Republican Mainstream

From congressional offices to community meeting rooms, threats of violence are becoming commonplace among a significant segment of the Republican Party. Ten months after rioters attacked the United States Capitol on Jan. 6, and after four years of a president who often spoke in violent terms about his adversaries, right-wing Republicans are talking more openly and frequently about the use of force as justifiable in opposition to those who dislodged him from power. [...] But historians and those who study democracy say what has changed has been the embrace of violent speech by a sizable portion of one party, including some of its loudest voices inside government and most influential voices outside. In effect, they warn, the Republican Party is mainstreaming menace as a political tool. [...] Notably few Republican leaders have spoken out against violent language or behavior since Jan. 6, suggesting with their silent acquiescence that doing so would put them at odds with a significant share of their party’s voters. [...] The increasing violence of Republican speech has been accompanied by a willingness of G.O.P. leaders to follow Mr. Trump’s lead and shrug off allegations of domestic violence that once would have been considered disqualifying for political candidates in either party. [...] There is little indication that the party has paid a political price for its increasingly violent tone. (Lisa Lerer/Astead Herndon, New York Times)

"Faschismus liegt in der Luft", schreibt die USA-Expertin Annika Brockschmidt angesichts dieser Entwicklungen. Während ich ihre Besorgnis erregende Analyse durchaus teile - die Republicans haben sich von demokratischer Politik längst verabschiedet - finde ich "Faschismus" den falschen Begriff. Trump sah sich gerne als ein moderner Mussolini, aber die USA sind wesentlich empfänglicher für dezentralere Formen politischer Gewalt. Man muss nur zurück ins 19. Jahrhundert blicken um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie das aussehen kann. Damals wurde massive Gewalt gegen den politischen Gegner ausgeübt, man ergab sich in Straßenschlachten und Terrorattentaten. So etwas sehe ich wahrscheinlicher als den Aufstieg eines charismatischen Führers und den formalen Untergang der Republik.

7) »Perfekte Deutschkenntnisse vorausgesetzt« – warum eigentlich?

Am Arbeitsplatz geht es darum, Informationen sowohl richtig aufzunehmen als zu vermitteln. In vielen Branchen und Positionen ist das auch mit grammatikalischen Fehlern und Akzent möglich. Das können Sie vergleichen mit Deutsch-Muttersprachlern, die in einem Projekt Englisch sprechen müssen. Bei denen wird schließlich auch ohne Bedenken toleriert, dass das Englisch nicht perfekt, aber zum Arbeiten absolut ausreichend ist. [...] Selbstverständlich werden Sie Positionen identifizieren, auf denen weiterhin eine fehlerfreie schriftliche und verbale Kommunikation notwendig ist. Aber deshalb muss man nicht ungeprüft zu hohe Sprachanforderungen stellen. Viele gute potenzielle Kandidaten werden durch die Anforderungen »perfekt, verhandlungssicher oder fließend« abgeschreckt – und bewerben sich erst gar nicht. Diese Hürde können sich Unternehmen, die mit Fachkräftemangel zu kämpfen haben, nicht leisten. [...] Zu hohe Sprachanforderungen können übrigens dazu führen, dass Mitarbeiter sich scheuen, Deutsch im Arbeitsalltag zu sprechen – zum Beispiel weil sie mit der Grammatik hadern. Das ist aber wichtig, damit sich die Kollegen weiter verbessern können. Machen Sie ihnen Mut! Es ist okay, etwas auf Englisch oder in einer anderen Sprache zu sagen, wenn mal eine Vokabel fehlt. Das Gleiche gilt natürlich auch für Teammitglieder, die plötzlich Englisch sprechen müssen. Gleiches Recht für alle. (Lunia Hara, SpiegelOnline)

Ich finde neben der Tatsache, dass hier wieder einmal die gewisse Willkürlichkeit des Personalauswahlprozesses sichtbar wird, das vor allem deswegen unterhaltsam, weil die meisten Leute ja selbst kein "perfektes Deutsch" sprechen und gar nicht merken, welche Fehler sie machen oder welche grammatikalischen Besonderheiten sie nicht beherrschen. Ich sag nur "Futur II" oder "Konjunktiv II". Auch am Deklinieren des Plusquamperfekt scheitern reihenweise Erwachsene, und das ist Stoff der 5. Klasse. Was gemeint ist ist ja letztlich "fließend Deutsch" sprechen, also auf eine Art schriftlich und mündlich kommunizieren, die zur Mehrheitsgesellschaft passt.

8) Lockdown für alle?

Es wäre dann eine durchaus offene Frage, ob nicht gerade der Vorteil einer expliziten Feststellung des Ausnahmezustands, ob man ihn nun „epidemische Lage“ oder sonstwie nennen mag, darin liegen könnte, die zeitliche Begrenztheit dieses Zustands zu markieren und ihn durch seine formelle Beendigung von einem Tag auf den anderen einfach abzuschalten, um dann wieder zum Normalbetrieb zurückzukehren. Darauf habe ich keine klare Antwort. Aber auch dieses Argument verliert an Überzeugungskraft, wenn der als solcher gedachte Ausnahme- zu einem Dauerzustand geworden ist, dessen Ende offen ist: Wer sagt eigentlich, dass im nächsten Winter alles besser wird? Oder es überhaupt irgendwann einmal vorbei ist? Bislang hat sich noch jede Nachricht vom Ende der Pandemie, ob durch wärmeres Wetter oder den Impfstoff, zuverlässig als verfrüht erwiesen. Wollen wir dann immer in diesem Modus weitermachen? [...] Auch eine allgemeine Impfpflicht ließe sich, wie die bisherige Diskussion gezeigt hat, in diesem Sinne verfassungsrechtlich durchaus begründen; man bräuchte nur eine Vorstellung, wie man sie denn durchsetzt, nachdem die politisch Verantwortlichen sie von Anfang an – und wie sich auch hier zeigt: vorschnell – ausgeschlossen haben. Liefen wir dann trotz allem doch in eine Triagesituation hinein, wie sie natürlich niemand wollen kann, wäre die nüchterne Frage, ob und inwieweit die Weigerung, sich selbst impfen zu lassen, als Kriterium für die dann zu treffende Entscheidung zu berücksichtigen ist. Dafür lassen sich durchaus rechtfertigende Gründe anführen, wie kürzlich gezeigt worden ist. Dabei ginge es nicht um ein achselzuckendes „Selber schuld“, wie oft unterstellt wird, um das Argument von vornherein zu diskreditieren: Natürlich soll jeder, ob geimpft oder nicht, die beste Behandlung bekommen, die möglich ist. Aber wenn eine solche Behandlung nach den gegebenen Umständen nur für einige möglich ist, für andere aber nicht, müssen Kriterien gefunden werden, nach denen die Auswahl getroffen wird. Auch hier entspricht es dann einem Gebot gerechter Lastenverteilung, dass, wenn man Entscheidungen frei und eigenverantwortlich trifft, man im Fall des Falles auch die Konsequenzen dieser Entscheidung zu tragen hat; jedenfalls fällt mir kein plausibles Argument ein, das es rechtfertigen könnte, diese stattdessen auf Dritte – wie andere dringend Behandlungsbedürftige – abzuwälzen. (Uwe Volkmann, Verfassungsblog)

Was in dieser beknackten Diskussion übrigens regelmäßig untergeht: die Mehrheit ist konsistent seit Beginn für schärfere Maßnahmen, und zwar deutlich, aber es wird gerne so getan, als ob die Schwurbler die "schweigende Mehrheit" darstellen würden. Dabei sind sie nur ein besonders lauter Haufen. Das Problem der Impfpflicht ist nicht der verfassungsrechtliche Rahmen. Es sind die politischen Kosten, die von den Verantwortlichen gescheut werden, und die völlige Verweigerung irgendwelcher Planung und Vorbereitung, die eine Impfpflicht de facto unmöglich machen. Selbst wenn eine solche Pflicht nun verabschiedet würde - die Kapazitäten sind ja gerade gar nicht da, wenn man sich die Schlangen anschaut, die allein wegen der Booster-Impfung gerade entstehen. Und die Impfzentren hat man ja in dieser bescheuerten Weigerung, auch nur eine Woche vorauszudenken, ebenfalls geschlossen.

9) Andrew Sullivan and the Narrative of the "MSM Narrative"

In recent years Andrew Sullivan has been othered by parts of the MSM for sins against current political orthodoxy. To him, these recent developments feel like a big, all-consuming story. Because for him, personally, they have been. And I’ll be honest: I get that. I get that a lot. But someone has to defend the honor of the dreaded mainstream media. Because here is the very boring truth about “MSM narratives”: The media is a vast space where actors and institutions are interconnected, but operate semi-independently, according to a variety of incentives. Sometimes independent actors make good-faith mistakes. Sometimes they make bad-faith mistakes. But in most cases—in nearly every case, actually—the marketplace of ideas eventually wins and the truth outs. The MSM is like a giant peer-review system, but where the peer-reviewing takes place after publication. Jonathan Rauch talks about this at length in The Constitution of Knowledge—that the scientific enterprise and the journalistic enterprise have similar modes of operation. Is the journalistic mode great? No. Like democracy, it is the worst system there is—except for all the others. By its diffuse nature, the media can’t be optimized. There will always be flaws and inefficiencies. (Jonathan Last, Bulwark)

Jonathan Last schlägt in seiner Kritik in die gleiche Kerbe, in die ich mit meinen Artikeln zur Frage der Parteilichkeit und zu den Öffentlich-Rechtlichen auch angesprochen habe: die Medien sind ihr eigenes Korrektiv. Das ist quasi die positive Variante. Negativ gesehen neigen sie eben auch zu einem gewissen Herdentrieb und überkorrigieren dann gerne. Das führt dann zu diesen Einseitigkeiten, die immer wieder von den Betroffenen beklagt werden - ob wie ich seinerzeit in den 2000ern der neoliberale Konsens oder diverse Leute jetzt die verspätete Erkenntnis und Überkorrektur der bisher fehlenden Diversity.

Aber insgesamt ist sicher richtig, dass das System sowohl zur Selbstkorrektur neigt (zumindest langfristig) als auch in seinen Problemen kaum zu reformieren ist. Gerade die Freiheit der Medien, die unabdingbar zur Demokratie gehört, verhindert letztlich, dass diese Grunddynamiken sich jemals ändern können. Jede Institution, jedes System hat seine eigenen Dynamiken und Prozesse, die gleichzeitig sein Funktionieren garantieren und ein Problem sind. Die richtige Strategie scheint mir eher ein informierter Umgang damit und der Versuch, die schlimmsten Auswüchse zu vermeiden, zu sein.

10) SPD will Sondersitzung des Landtags

Die SPD-Fraktion dringt wegen der sich zuspitzenden Corona-Lage im Land auf eine Sondersitzung des Landtags noch vor der Konferenz der Ministerpräsidenten am Donnerstag. „Die passive Haltung der Landesregierung in der Corona-Politik der vergangenen Wochen muss ein Ende haben“, sagte SPD-Fraktionschef Andreas Stoch am Montag in Stuttgart. „Während andere Bundesländer bereits strengere Regeln zur Pandemieeindämmung eingeführt haben, schaut die grün-schwarze Landesregierung wie das Kaninchen auf die Schlange, wann denn endlich die Alarmstufe erreicht ist.“ Die SPD könne bei der grün-schwarzen Landesregierung derzeit keine klare Strategie zur Bewältigung der vierten Corona-Welle erkennen. (dpa, Stuttgarter Nachrichten)

Wir sehen hier dieselbe Dynamik, wie ich sie auch beim Thema der Schuldenbremse kritisiert habe. Die Politik hat die unglückliche Neigung, sich selbst aus der Verantwortung zu nehmen, indem sie sich an arbiträre Zahlen bindet. Das erlaubt es ihr, kollektiv die Hände in die Luft zu werfen und nichts zu tun. In diesem Fall ist es die "Alarmstufe". Seit sicherlich zwei Wochen explodieren überall die Inzidenzen. Jede*r weiß, dass zwingend Maßnahmen ergriffen werden müssen, und jede*r weiß, dass diese kommen werden.

Aber anstatt zu handeln, wo diese Dinge klargeworden sind, wartet man, bis die Inzidenzen den (arbitären) Wert erreicht haben, für den man die "Alarmstufe" festgelegt hat. Niemand tut etwas vorher, es wird auch nicht nennenswert geplant und vorbereitet. Seit über zwei Wochen etwa zeigen alle Zahlen deutlich, dass die Infektionen unter Kindern und Jugendlichen explodieren. Trotzdem hat die Landesregierung sich standhaft geweigert, die Regeln zu ändern, bevor die Alarmstufe wieder erreicht ist, diese sinnlose, bedeutungslose Zahl, an die man sich gekettet hat, um auf scheinbare Sachzwänge zu verweisen und ja keine politischen Entscheidungen treffen zu müssen, für die man dann kritisiert werden könnte.

Deswegen ist auch Armin Nassehis Frage, ob wir nichts gelernt hätten, deplatziert. Es ist ja nicht so, als ob Winfried Kretschmann zu blöd wäre, zu lernen, oder zu faul. Es erfordert tatsächlich eine ganze Menge Aufwand, nichts zu lernen. Das ist ein bewusster, stark getriebener Vorgang, anders sind solche abartigen Aussagen wie "hinterher ist man immer schlauer" gar nicht zu erklären. Hier wird mit einer arroganten Bräsigkeit ganz bewusst nicht dazugelernt, weil das erfordern würde, eigene Entscheidungen zu treffen, mithin also den Job zu machen, für den man gewählt wurde. Deswegen ist es auch so verquer, dieses Phänomen immer auf Merkel zu verengen. Sie ist der herausragendste Exponent dieser Haltung, aber das findet sich quer über alle Parteien und ist ein Prozess der letzten zwei Jahrzehnte. Es ist eine Weigerung der Politik, politisch zu sein.

11) "Der Schlüssel für die Interessen junger Menschen" (Interview mit Carl Mühlbach)

ntv.de: Viele junge Menschen gehen in den vergangenen Jahren schon auf die Straße, weil sie sich Sorgen machen, wie Politiker heute ihre Zukunft beeinflussen, etwa durch eine verfehlte Klimapolitik. Wie kamen Sie dazu, sich ausgerechnet mit Fiskalpolitik zu beschäftigen?

Carl Mühlbach: Politisch engagiert war ich schon früher, zum Beispiel als Schülervertreter in Bremen. Damals haben wir gegen harte Sparmaßnahmen im Bildungsbereich demonstriert. Später erst habe ich erfahren, dass diese Kürzungen auf die Einführung der Schuldenbremse zurückzuführen waren. Gezielt aktiv geworden bin ich dann in der Anfangsphase der Corona-Pandemie. Als Volkswirtschaftsstudent hat mich die große Diskrepanz zwischen dem ökonomischen Forschungsstand und der öffentlichen Debatte zum Thema Schulden gestört. Wenn es etwa hieß, dass man die Neuverschuldung aufgrund der Corona-Hilfspakete bald zurückzahlen müsse. Ebenso irreführend ist der Mythos, dass sich Deutschland nur aufgrund der Schwarzen Null der Vorjahre die umfangreichen Corona-Hilfen leisten konnte. Um darüber aufzuklären, und die Debatte zu versachlichen, habe ich Fiscal Future ins Leben gerufen. Inzwischen sind wir circa 70 Menschen, die meisten Studierende. Wir haben eine Website gelauncht, übersetzen den wissenschaftlichen Erkenntnisstand und sind auf Twitter und Instagram aktiv. [...]

Sie berufen sich auf den Stand der Wirtschaftswissenschaften. Es gibt allerdings auch Ökonomen, die das ganz anders sehen. Gerade in der vergangenen Woche haben sich immerhin zwei der vier Wirtschaftsweisen vehement für den Erhalt der Schuldenbremse ausgesprochen. Kommen Sie da nicht manchmal ins Zweifeln an ihrer Position?

Es stimmt, dass es auch andere Positionen gibt. Es gibt auch immer noch Ökonomen, die glauben, für den Klimaschutz seien überhaupt keine zusätzlichen staatlichen Investitionen notwendig und es handle sich nur um ein Regulierungsproblem. Doch das sind Positionen, die selbst in Deutschland in den Wirtschaftswissenschaften in die Minderheit geraten. Und global gesehen ist das bereits eine Außenseitermeinung. (Max Borowski, NTV)

Wie ich in meinem Artikel zum Paradigmenwechsel bereits prognostiziert habe, schwingt das Pendel der Wirtschafts- und Finanzpolitik gerade langsam in die andere Richtung. Ich zitiere das obige Interview weniger wegen des Inhalts - offensichtlich teile ich diese Positionen - sondern wegen des Framings. Die Abkehr von der bisherigen Orthodoxie wird als zukunftsgewandt geframet, als eine notwendige Voraussetzung zur zukünftigen Krisenbewältigung. Auch die Betonung, dass es sich bei der bisherigen Orthodoxie mittlerweile um eine Minderheitenmeinung handelt ist ein neuer Ton. Die linke Kritik war bislang immer die des einsamen Rufers in der Wüste. Das ändert sich, und irgendwann in den nächsten Jahren wird eine kritische Masse erreicht sein und den Paradigmenwechsel komplett machen.

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