Es ist soweit: der Supreme Court hat das bundesweit garantierte Recht auf Abtreibung gekippt. Die Entscheidung war nach Erreichen einer rechtsradikalen Mehrheit durch die drei Nominierungen Trumps weithin erwartet worden. Angesichts der Bedeutung, die die Legalität der Abtreibung in den Kulturkämpfen der letzten 30 Jahre erlangt hat, wirkt das Urteil wie ein Fanal, wenngleich sich praktisch erst einmal wenig zu ändern scheint: die konservativen Staaten haben das Recht auf Abtreibung ohnehin in ihrem Dauerkampf so weit ausgehöhlt, dass es praktisch nicht existent war, und in den progressiven Staaten wird es vorläufig erhalten bleiben. Die Bedeutung des Urteils liegt vielmehr in der Urteilsbegründung und den Zukunftsfolgen, auf die sie verweist. Die schlechtesten Historiker*innen der Welt, gekleidet in den schwarzen Roben des obersten Gerichts, haben hier ein Ei gelegt, das weite Konsequenzen haben dürfte.
Ich habe an dieser Stelle schon öfter darüber geschrieben, dass ich die leitende Ideologie der konservativen Richter*innen, der so genannte Originalismus, für vollkommenen Blödsinn halte. Die Idee ist, dass der Text der Verfassung selbst ausschlaggebend sein soll und vor dem Hintergrund der Überlegungen interpretiert werden soll, die zu seiner Abfassung führten ("original intent", daher Originalismus). Dies erfordert profunde Kenntnisse der Geschichte der Revolutionszeit und eine ständige Textexegese von Quellen wie den Federalist Papers und zahlreichen Artikeln und Essays, die die "Framers" geschrieben haben. Was Originalisten komplett ablehnen ist die Idee einer "living constitution", also einer Entwicklung der Rechtsprechung mit den sich ändernden gesellschaftlichen Verhältnissen. Aus Sicht der Originalisten etwa ist die Abschaffung der Sklaverei nicht aus unseren heutigen ethischen Vorstellungen, sondern allein aus dem 13. Verfassungszusatz verfassungsgemäß. Da die Verfassung nichts zum Thema Abtreibung sagt, kann demzufolge ein Abtreibungsrecht nicht aus der Verfassung hergeleitet werden. Und so weiter.
Das führt dazu, dass sich das oberste Gericht permanent mit der Frage beschäftigt, was die Framer sich wohl gedacht haben könnten, als sie dieses oder jenes Komma setzten. Dass sie dabei kein Ouija-Brett auspacken ist alles; bei der legendären Abgeschiedenheit und Geheimhaltung des Supreme Court ist es aber natürlich auch nicht ausgeschlossen. Das hat wenig mit Jurisprudenz zu tun und lässt die Verfassungsrichter*innen im Feld der Geschichtswissenschaft wildern, in dem sie selbst allerdings wenig Kompetenz haben. Sie sind, gewissermaßen, die schlechtesten Historiker*innen der Welt. Würden sie nur irgendwelche Sendungen im History Channel moderieren, wäre das nicht weiter tragisch, aber sie entscheiden auf Grundlage ihrer Textegese über das Schicksal von Millionen.
Der Originalismus ist dabei vor allem eine Theorie, die sehr konservative Auslegungen der Verfassung begünstigt. Das liegt in der Natur der Sache: Wer die Überzeugung vertritt, dass allein der Wille einer Gruppe reicher weißer Plantagenbesitzer und Anwälte von vor 250 Jahren ausschlaggebend ist, wird zwangsläufig bei Interpretationen landen, die nicht eben sonderlich modern sind. Die Vorstellung, dass die Verfassung irgendetwas zu Abtreibungen sagen könnte, ist vollkommen absurd. Genau dasselbe gilt für Autos oder das Internet. Dafür ist es dank dieser ahistorischen Betrachtungsweise möglich, jede noch so tödliche Waffe in Privathänden als legitim zu sehen, weil man von Vorderladermusketen à la 1776 ausgeht. Das Problem wird durch die Feststellung zugespitzt, dass Washington 25 Jahre vor der Entdeckung des ersten Dinosaurierskeletts starb. Anders gesagt: die meisten Framer wussten Zeit ihres Lebens nicht, dass Dinosaurier existierten. Vielleicht sind ihre Ansichten und ihr Wissensstand nicht unbedingt als Grundlage für die Jurisprudenz des Jahres 2022 zu nehmen.
Man sollte an dieser Stelle nicht annehmen, dass die Richter*innen unideologisch handeln würden. Mary Ziegler beschreibt die Belege dafür in ihrem Artikel "The Conservatives Aren’t Just Ending Roe—They’re Delighting in It" für den Atlantic:
This majority knows that it will be celebrated by the conservative legal movement and the leaders of the Republican Party. [...] One footnote suggests that those who fought for the right to choose abortion were motivated by racism—and argues that Roe produced a world in which fewer children of color were born. It emphasizes that abortion is different from any other constitutional right because it involves the taking of a life. These are arguments that would be made by justices who are not merely assuring the demise of abortion rights but delighting in it. [...] The draft concludes that this issue should be decided by voters, not justices, but—and this is subtle but quite significant—it also distinguishes abortion from other rights the Court has protected by stressing the value of fetal life. If this language is in the final opinion, it will be read by anti-abortion-rights leaders as an invitation to return to the Court and ask the conservative justices to hold that the Constitution recognizes the personhood of the fetus—and that abortion is unconstitutional in blue as well as red states. If the Court goes that route, the issue will be far, far out of the hands of voters in all states for a very long time to come. (Mary Ziegler, The Atlantic)
Wir werden uns mit dem Demokratieargument der konservativen Richter*innen gleich noch genauer beschäftigen. Wir müssen uns einstweilen nicht mit Fußnoten aufhalten; Clarence Thomas' radikale Ansichten wurden von ihm in den letzten Jahrzehnten (der Mann sitzt seit über 30 Jahren auf seinem Sessel) oft genug kundgetan (im Übrigen ist es schwarzhumorig, dass Thomas es zwar unzulässig findet, dass man ihn in der Öffentlichkeit kritisiert, aber nicht, dass von konservativen Aktivist*innen gewohnheitsmäßig Terror gegen Abtreibungskliniken betrieben wird).
Aber die Offenheit, mit der gerade in den Fußnoten konservative Ideologie in den Mantel der Jurisprudenz gepackt wird, ist schon bemerkenswert. Berüchtigt wurde etwa die Begründung für das Abtreibungsverbot, man müsse den "domestic supply of infants", also das inländische Angebot an Säuglingen, für adoptionswillige Paare aufrechterhalten. Man muss nicht so weit gehen wie progressive Aktivistinnen es schon 2017 taten, als sie sich in die roten Trachten der "Handmaids" aus Margeret Atwoods dystopischen Roman warfen (wenngleich die Autorin dem mittlerweile explizit zustimmt).
Aber es ist banal wie Alito und Thomas festzustellen, dass die Verfassung nichts über Abtreibung sagt. Die Verfassung sagt auch nichts über Frauen, sie kommen in ihr schlicht nicht vor. Das verwundert nicht, denn sie wurde nur von Männern geschrieben (weswegen auch die Sklaverei nur im verschämten "3/5ths of all other persons" Erwähnung findet). Auffällig ist daher auch eine völlige Realitätsferne in den Begründungen des Gerichts, wie sie Sibel Schick beschreibt:
So wird darin das Recht auf Autonomie und Selbstbestimmung als »übertrieben« eingestuft: Im Extremfall könnten diese in Drogenkonsum und Prostitution ausarten. Es wird weiter behauptet, dass Mütter auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr diskriminiert werden, Mutterschutz verpflichtend ist und die Kosten einer Schwangerschaft von Krankenkassen übernommen werden. Dass in den USA mehr als 28 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter keine Krankenversicherungen haben und Schwangere, die nicht versichert sind, alle Kosten selbst tragen müssen, die unter Umständen sechsstellig und damit existenzbedrohend sein können, wird so wie viele andere Versorgungslücken im US-Gesundheitssystem verschwiegen. Das wäre nicht möglich, wenn wir die Entscheidung für Abbrüche mit Selbstbestimmung begründeten statt überwiegend mit ökonomischen Problemen, die nur eine einzige Ursache darstellen neben vielen anderen. Dass eine gebärfähige Person sich gegen Kinder, aber sehr wohl für Sex entscheiden kann, ohne dies begründen zu müssen, so wie es für heterosexuelle cis Männer selbstverständlich ist, scheint undenkbar.
Letztlich konstruieren die Originalist*innen nicht nur eine Fantasie-Vergangenheit, sondern auch eine Fantasie-Gegenwart. In dieser selektiven Lesart ist es zwar "pro life", ungeborene Föten zu schützen, aber nicht, geborenen Kindern Nahrung zur Verfügung zu stellen. Die Republicans jedenfalls stimmten mit überwältigender Mehrheit gegen 28 Millionen Dollar für Babynahrung, die in der aktuellen Krise dringend benötigt würde. Wenig überraschend: laut dem texanischen Gouverneur Abott wäre das verfassungswidrig.
Aber wie sieht es mit dem Argument aus, dass das Urteil letztlich demokratiefördernd ist, weil es ja in der Freiheit der Einzelstaaten liege, Regelungen zu schließen? Ross Douthat vertritt, kaum überraschend, in der New York Times diese Ansicht. Die Argumentation fällt aber schnell auseinander: er sieht in Roe v. Wade eine Spaltung des Landes, ein Ende der Debatte, weil man "nur dafür oder dagegen sein könnte" - aber was genau daran jetzt anders ist, bleibt unklar. Er selbst verweist darauf, dass die Polarisierung nun abnehmen würde, aber das ist ein Hirngespinst. Die Problematik wird sich eher verschärfen.
Denn was die Konservativen gerne unterschlagen ist, dass sich das Thema ja gar nicht auf Einzelstaaten begrenzen lässt. Wenn die Bundesstaaten nun völlig frei sind, rigorose Abtreibungsgesetze zu erlassen, dann können - und werden, wir reden von Konservativen! - sie auch den Akt der Abtreibung selbst unter Strafe stellen. Das führt zu der völlig absurden Situation, dass Abtreibung in Mississippi eine Straftat ist, während sie zwei Staaten weiter straffrei vorgenommen werden kann. Die zurückkehrende Frau wäre dann aber in Mississippi plötzlich eine Straftäterin. Die Behörden von Mississippi würden Amtshilfe bei der Verfolgung verlangen; der liberale Staat müsste diese ablehnen. Und was macht er, wenn Polizist*innen die Mississippianerin in Ohio festnehmen?
Dieses Szenario ist nicht aus der Luft gegriffen. Genau diese Situation zerriss die USA nach dem unsäglichen Fugutive Slave Act von 1850, mit dem die Konservativen seinerzeit die freien Staaten zwangen, entflohene Sklaven einzufangen und zurückzugeben und der ziemlich deutlich das nächste Vorbild der GOP ist. Kein Wunder, dass da schon Bürgerkriegsszenarien aufkommen (wenngleich die Wahrscheinlichkeit dafür gegen null geht; die Wahrscheinlichkeit für Gewalt steigt massiv; auch hier gibt die Geschichte des 19. Jahrhunderts beunruhigende Vorlage). Die neuen Gesetze in Texas, die bereits Fehlgeburten unter Strafe stellen, dienen als mahnendes Vorzeichen.
Auch der Supreme Court ist dagegen nicht immun. Konservative Aktivist*innen haben bereits massive Drohungen gegen Roberts ausgestoßen, weil dieser sich nicht auf die Seite der Radikalen gestellt hat (nicht, dass er nicht auch Roe abschaffen wollte, aber er wollte es subtiler tun und nicht mit der Brechstange, wie es Alito, Thomas, Kavanaugh und Konsorten nun getan haben). Das Urteil hat zudem zu einem massiven Ansehensverlust des SCOTUS geführt, der ohne Beispiel ist. Bislang war das oberste Gericht bei den Amerikaner*innen wie das BVerfG in Deutschland auch mit viel Vertrauen gesehen worden; nun ist es auf dem besten Weg, dem gleichen institutionellen Verfall wie der Kongress anheim zu fallen. Die schleichende Verfassungskrise, die der Gerichtshof durch seinen Aktivismus heraufbeschwört - Cass Sunstein fasst es unter die Frage "Who should regulate?" - wird dies noch weiter verschlimmern. Dass ausgerechnet Clarence Thomas erklärt, die Leute müssten mit Entscheidungen leben, die sie nicht gut finden, setzt dem Ganzen noch die Krone auf.
Ob sich progressive Hoffnungen auf eine Gegenreaktion der Öffentlichkeit zum konservativen Radikalismus bewahrheiten werden, halte ich nicht für ausgemacht. Der Ansehensverfall des SCOTUS hat sicher auch mit einem Betrugsgefühl zu tun: Ob Gorsuch, Kavanaugh oder Barett, während der Anhörungen wurde von Progressiven immer bereits gewarnt, dass diese Radikalen entsprechend urteilen würden; sie haben es stets abgestritten. Zumindest einige Moderate dürften sich durchaus belogen fühlen. Wie Thomas dürften die Richter*innen dieses Gefühl nicht teilen; Alito etwa belog den Kongress schon bei seiner eigenen Anhörung, das hat gewissermaßen Tradition.
Weder die Republicans noch ihr verlängerter Arm im SCOTUS werden bei Roe v. Wade aufhören. Bereits jetzt ist klar, dass die Homo-Ehe das nächste Ziel sein wird. Die Radikalen haben Obergfell nie akzeptiert, und sie verbreiten bereits jetzt das Framing des Urteils als Teilsieg. Neben der Revision solcher Urteile stehen auch legislative Vorstöße auf der Agenda. Das Ziel der Radikalen ist ein amerikaweites Abtreibungsverbot, und durch dieses Ziel ist es in greifbare Nähe gerückt. Verfassungsgemäß wäre es unter diesem SCOTUS allemal, und selbstverständlich würde die GOP den Filibuster abschaffen, um entsprechende Gesetze durchzubringen. Darin sind sie ja reichlich explizit.
Auch auf anderem Feld sehen wir bereits die Vorzeichen neuer radikaler SCOTUS-Entscheidungen. In Virginia Beach etwa versucht ein konservativer Aktivist, eine Klage gegen Barnes and Nobles anzustrengen, weil diese ein Buch verkaufen, das vom örtlichen school board verboten wurde - an und für sich eine lächerliche Klage, bedenkt man den ersten Verfassungszusatz, aber mit einem ideologisch gefangenen Gericht ist plötzlich vorstellbar, dass solche Fälle, bis vor den Supreme Court geklagt, derartige Zensur möglich machen, oder aber dass der SCOTUS die Annahme der Klage ablehnt und es damit unter den Vorbehalt der Staaten stellt, auf diese Art zu zensieren.
Im Hinblick auf die Wahl 2024 ist auch der kommende große Betrug relevant. Die republikanischen Staaten verabschieden reihenweise "election laws", die ihnen Wahlmanipulation erlauben. Das Redistricting in Ohio wurde vom dortigen Staatenverfassungsgericht als "stunning rebuke of the law" verurteilt - SCOTUS könnte das aufheben und legalisieren. Der Plan zum Diebstahl der Wahl ist unter aller Augen bereits seit Monaten in der Entwicklung. Und falls jemand glaubt, dass der Rechtsstaat da schon helfen wird - in einem aktuelle SCOTUS-Urteil erteilte dieser ein Verbot von Beweisen für Fehler von Staatengerichten - selbst wenn also nachgewiesen ist, dass ein Urteil falsch war oder Beweise gefälscht, darf es in den Augen der konservativen Radikalen nicht aufgehoben werden, sofern es der eigenen Seite dient. Man kennt das ja bereits.
Das alles klingt fantastisch, aber das tat für viel zu viele Menschen die Aufhebung von Roe v. Wade auch. Letztlich besteht die Gefahr, dass der von Radikalen gekaperte Gerichtshof zum Vehikel für die Zerstörung der Demokratie wird. Es mag sein, dass ich mich täusche. Ich hoffe es sogar. Aber die bisherigen Befürchtungen sind alle eingetroffen. Die schlechtesten Historiker*innen der Welt sind drauf und dran, die älteste Demokratie der Welt zu demontieren.
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