Mittwoch, 1. Juni 2022

Rezension: Thomas Brechenmacher - Im Sog der Säkularisierung

 

Thomas Brechenmacher - Im Sog der Säkularisierung

Als 1949 zwei deutsche Staaten auf den Trümmern der Kriegsniederlage gegründet wurden, standen auch die beiden christlichen Kirchen vor einem Scherbenhaufen. Die neue Staatsgrenze lief mitten durch Bistumsgrenzen und 12 Jahre nationalsozialistischer Diktatur hatten die Bevölkerung entfremdet und die Kirche moralisch kompromittiert. Im östlichen Teil des Landes trat zudem eine dezidiert atheistische, totalitäre Regierung mit dem expliziten Wunsch an, die Kirchen wenn nicht zu zerstören, so doch zu marginalisieren. Auf der anderen Seite schien gerade für die katholische Kirche mit dem Amtsantritt des Christdemokraten Adenauer eine goldene Zeit kirchlichen Einflusses in die Politik zumindest im westlichen Landesteil anzubrechen. Bald aber zeigte sich, dass der Trend zur Säkularisierung, in dessen Sog die Kirchen gerieten, in beiden Landesteilen nicht aufzuhalten war. Diesen Trend zeichnet Thomas Brechenmacher im vorliegenden Buch nach.

Seine Betrachtung beginnt mit der Niederlage 1945. Für die Kirchen stand diese Zeit ganz unter der Fragestellung "Restauration oder Neuanfang": sollte versucht werden, den Status vor der Diktatur wiederherzustellen und damit eine möglichst vom Staat unbeeinflusste Kirchenstruktur zu bekommen, die sich um die Staatsform wenig scherte, oder sich als eine demokratisch Kirche neu zu verfassen. Bekanntlich hatten sich beide Kirchen mit der Demokratie bislang schwergetan; das Beste, wozu sie sich hatten durchringen können, war eine neutrale Äquidistanz gewesen.

Auch die Schuldfrage stand auf dem Tablett. Zwar äußerten sich sowohl die evangelische als auch die katholische Kirche recht schnell selbstkritisch, blieben aber weit hinter dem zurück, was wünschenswert gewesen wäre. Vor allem erklärte man, nicht hart genug gebetet zu haben - also quasi den Verlockungen des Materialismus erlegen zu sein -, die eigene Rolle in der Diktatur reflektierte man aber kaum. Dies sollte erst später folgen.

Die deutsche Teilung stellte die Kirchen auch vor eine Herausforderung, weil ihre Organisationsstrukturen aufgespalten wurden. Bei den Protestanten, die sich schon immer an Landesgrenzen ausgerichtet hatten, führte dies zu weniger inhärenten Konflikten als bei den Katholiken, deren Bistumsgrenzen nun mitten durch die Zonengrenze verliefen. Bis zum Fall der Mauer (ironischerweise aber direkt danach) reformierte die Kirche diese Grenzen nicht, sondern weigerte sich, die Spaltung für sich anzuerkennen, egal wie real sie im Alltag auch war.

Der nächte Themenbereich ist die Integration der Kirche ins jeweilige Staatswesen. Im Geltungsbereich des Grundgesetzes hatten die Kirchen die luxuriöse Situation, dass sie beziehungsweise ihr Glaube die legitimatorische Grundlage des Staates darstellten, der sich explizit als christlich konstitutierte. Brechenmacher weist  aber darauf hin, dass diese christliche Basis ist bei weitem nicht so stark war, wie dies gerade die Unionsparteien gerne betonen. Die Hoffnungen der Kirchen auf eine stärkere Klerikalisierung des Staates zerschlugen sich bald; auch der bundesdeutsche Staat war vergleichsweise säkular und würde dies im Folgenden noch viel mehr werden. Immerhin gelang es den Kirchen, sich mit der Kirchensteuer und den weitgehenden Privilegien im Schulsystem - vor allem der Verankerung des Religionsunterrichts in den Landesverfassungen und der Garantie für freie Bekenntnisschulen - einige Nischen zu sichern. Wesentlich prekärer war die Lage der Kirchen in der DDR: zwar war die grundsätzliche Religionsausübung gewährleistet, aber von ihnen wurde eine klare Unterordnung unter den sozialistischen Staat erwartet. Die späteren DDR-Verfassungen waren demgegebüber wesentlich harscher und drängten die Kirchen mehr und mehr aus dem öffentlichen Leben heraus.

Im folgenden Segment, das sich mit Schule und Jugend beschäftigt, geht Brechenmacher stärker auf die Rolle der der Bekenntnisschulen ein, mit denen vor allem die katholische Kirche ihren Einfluss auf die Jugend zu wahren hofften und die Verankerung des Religionsunterrichts, der massiv dazu beitrug, wenigstens die formellen Konfessionszahlen hochzuhalten. Beides allerdings half dabei, die Säkularisierung aufzuhalten. Die DDR dagegen schuf den Kirchen, vor allem der protestantischen, mit der Jugendweihe massive Konkurrenz. Durch die Diskriminierung der Jugendlichen, die die Jugendweihe nicht wahrnahmen, und der Unvereinbarkeit mit der Konfirmation sorgte dies für einen massiven Rückgang der konfessionell gebundenen Jugendlichen, was mit der Zeit dazu führte, dass zwei konfessionell effektiv atheistische Konfessionen heranwuchsen.

Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat beschäftigt Brechenmacher ebenfalls. In beiden Konfessionen und beiden Landesteilen galt, dass die Kirchen sich sehr für die deutsche Einheit einsetzten, vor allem die Protestanten. Der Protestantismus als Staatsreligion des (preußischen) Nationalstaats konnte nie von der Einheitsidee lassen. In der BRD war die Abendland-Idee besonders stark; man fühlte sich als Frontstaat gegen den Kommunismus und fand so problemlos Anschluss an den neuen Staat. Das wurde durch die nun erfolgende Integration in die Demokratie und die Aufgabe der vorherigen Äquidistanz erleichtert, die beide Kirchen entschieden in den demokratischen Konsens integrierte. In der DDR dagegen waren die Kirchen zu einem schwierigen Lavieren zwischen Unterwürfigkeit und Selbstbehauptung gezwungen. Um überhaupt bestehen zu können war eine weitgehende Kollaboration mit dem Regime notwendig, was einen sehr schwierigen Tanz darstellte. Sehr zum Unwillen der Christdemokraten entspannte sich das Verhältnis zum Ostblock mit dem Amtsantritt Johannes XIII. sehr. Für die Zeit nach der Wende konstituierte dies gleich noch eine Schulddebatte, der sich die Kirchen aber bis heute weitgehend entziehen.

Mindestens so schwierig wie das Verhältnis zum (geteilten) Staat war für die Kirchen das Thema gesellschaftlicher Wandel. In beiden deutschen Staaten taten sie sich schwer damit, die Modernisierung konstruktiv zu begleiten und relevant zu bleiben. Sie spürten ihren schleichenden Bedeutungsverlust, waren aber nicht in der Lage, etwa Harvey Cox und seiner These der "secular city" zu folgen, nach der die Kirchen ihren Frieden mit dieser Säkularisierung machen mussten. Zwar gab es eine innerkirchliche Modernisierung, aber diese betraf vor allem interne Organisationsstrukturen (es spricht nicht eben für die Kirchen, dass ihre Strukturen derart verkrustet waren, dass selbst diese harmlosen Schritte massiv umkämpft waren). Der offensichtlichste Wandel kam bei der Einstellung zum Judentum: anstatt es weiterhin als Feind zu betrachten, erfolgte hier eine nachhaltige Aussöhnung.

Wesentlich stärkere Autorität konnten die Kirchen, vor allem die protestantische, auf dem Feld von Krieg und Frieden entfalten: Beide Kirchen waren stark in die Friedensbewegungen eingebunden. Besonders die evangelische Kirche engagierte sich in den 1950er Jahren stark gegen die Wiederbewaffnung und war später bei der Friedensbewegung der 1980er Jahre vorne dabei. Dies war in der DDR problematischer als im Westen, weil das SED-Regime dieses Friedensengagement gegen alle Staaten (nicht nur das imperialistische Ausland) als staatskritisch wahrnahm. Das berühmte Logo "Schwerter zu Pflugscharen" etwa wurde nur von einem einzigen Bischof getragen, und er verstand das dezidiert als Widerstandssymbol. Die restlichen Kirchenautoritäten versuchten stets, den SED-Sensibilitäten entgegenzukommen.

Die Kirchen im Osten hätten jedoch ohne Transfers und Kontakte aus dem Westen nicht bestehen können. Die westlichen Kirchen finanzierten auf diskrete Art ihre östlichen Pendnants. Priester gingen Patenschaften mit ihren Kollegen im Osten ein und sandten ihnen Teile ihrer Bezüge oder Sachgeschenke, während die Kirchen selbst Subventionen zahlten. Dies half dabei, die Kirchenstrukturen über die gesamte Teilungszeit gesamtdeutsch zu halten und nach der Wende recht problemlos wieder zu fusionieren.

Das letzte Thema ist dann die deutsche Einheit. Entgegen der landläufigen Narrative lief diese nach Brechenmacher weitgehend ohne die Kirchen ab; die Rolle der protestantischen Kirche sieht er als überschätzt. Das macht Sinn, denn die Funktion als Konzentrationspunkt des Widerstands hatten die Kirchen ja gerade bewusst NICHT eingenommen, um im SED-Regime überlebensfähig zu sein. Sie konnten diesen daher auch in den kurzen Monaten 1989 nicht plötzlich übernehmen. Zwar begrüßten sie die Einheit und boten teilweise einen Schutzraum, aber sie waren keine treibenden Kräfte. Ein ironisches Informationsnugget war für mich, dass die Einheit für einen weiteren massiven Rückgang der Konfessionalisierten sorgte, weil in der DDR nun die Kirchensteuer durch den Staat eingetrieben wurde und nicht mehr freiwillig war, weswegen eine wahre Austrittswelle in den neuen Bundesländern erfolgte.

Zum Abschluss gibt Brechenmacher einen kurzen Ausblick auf die Zukunft. Er hat wenig Hoffnung auf einen neuen Bedeutungsgewinn der Kirchen und eine Umkehr der Säkularisierung. Zwar versucht er einige Lichtblicke für die Kirchen zu finden, aber das Rückzugsgefecht, das diese "im Sog der Säkularisierung" seit 1945 führen macht keine Anstalten, sich in eine neue Offensive zu verwandeln.

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