Anmerkung: Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher und Zeitschriften bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Darüber hinaus höre ich eine Menge Podcasts, die ich hier zentral bespreche, und lese viele Artikel, die ich ausschnittsweise im Vermischten kommentiere. Ich erhebe weder Anspruch auf vollständige Inhaltsangaben noch darauf, vollwertige Rezensionen zu schreiben, sondern lege Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken. Wenn bei einem Titel sowohl die englische als auch die deutsche Version angegeben sind, habe ich die jeweils erstgenannte gelesen und beziehe mich darauf. In vielen Fällen wurden die Bücher als Hörbücher konsumiert; dies ist nicht extra vermerkt. Viele Rezensionen sind bereits als Einzel-Artikel erschienen und werden hier zusammengefasst.
Diesen Monat in Büchern: Erschöpfung, Mussolini, US-Dominanz, Schule, Deutschunterricht, Erzhlende Affen, Plattformen, Schicksal
Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: -
Bücher
Franziska Schutzbach – Die Erschöpfung der Frauen: Wider die weibliche Verfügbarkeit
Der Titel dieses Buches mag für die eine oder ander gerunzelte Stirn sorgen. „Wider die weibliche Verfügbarkeit“? Was ist damit gemeint? Franziska Schutzbach bietet in ihrem bemerkenswerten Buch die These an, dass die Frauen unter einer kollektiven Erschöpfung leiden, die Folge der von ihnen erwarteten, eingeforderten und auch bereitgestellten ständigen Verfügbarkeit sei. Sie wendet sich gegen diese Verfügbarkeit, sowohl in dem Sinne, dass Frauen aufhören müssten, sich selbst ständig verfügbar zu machen, als auch von den Männern im Speziellen und der Gesellschaft im Allgemeinen, dass sie aufhören möge, diese ständig einzufordern. Das Buch ist lose in sieben große Kapitel gegliedert, die von der Autorin aus problemlos getrennt voneinander gelesen werden können; sie spricht von einer „essayistischen Struktur“. Es enthebt sie auch der lästigen Pflicht, dem Ganzen einen übergeordneten Roten Faden zu verpassen, aber das tut der Qualität der in den Kapiteln enthaltenen Gedanken glücklicherweise keinen Abbruch.
Der erste von Schutzbach besprochene Erschöpfungsfaktor ist zugleich der, der durch #Aufschrei und #MeToo der vermutlich einer breiten Öffentlichkeit bekannteste ist: die ständige sexuelle Verfügbarkeit. Es besteht eine leider besonders unter Männern weit verbreitete Erwartung weiblicher sexueller Verfügbarkeit, die sich weit über den eigentlichen Geschlechtsakt hinaus erstreckt. Schutzbach behauptet natürlich nicht, dass jeder Mann ein potenzieller Vergewaltiger ist, der nur durch massive Sanktionsdrohung von seinem Tun abgehalten wird (generell hält sie sich mit solchem biologistisch-determinstischem Blödsinn, der davon ausgeht, Männer seien eben genetisch auf solches Verhalten programmiert, wie er gerne von rechter Seite („locker-room talk“ etc.) propagiert wird, nicht auf).
Ihr geht es stattdessen um Phänomen wie die das Catcalling, also dem Hinterherpfeifen, auf den Po schlagen oder Zurufen anzüglicher Kommentare. Es gibt massenhaft soziale Experimente, die belegen, wie verbreitet dieses Verhalten immer noch ist (falls man den millionenfachen Aussagen der Frauen selbst keinen Glauben schenkt). Schutzbach beschreibt eindrücklich, wie kräftezehrend es ist, sich damit auseinanderzusetzen, weil Frauen dieses Verhalten zur Vermeidung von Konflikten und, leider, Gefahr oft einfach ertragen und weglächeln.
Gleiches gilt für Belästigung. Allzu oft ignorieren Männer die nonverbalen Signale von Frauen, nicht an einer Kontaktaufnahme interessiert zu sein und setzen sich über deren Grenzen hinweg. Auch hier stehen sie stets vor der Wahl, entweder gute Miene zum bösen Spiel zu machen, in der Hoffnung, das Problem erledige sich schnell von selbst, oder aber einen Streit und wiederum gegebenenfalls Gefahr zu provozieren. Denn leider reagieren Männer immer wieder gewalttätig, wenn sie die Aufmerksamkeit nicht bekommen, von der sie überzeugt scheinen, dass sie ihnen zustehe. Diese Verfügbarkeitserwartung geht so weit, dass viele Frauen schlechten Sex in Kauf nehmen, um die Erwartungen von miesen Dates nicht zu enttäuschen. Diese ständige sexuelle Verfügbarkeit erschöpft.
Der zweite Faktor ist die Frage des Selbstwertgefühls. Die in der Gesellschaft fest eingebaute Minderwertigkeit von Frauen gegenüber Männern wird von Schutzbach historisch anhand der Frauenbilder seit der Aufklärung aufgearbeitet. Diese Minderwertigkeit sorgt nicht nur für Doppelstandards, unter denen Frauen leiden, sondern bewirkt auch, dass sie – analog übrigens zu Migrant*innen – einem höheren Perfektionsdruck unterliegen, wenn sie die gleichen Stellungen erreichen wollen wie Männer. Diesem Perfektionsdrang fühlen sich viele Frauen unterworfen. Die Widersprüchlichkeit von Erwartungen an Frauen – einerseits unfaire Perfektionsstandards, andererseits Minderwertigkeit – erschöpfen sie konstant. Viele Frauen reagieren darauf mit einem Rückzug in die häusliche Sphäre und identifizieren sich über die Hausarbeit, nur um dort dann ebenfalls Perfektionsdrang zu unterliegen.
Der dritte Erschöpfungsfaktor besteht aus den Widerständen gegen Aktivismus. Frauen, die versuchen ihre Situation zu verbessern und für eine gerechtere Gesellschaft einzutreten, müssen gegen starke Widerstände eintreten. Es entsteht eine Erschöpfung durch den Dauerkampf. Das liegt nicht nur an den Anstrengungen dieses Kampfes selbst, denn die tragen selbstverständlich alle, die für bessere Umstände eintreten. Schutzbach streicht besonders die permanente Delegitimierung dieses Kampfes durch Inhaber von Privilegien heraus, was natürlich direkt mit Faktor zwei verbunden ist.
Besonders relevant fand ich die Betonung der Rolle der selbst ernannten „Leistungseliten“, überwiegend (aber nicht ausschließlich!) ältere weiße Männer. Diese sind der Überzeugung, ihre privilegierte Stellung komplett eigener Anstrengung zu verdanken und bekämpfen Gleichstellungsmaßnahmen mit besonderem Nachdruck. Schutzbach führt dies näher aus, aber diese Diskussion hatten wir hier im Blog schon so oft, dass ich die Argumente als bekannt voraussetze.
Faktor vier der Erschöpfung ist einer, bei dem meine zwangsläufig männliche Sichtweise und ihre Beschränkung – ich habe keinerlei Erfahrung mit weiblicher Selbstwahrnehmung und kann die auch nicht haben – besonders durschlägt: die Körperscham. Schutzbach beschreibt einen unglaublichen Druck zu körperlicher Konformität, der auf Frauen lastet. Grundsätzlich ist das Phänomen hinreichend bekannt; die Schönheitsstandards an Frauen sind allgegenwärtiger und fordernder, als sie dies bei Männern sind (wobei sie hier auch zugenommen haben; wir streifen das Thema im Podcast). Dass das psychisch sehr belastend ist hört man ja aber seit langer Zeit einerseits in der Debatte um Pubertierende und Körperbilder, aber zunehmend auch, wenn es um die in der Werbung verwendeten Models geht.
Faktor fünf betirfft die Familien. Bei diesem Thema verlässt Schutzbach die allgemein bekannte Diskussion in meinen Augen am stärksten, schon alleine, weil sie explizit die stark gewachsene Belastung auch auf Männer thematisiert und zu einem Generalangriff auf gesellschaftliche Erwartungen an Familien ausholt. Sie betont stark den Druck, unter dem die moderne Kleinfamilie steht. Der Hauptgrund hierfür liegt ihrer Ansicht nach in den Ansprüchen an Perfektion bei der Kindeserziehung, der, erneut, auch auf Männern lastet.
Der Hauptgrund hierfür sei, dass die Kinder mittlerweile absolut im Mittelpunkt stünden. Die Eltern verschwänden demgegenüber fast vollständig, kommen als Subjekte praktisch nicht mehr vor, weil ihre eigenen Interessen delegitimiert und komplett den Bedürfnissen der Kinder untergeordnet würden. Man erkennt in diesem Angriff auf den Mythos der Kernfamilie deutliche Anknüpfungspunkte zu konservativer Gegenwartskritik über die Verweichlichung der „Jugend von heute“. Zumindest empirisch lässt sich das problemlos nachweisen: Kinder und Jugendliche haben so viel Geld und Freizeit zur Verfügung wie noch nie zuvor, während gleichzeitig praktisch keine Pflichten auf ihnen lasten (Kinderarbeit ist praktisch abgeschafft, und in der Hausarbeit sind sie immer weniger eingebunden). Diese Ansprüche fressen Eltern auf und erschöpfen sie nachhaltig.
Der sechste Faktor dagegen ist geradezu prototypisch weiblich und wird ausschließlich als Frauen identifizierenden Menschen aufgebürdet. Es geht um emotionale Verfügbarkeit und letztlich emotionale Ausbeutung. Denn Frauen wird, beileibe nicht nur in der Familie, sondern auch am Arbeitsplatz, der Löwenanteil emotionaler Arbeit aufgebürdet. Ihnen obliegt die Verantwortung, für Harmonie zu sorgen und die Gefühle ihres Gegenübers nicht nur zu berücksichtigen, sondern ihnen oftmals auch die höhere Gewichtung einzuräumen. Schutzbach fordert klar, dass Frauen hier das Recht einfordern, ihr eigenes emotionales Befinden einerseits und ihre emotionalen Ressourcen andererseits selbstbestimmter an erste Stelle setzen zu können, wie dies für Männer selbstverständlich ist.
Wie auch beim Thema Körperscham kann ich hier nur aus der privilegierten Perspektive antworten, aber zumindest in meiner Lebensrealität trifft dies zu, und diverse von Schutzbachs Vorwürfen trafen. So liegt die Verantwortung für den Kontakt mit der Verwandtschaft, auch mit meiner eigenen, hauptsächlich bei meiner Frau. Ich bin super schlecht darin, wie sehr viele Männer, aber das ist eben – erneut – kein biologisches Schicksal. Frauen sind nicht durch Geburt besser darin, sondern bekommen es beigebracht, wie Schutzbach sehr schön herausarbeitet. Das passiert bei Männern einfach nicht, weswegen wir uns da oft sehr gut heraushalten können.
Der siebte und letzte Faktor ist einer, über den ich hier oft geschrieben und auch im Podcast gesprochen habe: die Verteilung der Care-Arbeit und der damit einhergehende Effekt auf die Karrierechancen. Auch diese Argumente sind Lesenden dieses Blogs sehr geläufig, weswegen ich sie an der Stelle gar nicht groß wiederkäuen will: auf Frauen lastet das hauptsächliche Gewicht der Hausarbeit, wir sind immer noch weit von einer Gleichverteilung entfernt, und wenn Frauen in die Erwerbsarbeit gehen, müssen sie die Care-Arbeit weiterhin erledigen, was einer Doppelbelastung gleichkommt. Schutzbach hat auch die entsprechenden Statistiken parat; das Missverhältnis ist wirklich erschreckend.
Beachtenswert finde ich, dass Schutzbach in ihrem Buch einer Falle sehr reflektiert und geschickt ausweicht, indem sie die Erfahrungen von Frauen aus der Mittelschicht absolut stellt. Stattdessen achtet sie jederzeit darauf, unterschiedliche Lebenswirklichkeiten zu berücksichtigen. Intersektionalität durchzieht das ganze Buch. Schutzbach vergleicht die Belastungen zwischen Frauen aus prekäreren Schichten mit denen der Mittelschichten bis hin zur Oberschicht, sie bezieht die Probleme von Migrantinnen und Menschen mit vom mitteleuropäischen Standard abweichendem Aussehen mit ein und sorgt stets dafür, dass ein facettenreiches Bild entsteht.
Meine Besprechung dürfte deutlich gemacht haben, dass ich das Buch rundum für gelungen und der Lektüre wert erachte.
Stephen Wertheim – Tomorrow, the world. The birth of US supremacy
Seit der sakralisierten Warnung George Washingtons am Ende seiner Amtszeit, Amerika solle sich aus „entangling alliances“ und Europa heraushalten, betrieb das Land eine isolationistische Außenpolitik. Am Ersten Weltkrieg nahm es gezwungenermaßen teil, und als die Vision des Völkerbunds scheiterte, zog sich die Nation auf sich selbst zurück. Erst der Angriff von Pearl Harbor zwang die USA in den Zweiten Weltkrieg und legte den Grundstein für die folgende Dominanz als Supermacht. Dieses Narrativ ist hinreichend bekannt – und falsch, wenn man Stephen Wertheim Glauben schenken darf. Er argumentiert in „Tomorrow, the world“ viel mehr, dass die USA Anfang der 1940er Jahre auf einem bewussten Kurs waren, die Weltherrschaft anzustreben. Das klingt nach einem Buch, das im Compact-Magazin empfohlen wird, aber dieser Eindruck täuscht. Wertheim zeichnet keine Verschwörungstheorie auf; vielmehr zeichnet er nach, wie sich die strategischen Debatten in den USA in diesen entscheidenden Monaten änderten und auf welchen Prämissen sie basierten. Das Resultat ist sehr erhellend.
Wertheims zentrale These ist dabei, dass eine falsche Dichothomie zwischen Internationalisten und Isolationisten besteht. Er erklärt, dass dieses Narrativ, wie ich es eingangs auch zitiert habe, unhistorisch sei. Vielmehr seien die US-Außenpolitiker schon lange internationalistisch gewesen; die Idee eines „Isolationismus“ sei eine Erfindung. Ein sicher entscheidender Beleg: Der Begriff taucht erstmals 1939 auf. Wertheim skizziert den Rahmen für diese These direkt zu Beginn des Buches und schlägt den Bogen von der eigentlichen Entscheidung der USA hin zu einer internationalistischen – und auch imperialstischen – Außenpolitik im Jahr 1898. Wenn die Geschichte jener Zeit, in der die US Marines „from the halls of Montezuma to the shores of Tripoli“ die Interessen der Großindustrie mit Gewalt durchsetzten auffrischen will, sei auf Jonathan Katz‘ „Gangsters of Capitalism“ verwiesen, das ich hier rezensiert habe.
Aber im Jahr 1919, als Woodrow Wilson als erster amerikanischer Präsident nach Europa reiste, um entscheidend an den Friedensverhandlungen von Versailles teilzunehmen, waren in Wertheims Lesart alle Internationalisten. Vereinigt war das amerikanische außenpolitische Establishment in seinem Wunsch nach einer „rules-based world order„, also effektiv einer Erweiterung des (nationalen) Rechtsstaatsgedankens auf die ganze Welt. Der Streit drehte sich um die Frage, wie das erreicht werden solle. Während Wilson und andere Völkerbund-Anhänger ihr Vertrauen in eine anglosächsische Übereinkunft legten, die durch die Macht der öffentlichen Meinung funktionieren und mit modernem Militär (sprich: Marine und Luftwaffe und spezialisierten Eingreiftruppen) als Weltpolizei agieren würden, waren die Kritiker davon überzeugt, dass Wilson die Macht der US unterschätzte – sie waren der Überzeugung, es brauche überhaupt kein Militär oder einen Völkerbund, weil die Macht der öffentlichen Meinung andererseits und die wirtschaftliche Lage andererseits bereits abschreckend genug seien. Ich erinnere an dieser Stelle an die parallele Diskussion in Nicholas Mulders „The Economic Weapon„, das ich hier rezensiert habe, über eben diese Möglichkeit. In Wertheims Buch spielt sie keine große weitere Rolle außer einem „was wäre wenn“, aber diese Strömung Internationalisten fordert immer wieder eine Beschränkung auf die technokratischen Funktionen des Völkerbunds.
Wertheim wendet sich indessen einem anderen Narrativ zu, das er als komplett falsch identifiziert und das er minutiös auseinandernimmt: die Idee von Pearl Harbor als Wendepunkt. Entscheidend ist für Wertheim vielmehr der Fall Frankreichs anderthalb Jahre zuvor. Zu Kriegsbeginn 1939 gab es keinerlei Interesse, aktiv in den Krieg einzugreifen; die amerikanischen Außenpolitiker debattierten sogar, ob ein zu schneller Sieg Großbritanniens dieses über Gebühr stärken würde. Eine Schwächung Europas in einem europäischen Krieg erschien den USA als vorteilhaft. Für sie war das Ergebnis klar: die Vereinigten Staaten würden profitieren, weil sie nicht gezwungen waren, wertvolle Ressourcen in einen dummen Krieg zu investieren.
Diese Rechnung änderte sich durch den schnellen Fall Frankreichs, der wie Wertheim immer wieder betont stärksten Militärmacht ihrer Zeit. Die USA sehen sich nun plötzlich bedroht; nicht physisch oder vom Niveau ihres Wohlstand her, sondern von den Möglichkeiten ihres Einflusses und der potenziellen „power projection“ sowie ihren zukünftigen ökonomischen Möglichkeiten. Eine Eroberung Großbritanniens durch Nazideutschland oder zumindest ein für die Alliierten sehr nachteiliger Friede schienen realistische, ja, wahrscheinlich Ergebnisse der kommenden Wochen und Monate. Dies führte zu einem radikalen Mentalitätswandel in den außenpolitischen Eliten: eine nazidominierte Welt ist inkompatibel mit liberalen Werten und muss folgerichtig bekämpft werden.
Innerhalb der amerikanischen Außenpolitik entstand jetzt intern ein Streit darüber, ob die Sicherung der eigenen Hemisphäre ausreichend sein konnte beziehungsweise ob man in einer ökonomischen Blockbildung existieren könnte – in diesem Fall mit Großbritannien gegen ein deutsches Kontinentaleuropa („Großraumwirtschaft“, in der Sprache der Nazis). Auffällig ist, dass die UdSSR in diesen Plänen überhaupt keine Rolle spielte. Das Land war an den Welthandel praktisch nicht angebunden und war deswegen für die Art von Einflusssphärendenken, wie es in den USA (und auch in Deutschland, wenngleich Wertheim sich für die parallele deutsche Debatte überhaupt nicht interessiert; dafür wären Brendan Simms und Charlie Ladermanns „Hitler’s American Gamble“ die richtige Lektüre) vorherrschend war, praktisch irrelevant. Auch seine militärische Bedeutung wurde deutlich unterschätzt, wie wir weiter unten noch sehen werden.
In den USA schossen in jener Zeit die Thinktanks wie Pilze aus dem Boden, die sich alle mit dieser Thematik beschäftigten und sowohl Policy- als auch Strategiepapiere am laufenden Band erstellten. Sogar ein Dachverband wurde zur Koordinierung gegründet. Das lag auch an der dünnen Personaldecke des Außenministeriums, das überhaupt nicht darauf eingerichtet war, solche Debatten zu führen.Ich habe keine Schlussfolgerung aus dieser Beobachtung, aber der Unterschied zu den europäischen Staaten, wo solche Aufgaben eigentlich ausschließlich bei der Ministerialbürokratie lagen, ist bemerkenswert.
Die strategischen Überlegungen nach dem Fall Frankreichs folgten einer eigenen, unausweichlichen Logik. Sie begannen mit einer Diskussion über eine mögliche Konsolidierung der eigenen Hemisphäre, gewissermaßen Monroe-Doktrin 2.0. Die Rohstoffbasis wurde als ausreichend erachtet – der amerikanische Doppelkontinent bot auf dem Stand 1940 alle Ressourcen, die eine voll entwickelte Volkswirtschaft benötigte – und konnten durch Ausfuhren von Exportgütern auch problemlos bezahlt werden. Es war das Problem des Marktzugangs, das die Planer weiter Länder in diese „amerikanische Sphäre“ einbeziehen ließ, vor allem in Asien (ironischerweise schlossen alle diese Überlegungen einer amerikanisch dominierten Wirtschaftssphäre Japan mit ein; der Instelstaat wurde als Bedrohung nicht ernstgenommen, anders als Deutschland).
Nur, diese Ausbreitung einer amerikanischen liberalen Wirtschaftssphäre gegen die totalitäre geschlossene Großraumwirtschaft Deutschlands erforderte ein Weiterbestehen des britischen Empire, und gerade das stand ja in Frage. Das Empire war in allen amerikanischen strategischen Überlegungen vor dem Sommer 1940 das Herzstück jeder Strategie gewesen; auf seine Navy und Militärmacht, seine Garantie eines liberalen Systems hatten die USA sich stets verlassen, ob 1914 oder 1922. Die USA hatten kein Interesse daran, Großbritannien in dieser Rolle zu beerben. Aber der Fall Frankreichs änderte alles. Letztlich erreichten die Planer nach mehreren Monaten des Durchrechnens, Kalkulierens und Planspiele Veranstaltens die Schlussfolgerung, dass ein deutsches Europa die Dominanz der restlichen Welt erfordern würde, um den Liberalismus zu retten (der in Vorwegnahme der Dominotheorie durch beständige deutsche Einflussnahme im Rest der Welt gefährdet wäre). Es war im Endeffekt das Szenario eines Kalten Kriegs gegen Deutschland, mit gigantischem, globalem und permanentem Militäraufwand. Gegenüber dieser unattraktiven Alternative erschien der direkte Kampf gegen Deutschland als das kleinere Übel.
Parallel zu dieser Einsicht in der außenpolitischen Elite vollzog sich in der Bevölkerung zwischen Ende 1940 und Mitte 1941 ein massiver Meinungsumschwung. Hatte Roosevelt seine erste große Hilfe an Großbritannien, den „Destroyer-for-Bases-Deal“ noch als executive order am Kongress vorbei initiiert, gab es für die wohl entscheidenste policy des Krieges, das Lend-Lease-Abkommen, eine gewaltige Mehrheit im Kongress. Roosevelt hatte darauf gewettet, mit Lend-Lease die Nicht-Interventionisten (die, das sei noch einmal betont, keine Isolationisten waren) ans Licht zu ziehen und öffentlich zu desavouiren, und es gelang ihm. Die USA waren nun offiziell nicht mehr neutral, sondern „non belligerent„. Wenn es nach Roosevelt ginge, konnte es auch dabei bleiben. Ein amerikanischer Eintritt in den Krieg wurde von niemandem gewünscht; die Bewaffnung Großbritanniens und seine Nutzung als Hauptgegner Deutschlands schien ausreichend, um die eigenen Ziele zu erfüllen. In der Zwischenzeit konnte man andere dringende Fragen klären.
Denn ein Dilemma blieb: welche Ordnungsform sollte nach dem Krieg herrschen? Die Nicht-Interventionisten fürchteten einen permanenten Kriegszustand, in dem die USA weltweit permanent ihr Militär in die Wagschale werfen mussten, um lokale Aggressoren zu unterdrücken. Den Interventionisten dagegen schwebte eine Weltordnung der gemeinsamen Weltpolizei von Großbritannien und USA vor, die die liberale Weltordnung durchsetzten. In beiden Szenarien blieben internationale Organisation demgegenüber weit zurück. Die Idee der öffentlichen Meinung als Treiber von Frieden wurde komplett ad acta gelegt. In Wertheimers Worten: „peace cannot be won by incantation, only by force„. Die Interventionisten dachten an eine weitgehende Abrüstung. Frankreich war ohnehin entwaffnet; Deutschland und Japan würden es nach dem Krieg sein. Damit blieben das UK und die USA die einzig relevanten Militärmächte, die dann den Pax Democratia durchsetzen könnten. In diesen Monaten war die Anglophilie in den USA auf dem Höhepunkt; der Kongress verabschiedete sogar ein Gesetz, das es allen weißen englischsprachigen Menschen ermöglichte, frei in die USA zu reisen und sich niederzulassen, gewissermaßen ein rassistisches angelsächsisches Schengen. Diese Anglophilie würde sich in den kommenden Monaten wieder abkühlen.
Außen vor blieb in all diesen Planungen die UdSSR. Wie bereits erwähnt war sie irrelevant für den Welthandel und damit für eine liberale Ordnung. Sie war militärisch neutral und wirtschaftlich an Deutschland angebunden und schien nach dem Angriff vom Juni 1941 auch bald Deutschland anheim zu fallen. Zentral für alle Überlegungen war Westeuropa; auch die Pazifikregion wurde demgegenüber ab Dezember 1941 defensiv betrachtet. „Germany first“ lautete die strategische Parole; Japan sollte danach folgen. Es ist ein Beleg für die enorme amerikanische Stärke, dass die Nation sich letztlich nicht zwischen den Optionen entscheiden musste und beide Gegner fast zeitgleich niederzuringen in der Lage war.
Mit jeder Woche, in der die amerikanische Industrie sich auf Kriegswirtschaft umrüstete – immer noch mit dem Ziel einer Bewaffnung Großbritanniens – emanzipierte sich das strategische Denken der Amerikaner mehr von der Vorstellung britischer Ordnungskräfte. Auch die öffentliche Meinung in den USA selbst spielte hierbei eine große Rolle. Weder konnte man die imperialistischen Briten – in bemerkenswerter kognitiver Dissonanz lehnte man das britische Kolonialreich ab, ohne das eigene je anzuerkennen – weiterhin diese Rolle spielen lassen, noch war es möglich, nackte amerikanische Weltherrschaft anzustreben. Stattdessen brauchte es eine Weltorganisation, nicht aus praktischen, sondern aus politischen Gründen. Ohne Weltorganisation war amerikanische weltweite Dominanz der eigenen Bevölkerung nicht zu verkaufen, dessen waren sich die Außenpolitiker sicher.
In der anglophilen Ära bis Mitte 1941 wurde das noch in strikt angelsächsischer Kooperation gedacht; der Höhepunkt dieser Entwicklung ist die Atlantikcharta, die Wertheim zu Unrecht als direkten Vorläufer der UNO betrachtet sieht. Sie war in seiner Lesart vielmehr ein explizit bilateraler Versuch der Weltordnung. Doch die Ereignisse änderten das. Die abnehmende Bedeutung Großbritanniens einerseits und die massiv zunehmende Bedeutung der Sowjetunion andererseits machte andere Mechanismen notwendig. Parallel zum Fall Frankreichs sorgte der überraschende Widerstand der Sowjetunion im Winter 1941 für ein Umdenken in den amerikanischen Planungsstäben. Die Stärke der Sowjetunion machte sie nicht nur zu einem weiteren Hauptempfänger von Lend-Lease-Leistungen, sondern auch zu einem Eckpfeiler jeder zukünftigen Sicherheitsarchitektur.
Aus diesen Faktoren heraus entstand die Idee einer Weltorganisation mit Sicherheitsrat. Die Weltorganisation war explizit als machtlos konzipiert; sie sollte es den anderen Staaten ermöglichen, ihre Kritik an den USA und Großbritannien (sowie später der Sowjetunion, Frankreichs und China) zu äußern, aber diese Länder in keinster Art binden. Gleichzeitig würde die Vetokraft im Sicherheitsrat den größten Konstruktionsfehler des Völkerbunds beseitigen: die Möglichkeit, amerikanische Truppen gegen den Willen der USA zum Einsatz zu verpflichten. Zuletzt erklärten die amerikanischen Planer explizit, dass ein Veto im Sicherheitsrat die USA selbst nicht von Krieg zur Durchsetzung ihrer eigenen Interessen abhalten würde. Aus amerikanischer Sicht war die UNO ein Instrument zur Organisation und Verkleidung der amerikanischen Dominanz, nicht mehr. Keinesfalls glaubte man noch an die Macht der öffentlichen Meinung und Verhandlungen einerseits und weltweiten Koalitionen gegen Rechtsbrecher andererseits à la Völkerbund, um die liberale Weltordnung zu sichern.
Wertheim beendet sein Buch mit einer ziemlich ausufernden Debatte über die Relevanz der Isolationsmus-Diskussion. Noch einmal unternimmt er es, explizit aufzuzeigen, dass es so etwa wie „Isolationisten“ eigentlich nie gegeben hat. Es ist interessant, dass die außenpolitischen Eliten 1940ff. einen gigantischen Public-Relations-Kampf gegen den Isolationismus führten, obwohl sie explizit wussten, dass er nicht existierte – gedacht war das als Immunisierung für die Zeit nach dem Krieg, von dem sie zu Recht annahmen, dass er die Begeisterung der Amerikaner für Friedenssicherung US-Dominanz schnell erlahmen lassen würde. Auf diese Art wurde ein effektives, bis heute wirkmächtiges, aber ahistorisches Framing geschaffen: der Isolationismus war in dieser Lesart verantwortlich für das Desaster von Versailles und den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs; jeder, der gegen den Interventionismus war, stellte sich damit gegen den Frieden und war, in Wertheimers Antworten, „almost as bad as a communist„. In der epischen Breite, die diese Nachzeichnung der Debatten vor sich geht, ist sie aber etwas ermüdend.
Trotz dieses Relevanz-Abfalls am Ende des Buches war die Lektüre ungeheuer spannend. Das Buch hat einen sehr engen Fokus und ist deswegen sinnvoll eigentlich nur in Verbindung mit anderen Werken lesbar, die die Leerstellen füllen – und von denen gibt es viele. Wertheim beschäftigt sich etwa praktisch gar nicht mit der wirtschaftlichen Lage; er referenziert zwar die deutsche „Großraumwirtschaft“, Lend-Lease und so weiter, setzt aber deutlich voraus, dass diese bekannt sind. Hier schadet, besonders was das deutsch-amerikanische wirtschaftliche Verhältnis angeht, die Lektüre von Adam Toozes „Ökonomie der Zerstörung“ (hier von mir rezensiert) sicherlich nicht. Die Gefahr ist, Wertheims Darstellung als eine große amerikanische Verschwörung zur Weltherrschaft misszuverstehen. Die dahinterliegende strategische Logik ist nachvollziehbar, und Wertheims großer Verdienst hier ist zu zeigen, dass die Alternativen nicht in Isolationismus und Interventionismus bestanden, sondern in der Frage, wie groß die amerikanische Einflusssphäre künftig sein und wie sie gegen Bedrohungen von außen abgesichert werden sollte. Die USA handelten nicht aus der Güte ihres Herzens, aber ihre Dominanz würde wesentlich leichter erträglich und segensreicher sein als totalitäre Herrschaft.
Antonio Scurati – M – Son of the Century
Wir betrachten Mussolini und den italienischen Faschismus gerne aus der Perspektive seines Endes, als zur Farce gewordener Wurmfortsatz des ungleich zerstörerischen Nationalsozialismus. Eventuell bleibt der desaströse Griechenlandfeldzug von 1940 in Erinnerung, oder das völlige Versagen der italienischen Armee gegen die Briten in Nordafrika, das den Einsatz des Afrikakorps nötig machte. Das Bild aus deutscher Perspektive ist das eines inkompetenten, operettenhaften Staates. Vergessen wird darüber gerne, welche Anziehungskraft das faschistische Italien einmal hatte, und welch stilbildende Wirkung es besaß – gerade auch auf Hitler, aber auch auf viele andere rechte Regime jener Epoche. Es gab eine Zeit, in der Mussolini und sein Faschismus den Weg nach vorne zu weisen schienen, eine Zeit, in der sich Mussolini ohne allzuviel Lächerlichkeit als „Sohn des Jahrhunderts“ inszenieren konnte. Von dieser Phase zwischen 1919 und 1925, als der Faschismus erstmals die Macht errang und absicherte, handelt dieses Buch von Antonio Scurati, das gerade nicht umsonst Wellen schlägt – nicht nur wegen seines Inhalts, sondern auch wegen seiner Form.
Beworben wird „M – Son of the Century“, das nun in englischer Übersetzung vorliegt, als Roman. Zwar handelt es sich sicherlich nicht um ein klassisches Sachbuch, aber auch die Einschätzung als Roman kann ich so nicht teilen. Viel eher würde ich es als Collage bezeichnen, aber auch diese Einordnung zeigt nur die Einzigartigkeit von Scuratis Projekt auf. Der Wesenskern des Buches ist, dass es aus der Perspektive des Faschismus selbst erzählt wird. Protagonist der Geschichte ist Benito Mussolini selbst, wenngleich auch andere Personen schlaglichtartig ins Zentrum der Erzählung gerückt werden, und wir Lesenden sind entsprechend nahe bei ihm.
Für den italienischen Diktator funktioniert dies auch wesentlich besser, denn anders als Hitler ist er trotz allem erkennbar ein Mensch. Er bleibt begreifbar, wenn er sich aus dem Regierungspalast schleicht um im Hotel mit seiner Affäre Champagner zu schlürfen und die Nacht durchzuvögeln, oder wenn er in vulgärsten Ausdrücken vor sich hin flucht. Das macht ihn sicherlich nicht sympathisch, aber das ist auch nicht Scuratis Ziel. Ich kann mir nur nicht vorstellen, wie ein ähnliches Buchprojekt für Hitler aussehen sollte. Bei der Vorstellung alleine kräuseln sich die Zehennägel.
Wie gesagt handelt es sich aber auch keinen Roman; weder existiert ein klassisches Narrativ, noch gibt es so etwas wie direkte Rede. Stattdessen sprechen die Quellen, indem wir Auszüge aus Reden, Zeitungsartikeln, von Flugblättern und Parlamentssitzungen bekommen, während Scurati sie alle in eine übergeordnete Erzählung packt. So beschreibt Scurati etwa die Stimmung auf einer Versammlung Schwarzhemden, dringt in ihre Mentalität ein, bevor er uns Mussolinis Stimme über seine Rede hören lässt, um dann eine Art inneren Monologs Mussolinis zu schreiben, indem er das Geschehnis aus dessen Sicht reflektiert. Fiktion, sicherlich, aber eine metikulös in den Quellen und der Erforschung des Diktators grundierte.
Der Reiz dieses Vorgehens liegt darin, dass Scurati keine Deutung der Geschehnisse vornimmt, sondern den Aufstieg des Faschismus in dessen eigener Sprache, seinen eigenen Prämissen und seinen eigenen Deutungen schildert. Die Wertung, Einordnung und Analyse wird komplett den Lesenden überlassen, Scurati selbst nimmt sich als Autor praktisch völlig zurück. Das ist natürlich auch nur ein literarisches Stilmittel, aber es funktioniert hervorragend. Ich will den eigentlichen Inhalt des Werkes, die Geschichte, die hier erzählt wird, deswegen im Folgenden nun auch selbst einordnen. Die bisherige Erläuterung sollte deutlich gemacht haben, dass jede dieser Wertungen und Vergleiche meine eigene ist und nicht von Scurati stammt.
Die Geschichte beginnt mit dem eigentlichen Vater des italienischen Faschismus‘, dem Dichter Gabriele d’Annunzio, und der aus der Rückschau bizarren Obsession der italienischen Rechten mit der Hafenstadt Fiume (heute Rijeka, Kroatien). D’Annunzio erfand die faschistische Uniform, er erfand den faschistischen Geist, und der gab der Bewegung mit dem Kampf um Fiume den ersten Bezugspunkt. Er hatte, ebenso wie Mussolini (der darüber mit den Sozialisten brach) den Eintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg betrieben, unter anderem, um eben diese Stadt zu erobern (und den Rest der Adria, aber man wurde nach dem Desaster von Caporetto etwas bescheidener). Die faschistische Bewegung, die Mussolini seine neue Heimat bot, inszenierte sich dabei als eine moderne Bewegung, die dezidiert weder eine Partei war noch ein Programm besaß. Ausschlaggebend war allein die Handlung.
Damit setzte sie sich ebenso dezidiert wie bewusst von den Sozialisten ab, die praktisch die Definition von Programm und Partei waren. Wie später der Nationalsozialismus ist der Anti-Sozialismus ein wesentlicher ideologischer Pfeiler der neuen Bewegung. Aber während D’Annunzio sein Abenteuer in Fiume startet – aus dem sich Mussolini wohlweislich heraushält und das in einer krachenden Niederlage der Frühfaschisten enden wird – schlägt in Italien die Stunde der Sozialisten. Sie sind es, die angesichts der furchtbaren Lage die Kraft von morgen zu sein scheinen, nicht die Fachisten.
Darin sind die Sozialisten ein Spiegelbild der SPD. Über Jahrzehnte nährten sie die Hoffnung auf Revolution, schafften ein eigenes Milieu und übernahmen lokal, dann regional Verantwortung. Der nächste große Schritt ist die Machtübernahme im ganzen Land und dann, endlich, die Umsetzung lang gehegter Forderungen: fairere wirtschaftliche Verhältnisse, Gleichberechtigung aller Menschen, Abschaffung der Lohnsklaverei auf dem Land; das Übliche. Das Mittel: demokratische Wahlen. Rhetorisch allerdings schwingen die italienischen Sozialisten wie ihre deutschen Genoss*innen die Rede von der Revolution, selbstverständlich, ohne je danach zu handeln („Die Revolution kommt, aber nicht heute. Erleichterung. Sie kommt bestimmt morgen.“).
Die dritte politische Macht in der italienischen Triade sind die Liberalen. Scurati benutzt den Begriff in etwas ungewohnter Manier; er fasst darunter sämtliche Kräfte, die im alten republikanischen System funktionierten, von klassischen Unternehmervertretern zu den Parteien der Landbesitzern über die christlichen Populisten. Sie hatten das Land in wechselnden Koalitionen regiert und fürchteten nichts mehr als einen Verlust ihrer Pfrüne durch die Sozialisten.
Die Stimmung 1920 war giftig. Die Enttäuschung über die angesichts der hohen Kriegsverluste enttäuschenden Gebietsgewinne in Versailles, wo Fiume nicht gewonnen werden konnte, mündete in der Rede vom „vittoria mutilate“, dem „verstümmelten Frieden“, der Dolchstoßlegende Italiens. Die Arbeiter wollten nichts weniger, als erneut in gewalttätige militärische Abenteuer gezogen werden; sie verlangten nach greifbaren Früchten für ihre Opfer. Die Arditi dagegen, das italienische Äquivalent der deutschen Sturmtruppen, arbeitslos, nichts als Gewalt gewöhnt und von der Gesellschaft nicht mit der Bewunderung und dem Respekt begegnet, den sie zu verdienen glaubten, hassten eben diese Arbeiter mit Inbrunst. Die Vorlage, auf der Hitler seine SA gründen wird, ist offensichtlich.
Die Wahlen von 1920 ergaben eine klare Ablehnung der Faschisten. Sie gewannen kein einziges Mandat, nicht einmal ihr berühmtester Vertreter, Mussolini. Der erklärte die Wahl für irrelevant und behauptete, er habe sie eh nie ernstgenommen, aber wen glaubte er, überzeugen zu können? Das Ergebnis war ein Triumph der Sozialisten, die in den Regionen und im Parlament deutlich stärkste Kraft wurden. Und dann passierte: nichts. Die Massen standen bereit, und die sozialistischen Führer zögerten. Sie wollten keine Revolution, sie hofften auf Zusammenarbeit mit den liberalen Kräften im Parlament. Es war eine vergebliche Hoffnung.
Stattdessen eskalierte der Konflikt. Die Landbesitzer und Unternehmen versuchten, die alte Ordnung mit Gewalt zu erhalten und unterdrückten die Arbeiter. Diese reagierten mit einem Generalstreik – und riesiger Enttäuschung über ihre Parteiführung. Während die sozialistischen Parlamentarier von Ruhe und Ordnung sprachen und sich in Parlamentsdebatten übten, verübten die frustrierten Landarbeiter willkürliche Akte von Gewalt auf dem flachen Land. Für die Liberalen war das die Bestätigung, dass die Sozialisten den Umsturz, die Revolution planten.
Damit schlug die Stunde der Faschisten, die ohnehin nur allzugerne Straßenschlachten gegen politische Gegner schlugen. Sie inszenierten sich als Garanten der Ordnung, während sie in Wahrheit die Gewalt anheizen. Dabei verbreiteten sie den Mythos einer ehrlichen, ritterlichen und defensiven Gewalt, die sich gegen die ungeordnete, revolutionäre Gewalt der Sozialisten richte. In Wahrheit steckte hinter diesem Mythos aber die unausgesprochene, wenngleich wohl verstandene Garantie, dass sich diese Gewalt nicht gegen die Bourgoisie richten würde. Dies erlaubte ein Bündnis mit den liberalen Kräften – und vor allem ein Bündnis mit der Polizei und der Armee. Die Folge war ein Massaker an den Sozialisten, das der Niederschlagung der Revolution in Deutschland in nichts nachstand.
Nicht einmal ein halbes Jahr nach ihrem elektoralen Triumph standen die Sozialisten vor dem Untergang. Dergestalt mit einer Existenzbedrohung ausgesetzt, taten die Sozialisten, was Linke immer am besten können: sie spalteten sich. Wie auch in Deutschland und vielen anderen Ländern wurde eine kommunistische Partei gegründet, die sich eng mit Moskau verband – deren Revolution für die Kommunisten so inspirierend wie für die Liberalen erschreckend war. Und weil nichts schöner als eine Spaltung ist, spalteten sich auch die Sozialisten noch einmal; um der Ironie die Krone aufzusetzen, nannte sich die neueste Abspaltung „Sozialistische Einheitspartei“.
Das gleichzeitige Scheitern d’Annunzios und der mit ihm affiliierten Personen in Fiume indessen hatte Mussolinis Stellung in der faschistischen Bewegung – man verstand sich ja explizit nicht als Partei – gestärkt. Er versuchte, durch ein politisches Hasardeursspiel neue Handlungsspielräume zu gewinnen und schlug einen Friedensschluss mit den Sozialisten vor. Diese 180°-Wende war nur möglich, weil Mussolini es stets abgelehnt hatte, sich an irgendein Programm zu binden oder den Faschismus als Partei zu organisieren. Als dieses Manöver fehlschlug, vollzog er sofort eine weitere 180°-Wende und verkündete die Notwendigkeit, eine faschistische Partei zu gründen, mit klarer Hierarchie und Programm – mit ihm an der Spitze (und als Programm). Damit befriedete Mussolini den inneren Kampf der Faschisten, die sich untereinander zu bekämpfen begonnen hatten (sehr zum Vergnügen der Liberalen) und gab der Gewalt eine neue, produktivere Richtung: nach außen.
Damit hatten sich die politischen Verhältnisse auf den Kopf gestellt. Die vorherige Hinnahme der faschistischen Gewalt durch den liberalen Staat, solange sich diese gegen die Sozialisten richtete, hatte zwar die Linke als politischen Faktor quasi enthauptet. Sie hatte nun aber gleichzeitig auch jede Möglichkeit eben dieses liberalen Staates entfernt, sich gegen die faschistische Gewalt zu erwehren. Als die Liberalen versuchten, im Parlament ein antifaschistisches Bündnis gegen die wachsende Gefahr zu organisieren, verweigerten sich neben signifikanter Anteile der katholischen Populisten ausgerechnet die Sozialisten. Das war einerseits verständlich, denn die Liberalen arbeiteten gleichzeitig mit den Faschisten zusammen, um die Macht der Landarbeiter, die diese in der sozialistischen Hochphase 1919 erlangt hatten, wieder zu brechen, es war aber andererseits auch bemerkenswert kurzsichtig. Die Liberalen waren sicherlich der politische Gegner der Sozialisten; die Faschisten aber waren eine tödliche Bedrohung.
Die Liberalen vollzogen nun ihrerseits eine Kehrtwende. Sie nutzten massive ökonomische Gewalt gegen die Landbevölkerung, um diese zu brechen, indem sie die Regionen praktisch aushungerten. Die Faschisten verbündeten sich mit den Landbesitzern und schlugen die verzweifelten Proteste der Hungernden mit landlosen Streikbrechern und Arditi nieder; der Staat schaute dem gewalttätigen Treiben zu und schützt die faschistischen Schlägertruppen. Gleichzeitig betrieb Mussolini immer noch die Rhetorik von „defensiver Gewalt“. Dieses rhetorische Doppelspiel erlaubte es den Liberalen, sich mit Faschisten zu verbünden, ohne schlechtes Gewissen zu bekommen. Politisch war diese Vernichtung der sozialistischen Basis enorm erfolgreich. Von den Liberalen ausgehungert und von den Sozialisten nicht geschützt, wandte sich die Landbevölkerung, die noch 1919 den Sozialisten die Schlüssel zum Königreich auf dem Tablett serviert hatte, den Faschisten zu.
Die einzigen, die einer Regentschaft Mussolinis nun noch im Weg standen, waren die Liberalen. Diese taten ihm denselben Gefallen wie zuvor die Sozialisten: der liberale Staat beging Selbstmord durch einen internen Fraktionskampf. Alle Parteien wollten an die Macht, und sie alle glaubten, sich dazu Mussolinis bedienen zu können, dessen Arditi das Land in Terror versetzten – ein Terror, aus dem nur Mossilini es befreien zu können schien. Es war dasselbe Stockholm-Syndrom, das zehn Jahre später auch die deutsche Mittelschicht ergreifen würde. Mussolini indessen belog sie alle, nahm all ihre Angebote für Ministerien an. Sein Machtmittel, neben diesen Lügen, war die Drohung mit Gewalt beim gleichzeitigen Versprechen, eben diese Gewalt zu beenden. Die Liberalen schluckten diese Ambivalenz.
Im Herbst 1922 war es endlich soweit: das Land stand kurz vor einer Eruption der Gewalt. In allen Regionen machten sich Schwarzhemden ostentativ bereit für einen Marsch auf Rom, während Mussolini verkündete, keinen solchen zu planen, aber die einzige Rettung vor einem solchen zu sein. Putin wäre stolz auf diese kognitive Dissonanz gewesen. Am Ende knickte der liberale Staat ein; anstatt einen Ministerposten bot der König Mussolini das Premierministerium an. Die seit Tagen durchnässten, ausgehungerten und kranken Arditi durften eine erbarmungswürdige Parade durch Rom abhalten, die ihnen so peinlich war, dass sie mit eingezogenem Schwanz die Stadt wieder verlassen, die ihnen hinterherlachte. Es schien, als wäre die Rechnung der Liberalen aufgegangen und Mussolini eingehegt, als habe er die radikale Basis entmannt und befriedet.
Die Farce des „Marsch auf Rom“ war jedoch als Propandagelegenheit viel zu gut, als dass Mussolini sie sich entgehen lassen würde. Im Nachhinein monumentalisierte er sie und baute sie zu der Legende auf, die ein Jahr später einen Münchner Lokalhetzer namens Adolf Hitler zu der Idee bringen würde, in einem „Marsch auf Berlin“ die Republik zu vereinen. Genauso wie in München zeigte sich auch in Italien, dass es eine Sache war, wehrlose Sozialisten zu ermorden und eine ganz andere, dem Staat zu begegnen. Die Arditi verstanden die Machtverhältnisse nur eingeschränkt; in Bologna erlebten sie ein letztes Debakel, als sie auszogen, um die Sozialisten auf dem Land zu ermorden und von der Polizei gestoppt wurden. Eine Salve genügte, und die Arditi brachen, flüchten in Konfusion und wurden von den Sozialisten gestellt und ihrerseits ermordet.
Mussolini hatte keine solchen Illusionen. Er wusste, dass von Krieg sprechen und Krieg führen zwei unterschiedliche Dinge waren und die faschistischen Schlägertruppen keinen Tag echten Krieg überleben werden würden. Er unternahm etwas, das man aus deutscher Perspektive als eine Art „Gleichschaltung“ ohne Reichstagsbrand sehen könnte: Wie Hitler 1934 mit der SA musste er die Gewalt der Arditi einhegen und seine politischen Gegner kaltstellen. Zu diesem Zweck organisierte er die Arditi als Hilfspolizei des Staates (aus dessen Budget sie nun auch ausgerüstet wurden, zumindest ein wenig – das Geld ging komplett für Uniformen drauf, was angesichts der Unkontrollierbarkeit der Schlägertruppen wahrscheinlich auch besser so war) und hetzte sie ein letztes Mal auf die Sozialisten. Nun offiziell als staatliches Hilfsorgan drangen die Arditi in die sozialistischen Hochburgen vor und ermordeten jeden, der sich ihnen in den Weg stellte. Wo ernsthafte Gegenwehr drohte, halfen Polizei und/oder Militär aus.
Angesichts dieser Gewaltdrohung übten sich die Liberalen in derselben Selbstgleichschaltung wie ihre deutschen Pendants ein Jahrzehnt später und stimmten für Mussolinis nächstes großes Projekt: eine Wahlrechtsreform. Diese würde den Faschisten, die bisher kaum 10% der Abgeordneten stellten, eine satte Mehrheit bringen; gleichzeitig gab sie aber auch den liberalen Führungsfiguren sichere Mandate. Das reichte. Auch die Ausbreitung der Kontrolle auf immer mehr Bereiche wurde abgenickt. Ein neues Parlament ebnete dazu den Weg.
Doch die innenpolitische Energie erlahmte nach diesen ersten Maßnahmen, und die Arditi waren unruhig. Sie wollten Köpfe brechen, keine Gesetze verabschieden. In dieser Situation inszenierte Mussolini die Korfu-Krise mit Griechenland, um so die Energie nach außen zu lenken. Das gelang hervorragend; Italien wurde von einem nationalistischen Fieber ergriffen, und man jubelte den Marinesoldaten zu, die die kleine Mittelmeerinsel besetzen sollten. Es ist etwas merkwürdig, wie diese Episode schnell wieder aus dem Narrativ fällt; der innenpolitische, machtpolitisch orientierte Fokus des Buches schlägt hier vermutlich durch. Auch die Washingtoner Flottenkonferenz oder Rapallo finden praktisch keine Erwähnung.
Anders als in Nazi-Deutschland 1934 war Mussolinis Macht aber bei weitem nicht absolut. Er war Premierminister von des Königs Gnaden, und seine eigene Fraktion konnte ihn jederzeit absetzen. Er war als Duce des Faschismus nicht annähernd so unersetzlich für die Bewegung wie Hitler für den Nationalsozialismus; der alternde d’Annunzio etwa stand als potenzieller Anführer genauso zur Verfügung wie diverse interne Frenemies. Bereits 1924 geriet das Regime in eine schwere Krise. Die nicht nachlassende Gewalt der Arditi diente dem sozialistischen Frontmann Giacomo Matteotti als Mittel, die faschistische Gewaltherrschaft ständig im Parlament anzuprangern; die Zeitungen schrieben negative Artikel über die Gewalt. Noch konnte Mussolini sich rhetorisch distanzieren, aber ewig funktionierte dieser Trick nicht, und die Arditi akezptierten es nicht, für ihre Morde verhaftet und vor Gericht gestellt zu werden und forderten eine Generalamnestie.
Die Situation eskalierte, als Amerigo Dumini am hellichten Tag und auf offener Straße Metteoti ermordete. Die offene Gewalt war nicht mehr zu ignorieren und führte zur größten Krise des Regimes („100 schreckliche Tage“). Im Parlament wurden Mussolinis Befugnisse eingeschränkt, die Zeitungen druckten Rücktrittsforderungen. Doch der König hatte Angst vor der eigenen Courage und bestätigte Mussolini, der mit dem instinkt des Schlägers zum Gegenschlag der Faschisten ausholte; die Liberalen stimmen für die italienische Version des Ermächtigungsgesetzes, mit einer Begründung, die ungefähr so gut war wie „aber er hat Autobahnen gebaut“.
Als ob das Schicksal den Italienern etwas mitzuteilen hätte, verschärfte sich die Krise abermals: hatte Mussolini bisher behauptet, nichts mit Matteottis Verschwinden zu tun zu haben und ihn finden zu wollen, wurde nun seine Leiche entdeckt. Scharfe Kritik in der Presse, Demonstrationen vor allem der verbliebenen Sozialisten, Niederlagen im Parlament; gleichzeitig zunehmende Gewalt – das Regime befand sich in einer scheinbar tödlichen Abwärtsspirale. Alles, was es brauchte, war eine einzige Person, die bereit war, Mussolini und seine Getreuen vor dem Verfassungsgericht anzuklagen.
Genau das gab es nicht. Erneut bewies Mussolini den richtigen Instinkt. Matteotti hätte den Mut gehabt, doch seit seiner Ermordung war allen Parlamentariern das Hemd näher als der Rock. Mussolini roch Schwäche. Und er war ein grandioser Schauspieler. Er trat für das Parlament und fragte theatralisch, ob jemand ihn anklagen wolle. Als sich niemand meldete, klagte er sich selbst an – und sprach sich frei. Am Ende seiner Rede war er Diktator Italiens.
Eine der Sensationen des Sachbuchmarkts der letzten Monate ist „Erzählende Affen“ des Autor*innenenduos Samira El Ouassil und Friedemann Karig. Ich habe so viel Gutes darüber gehört, dass ich mich selbst vergewissern wollte, ob der Hype gerechtfertigt ist und welche Erkenntnisse sich aus dem Band ziehen lassen. Die Grundthese des Buches, dass das, was uns Menschen am meisten von Affen unterscheidet unsere Fähigkeit zum Geschichten erzählen ist und die anderen Kenntnisse und Errungenschaften quasi aus dieser Fertigkeit fließen, ist eine, die gerade von Antropolog*innen ebenfalls immer wieder genannt wird. Die Fähigkeit zur Kommunikation und vor allem der Schaffung von Gemeinschaften dürfte weit relevanter gewesen sein als das Aufheben des ersten Feuersteins. Diese zugegeben starke These, die bei den Vertretern der Gattung „Homo Faber“ sicherlich zu einigen Abwehrreaktionen gegen den Parvenü „Homo Narrans“ führen dürfte, wird im Verlauf des Buches einerseits entwickelt und andererseits in ihren Konsequenzen durchdekliniert.
El Ouassil und Karig strukturieren das Buch dabei anhand der so genannten „Heldenreise“ durch. Das Konzept des Literaturwissenschaftlers Joseph Campbells ist zwar bereits ziemlich in die Jahre gekommen und hat mittlerweile im englischsprachigen Raum nach einer wahren Blüte in den späten 2000er und frühen 2010er Jahren bereits wieder den Status erreicht, dass lauter revisionistische Bestrebungen seine Bedeutung und Anwendbarkeit relativieren; im deutschsprachigen Raum hat es leider, auch wegen der deutsche Hochnäsigkeit gegenüber „populären“ Stoffen, über die wir im Podcast auch geklagt hatten, leider immer noch Neuheitswert.
Aber zur Sache. Die Heldenreise ist ein Konzept, das vorgibt, eine übergeordnete narrative Theorie zu sein, nach der die Protagonisten (eigentlich fast immer männlich) der klassischen Sagen aller Kulturen eine sehr ähnliche, generische „Reise“ in ihrer Entwicklung durchmachen, eben die „Heldenreise“. Es gibt verschiedene Ausprägungen dieser Theorie, die sich im Detailgrad unterscheiden. El Ouassil und Karig nutzten eine aus 12 Stationen bestehende.
Die erste Station ist die „Gewohnte Welt“, beschreibt also den Ursprung. El Ouassil und Karik nutzten sie als Metapher für den Themenkomplex „Fremdbild – Selbstbild“. Jede Person hat ein Selbstbild von sich (ich etwa als furchtbar eloquenter, sympathischer Lehrer), während alle anderen, die mich kennen, ein Fremdbild von mir haben (furchtbar aufgeblasener Dampfplauderer). Wir erzählen uns stets selbst eine Geschichte – eine Geschichte von uns selbst. „Jeder ist der Held seiner eigenen Geschichte“ ist eine weitere der Erkenntnisse aus diesem Ansatz der narrativen Interpretation, und nirgendwo wird sie so deutlich wie darin, dass selbst Hitler überzeugt war, der Gute zu sein. Niemand glaubt, dass er oder sie aus Bösartigkeit handelt – man legt sich immer ein passendes Narrativ zurecht.
Wird dieses Narrativ in Frage gestellt, finden Abwehrreaktionen statt. Diesen begegnen wir permanent, die sind für unsere Selbstkonzeptionen entscheidend. Der Grund dafür, wie wir im „Ruf zum Abenteuer“ erfahren, ist eben die eingangs geäußerte These vom „Homo Narrans“. Menschen erzählen Geschichten und schaffen dadurch Gemeinschaft, aber vor allem erwerben sie jene Fähigkeiten, die ihnen erlauben werden, zur beherrschenden Spezies des Planeten zu werden. Leider kommt dieses Kapitel nicht ohne die mittlerweile schon beinahe üblichen Spekulationen über den Alltag der neolithischen Menschen aus, die gerne als Fakt präsentiert werden. Man sollte annehmen, dass bald 40 Jahre nach „Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken“ dieser Quatsch langsam mal gut sein könnte.
Zur Erzählung allerdings braucht man Sprache. Während der klassische Held sich der „Verweigerung des Rufs“ einhergibt und erst einmal die Herausforderung ablehnt, um bei dem zu bleiben, was er kennt, befassen sich El Ouassil und Karig mit der Macht der Sprache selbst. In diesem Kapitel erklären sie, warum Sprache eine solche Gewalt über uns ausübt, vor allem über die Assoziationen von Begriffen. Wir verbinden konkrete Begriffe mit dem, was Sprache erlaubt, was dann eine Art „Begegnung mit dem Mentor“ erlaubt – Geschichten, die aus einem einzigen Wort bestehen. Man denke nur an „Wiedervereinigung“, das für uns Deutsche nicht nur ein, sondern verschiedene Narrative beinhaltet: Vom Untergang des Kommunismus und der Bestätigung der Überlegenheit des „Westens“ zum Beginn eines langen Abstiegs, nur um zwei der populärsten zu nennen.
Mit diesen Ein-Wort-Narrativen verbunden sind Konzepte und Prämissen, die selten ausgesprochen sind, aber immer dem Ganzen zugrundeliegen. Machen wir uns nicht klar, dass diese Prämissen existieren, so werden wir einander auch nicht verstehen. Wir kommunizieren in einem Wettstreit der Narrative, und wenn wir nicht ehrlich genug sind, das einzugestehen (mein Favorit ist ja die völlig irrige Vorstellung von „Objektivität“), dann verstehen wir einander auch nicht. Das schlägt dann auch den Bogen zu den oben angesprochenen Identitätsfragen, die mit diesen Narrativen verbunden sind.
Hat der Held diese initialien Hindernisse hinter sich gebracht, steht das „Überschreiten der Schwelle“ an. Die große weite Welt, die sich nun vor uns erstreckt, ist unübersichtlich, neu und, zumindest aus der eigenen Perspektive, chaotisch. Es braucht also Narrative, mit denen wir Unterschiede erklären oder Unsicherheiten einordnen können. Ohne diese würde unser Gehirn vermutlich einfach abschalten. Irgendwann kommen wir über den Stand hinaus, dass unsere Eltern Halbgötter ohne Fehl sind und müssen diese entwickeln, und je älter wir werden, desto detaillierter werden unsere Narrative, mit denen wir die Welt erklären – die dann wiederum in Konkurrenz zueinander treten, weil niemals alle Menschen dieselbe Erklärung für dieselben Phänomene haben. Wer da die Religion um die Ecke lugen sieht liegt nicht falsch, aber das müssen wir noch ein Kapitel aufschieben.
Zuerst nämlich besteht der Held eine „Bewährungsprobe“ – und die Kraft von Sprache und Narrativ ebenfalls. In diesem Kapitel sprechen El Ouassil und Karig von der Macht einzelner Worte, die durch die Bedeutung, die wir ihnen geben, selbst Realität zu schaffen in der Lage sind. Ein Beispiel dafür ist etwa Ehe oder Taufe. Physikalisch ändert sich durch die Aussprache der entsprechenden Worte überhaupt nichts, aber wir messen ihnen ungeheure Bedeutung bei, die lebensverändern ist. Solche Prozesse haben wir, mehr oder weniger bedeutend, in unserem Leben permanent. Sprache bestimmt die Welt.
Im Ursprung von Narrativen, quasi beim „Vordringen in die tiefste Höhle“, stoßen wir dann auf die Religion als Urerzählung. Um die Welt zu erklären und die Macht der Worte und Rituale zu legitimieren, erzählten die Menschen sich religiöse Geschichten von Geistern und Gottheiten, die das Schicksal der Welt bestimmten – und damit auch unseres. Oft genug stehen wir Menschen als wichtigste Schöpfung jener Wesen dann im Mittelpunkt, was natürlich unserem Selbstbewusstsein sehr zugute kommt. El Ouassil und Karig geben in diesem Artikel zahlreiche Beispiele für solche religiösen Narrative, aber die Grundthese sollte außer Frage stehen: kein Narrativ war so langfristig erfolgreich wie das religiöse.
Den Preis für das zerstörerischste Narrativ dagegen, das sich selbst in einem „Entscheidungskampf“ imaginierte, war sicherlich das faschistische. Die bewusst anti-religiöse (und, wenn wir ehrlich sind, so ziemlich anti-Alles) Erzählung führte zu den verheerendsten Kriegen und Völkermorden, die die Menschheit je gesehen hat. El Ouassil und Karig untersuchen das recht ausführlich und sauber; was mir auffiel, ist aber die kuriose Leerstelle des Kommunismus. Auch hier handelt es sich um ein im 20. Jahrhundert extrem erfolgreiches Narrativ mit verheerender Wirkung, aber weder er noch sein netter Cousin Sozialismus werden diskutiert, was mir angesichts der Bedeutung und im Falle des Sozialismus (im internationaleren Sinne gefasst, der auch sozialdemokratische Ideen einbezieht) auch des Erfolgs beider Ideen merkwürdig erscheint.
Ich habe eingangs bereits festgestellt, dass der Held in diesen Narrativen praktisch durch die Bank männlich gedacht ist. Diese Leerstelle untersuchen El Ouassil und Karig in einem eigenen Kapitel zur „Belohnung und Ergreifen des Schwerts“. In einer erschreckenden Vielzahl von Narrativen gibt es praktisch keine Frauen, ein Phänomen, das sich bis in die Gegenwart zieht (der Bechdel-Test hat nicht umsonst traurige Berühmtheit erlangt). An dieser Stelle der Lektüre sollte die Bedeutung der Narrative für die Bildung der Realität hinreichend bekannt sein, so dass klar ist, warum diese Leerstelle bedeutsam ist. Die Autor*innen betrachten auch, wie Narrative Heteronormativität decken und reproduzieren. Wenig überraschend schreiben sie diesen Prägungen der Bedeutung von Narrativen zu, der ich mich problemlos anschließen kann.
Nach Bestehen seiner Abenteuer tritt der Held den „Rückweg“ an. Für die Autor*innen ist das die Synthese ihrer Erkenntnisse, was die Narrative zum Klimawandel betrifft. Die größte Herausforderung unserer Zeit ist narrativ notorisch schwer zu fassen, und die Gegner des Fortschritts sind sehr erfolgreich darin, ihre eigenen 1-Wort-Geschichten zu etablieren. Bereits spätestens seit den 1970er Jahren war den großen fossilen Energiefirmen, allen voran Exxon, die Gefährlichkeit des Klimawandels bewusst. In klassisch kapitalistischer Manier sahen sie darin vor allem eine Gefahr für sich selbst und begannen eine große Offensive der Gegenpropaganda. Sie unterdrückten Erkenntnisse, relativierten, untergruben die Autorität der Forschenden, sähten Zweifel und nutzten ganz prosaisch Lügen. Dazu etablierten sie erfolgreiche eigene Geschichten, etwa wenn sie das Konzept des CO2-Fußabdrucks pushten (für das BP einen Online-Rechner entwickelte), die die Verantwortung dem Individuum zuschoben und damit sehr erfolgreich jeden Wandel blockierten.
Die Erzählbarkeit des Klimawandels ist generell furchtbar problematisch. Das Konzept ist komplex, die Zeiträume lang, die Verantwortung des Individuums diffus. Die besten Aussichten sahen die Autor*innen in der #FridaysForFuture-Bewegung, die mit der Galionsfigur Greta Thunberg ein gerade maßgeschneidert ideales Aushängeschild besaß. Ich hielt bereits 2019 die symbolische Aufladung der FFF-Bewegung und Thunbergs für übertrieben (man denke nur an das Geschwätz von einer „Generation Thunberg“ und was des Unfugs nicht noch mehr war), und seit dem stetigen Abrutschen der Bewegung erscheint mir dieser Zweifel berechtigter denn je.
Im letzten Kapitel, für das ich die letzten Stationen der Heldenreise „Erneuerung/Verwandlung“ zusammenfassen möchte, wird ein Ausblick in zukünftige, progressive Geschichten gegeben. Wenig überraschend ist, dass sich die Autor*innen im progressiven Lager verorten und deswegen ein Interesse daran haben, dass es solche gibt. Sie fordern neue, bessere Ein-Wort-Geschichten und die Schaffung von neuen Utopien anstatt dem vorherrschenden Konservatismus. Dahinter kann ich mich durchaus stellen, allerdings bleibt das Kapitel (notwendig?) unspezifisch und diffus.
Sind die Lorbeeren für das Buch gerechtfertigt? Insgesamt denke ich ja, aber ich will über einige Schwächen nicht hinweggehen. Bereits angesprochen habe ich die teilweise veralteten Kenntnisse, etwa was Joseph Campell angeht, und das Einschleichen von narrativem Unfug über Urzeitmenschen (was gleich wieder, wenngleich unfreiwillig, die These von der Macht der Narrative bestätigt). Leider findet sich auch klassisch linker Unfug wie etwa das Narrativ vom homo oeconomicus, das dargestellt wird, als ob signifikante Bedeutung im Denken vieler Menschen mit ihm verknüpft sei. Aber das sind eher einzelne Ausrutscher. Als jemand, der bereits seit vielen Jahren auf die Bedeutung der Narrative pocht, tragen El Ouassil und Karig natürlich Eulen nach Athen. Aber ich habe die Lektüre genossen, und für Interessierte dürften sehr, sehr viele Kenntnisse zu gewinnen sein.
Michael Seemann – Die Macht der Plattformen. Politik im Zeitalter der Internetgiganten
Wer erinnert sich noch an Napster? Ich bin ehrlich gesagt zu jung dafür. Ich hatte damals noch keinen eigenen Internetanschluss; meine ersten illegalen MP3-Downloads liefen bereits über eMule (Gratulation, wem das noch was sagt). Aber für einen kurzen Zeitraum von knapp zwei Jahren sah es so aus, als würde die MP3-Tauschbörse Napster die Musikindustrie revolutionieren oder gar völlig zerstören. Es war eine Plattform, die wie aus dem Nichts eine Milliardenindustrie anging und eine ungemeine Marktmacht erlangte. Dann schlug die Musikindustrie zurück, klagte Napster in Grund und Boden und beseitigte sie. Für Michael Seemann ist die Geschichte von Napster gewissermaßen prototypisch für die Entwicklung von Plattformen. Da diese heute unser Leben zu guten Teilen mitbestimmten, macht es absolut Sinn, sich mit diesen zu beschäftigen. Und Seemanns Buch ist dafür ein sehr guter Startpunkt. Anhand Napster als narrativem roten Faden erklärt Seemann, was Plattformen überhaupt sind und wie sie funktionieren. Der Aufbau des Buches arbeitet sich dabei von außen nach innen, ist schön didaktisch und verständlich aufgebaut, aber generell anspruchsvoll: Seemann entwirft eine Theorie von dem, was Plattformen sind, und wie sie funktionieren, die für seine gesamte Argumentation zentral ist. Eingekocht könnte man seine Definition folgendermaßen auf ein Zitat herunterbrechen: „Plattformen vereinfachen unerwartete Interaktionsselektion, indem sie mittels Standardisierung auf der einen und algorithmischer Vorauswahl auf der anderen Seite die eigentlichen Selektionen vorbereiten.“
Plattformen werden von Seemann als Schnittstelle verstanden. Diese Schnittstelle ist notwendigerweise sehr technischer Natur, weswegen er einige Grundlagen schaffen muss. In diesem Teil des Buches erklärt er komprimiert die zentralen Abläufe von IP-Potokollen, ASCII-Code und Ähnlichem. Das ist ziemlich fordernd, vor allem, wenn man wie ich von diesem ganzen Kram so gut wie nichts versteht (mich überfordert ja meistens schon die WordPressinstallation hier). Der Vorteil ist, dass die Theorie so eine Grundlage schafft, auf der Seemann die Plattformen überhaupt diskutieren kann. Das mag merkwürdig klingen, aber wer ihm folgt stellt schnell fest, dass die bisherige Debatte an genau diesem Mangel an Theorie krankt, weil überhaupt nicht verstanden wird, mit was man es eigentlich zu tun hat.
Letztlich betrachtet Seemann die Plattformen aus einem Luhmann’schen Blickwinkel als eigenständige Systeme mit eigenen Regeln. Neben dem soziologischen Großmeister der Systemtheorie bedient er sich, vielleicht etwas überraschend, auch bei Carl Schmitt. Der Wegbereiter der NS-Juristerei eignet sich aber immer wieder, wenn man bösartige Systeme erklären will. Seemann umgeht das schier totgerittene Schmitt-Zitat von der Souveränität des Ausnahmezustands und springt stattdessen zu seiner Theorie der Landnahme: ein Nationalstaat wird effektiv zu einem solchen, weil er Territorium in Besitz nimmt und absolute Kontrolle darüber ausübt.
Das tun Plattformen natürlich nicht. Sie existieren im digitalen Raum, der quasi per Definition endlos ist. Hier gibt es kein (ebenso per Definition) endliches Land zu besetzen. Stattdessen geht es um etwas, das Seemann „Graphen“ nennt und das grob als Beziehungsmuster bezeichnet werden könnte; er redet hier von „Graphnahme“ (analog zu Carl Schmitts Landnahme): „Staaten beherrschen Territorien und organisieren Menschen darauf über den Zugriff auf ihre Körper. Plattformen hingegen beherrschen Graphen und organisieren Menschen über den Zugriff auf ihre Verbindungen.“
Soweit, so einleuchtend. Aber warum nutzen Menschen überhaupt Plattformen? Dies liegt laut Seemann einerseits an der geschickten Verbindung von Zwang und Freiwilligkeit als Grundprinzip. Zwar ist die Nutzung einer Plattform in der Theorie komplett freiwillig; niemand kann mich zwingen, bei Amazon einzukaufen oder WhatsApp zu benutzen. Aber gleichzeitig ist der Verzicht auf die Plattformnutzung mit so hohen Opportunitätskosten verbunden, dass sich für mich die Nicht-Nutzung häufig nicht als gangbare Alternative darstellt. Wenn alle meine Bekannten über WhatsApp kommunizieren, ich aber nicht, ist der Verzicht darauf häufig keine ernsthafte Option.
Gleichzeitig bedeutet dies, dass Plattformen vor allem durch Größe funktionieren. Ein Messengerdienst oder ein Soziales Netzwerk, auf dem nur 0,5% der Bevölkerung vertreten sind, ist nutzlos. Die Graphnahme einer neuen Plattform muss daher darauf angelegt sein, schnell Größe zu erreichen. Erfolgreiche Plattformen suchen sich daher einen Graphen, der bisher unerschlossen ist oder der bisher unzureichend konsolidiert ist (so dass ein Integrationsangriff gestartet werden kann). Amazons ursprüngliche Konzentration auf den Online-Buchhandel und die von dort ausgehende Erweiterung ist ein Beispiel; Napsters Graphnahme der Musikcommunity eine andere (bereits vergleichsweise wenige Nutzende garantieren einen annähernd vollständigen MP3-Katalog); Facebooks ursprüngliche Konzentration auf Studierende (das Netzwerk war bis 2010 technisch gesehen nur für Studierende offen!) eine dritte.
Andererseits liegt der Vorteil von Plattformen für die Nutzenden, der sie überhaupt erst in die Arme der Plattformen treibt, dass diese effizientes Handeln durch eine (algorithmische) Vorauswahl ermöglichen. Google funktioniert, weil es Suchergebnisse vorsortiert. Eine Suchmaschine, die das nicht tut, ist nutzlos. Facebook funktioniert unter anderem deswegen so gut, weil es den Nutzenden Kontakte vorschlägt, die diese kennen könnten – auf eine geradezu angstseinflößend effektive Art und Weise. Diese Vorauswahl bedeutet aber gleichzeitig einen Machtgewinn für die Plattform: wenn Google seine Suchergebnisse filtert, kann es Dinge verschweigen oder zahlenden Kunden Priorität geben.
Diese Vorauswahl ist meist technisch gesehen optional. Aber die Plattformen sorgen durch Nudging und Opt-out-Regelungen dafür, dass sie die bequemste und auch letztlich beste Option für die Nutzenden ist, so dass diese erstens kaum auffallen und zweitens schon allein aus Phlegmatismus üblicherweise nicht angetastet werden. Auf diese Art und Weise haben große Plattformen sich riesige Nutzendenstämme herausgebildet, die ihnen gewaltige Macht gegeben haben. Diese Macht ist titelgebend für das Buch und wird von Seemann weiter untersucht.
Er postuliert, dass die Plattformen durch ihre schiere Macht und Größe selbst politische Akteure sind. Er unterscheidet drei Felder, auf denen sie aktiv sind, indem er Plattformpolitik als Netzinnenpolitik, Netzaußenpolitik und Netzsicherheitspolitik definiert.
Netzinnenpolitik ist für ihn die interne Regulierung der Plattformen. Die Nutzungsbedingungen von Facebook etwa fallen darunter, Moderationsregeln von Twitter, Rückgabebedingungen von Amazon; die Netzinnenpolitik ist sozusagen das, womit die Nutzenden in ihrer täglichen Nutzungspraxis in Berührung kommen. Die Plattformen würden am liebsten nur Netzinnenpolitik betreiben; sie ist ihr eigentliches Kerngeschäft, und hier fangen sie auch alle an. Essenziell ist aber die Kontrolle, die sie ausüben. Das ist im Übrigen auch, was Napster vor Gericht das Genick brach: die Plattformen wissen grundsätzlich, was ihre Nutzenden treiben und haben Einsicht und, vor allem, Kontrolle darüber. Napster wurde nachgewiesen, dass sie wussten, was die Nutzenden austauschten, und dass sie es hätten unterbinden können (logisch, denn Napster wollte das ja monetarisieren). Dieses Wissen und die daraus resultierende Verantwortung (an der Stelle bitte passendes Spiderman-Zitat einfügen) sind für die Netzinnenpolitik zentral.
Von Anfang an war auch die Netzsicherheitspolitik dabei. Sie erklärt sich eigentlich von selbst: die Plattformen müssen sich gegen Attacken schützen – und ihre Nutzenden auch. Sonst könnten sie nicht existieren. Das ist ein digitaler Rüstungswettlauf. Die Netzaußenpolitik ist demgegenüber wesentlich jünger. Auf sie haben die Plattformen überhaupt keine Lust, aber sie ist zunehmend notwendig geworden. Plattformen stehen in einem Spannungsverhältnis zu Regierungen und müssen entsprechend mit diesen interagieren (und gegebenenfalls auch mit anderen Plattformen, aber Regierungen stehen hier im Zentrum). Regierungen versuchen, die Plattformen zu regulieren, und die Plattformen versuchen, diese Regulierung in ihrem Sinne zu gestalten.
Ich schreibe hier bewusst nicht „Regulierung verhindern“, denn Regulierung ist im Interesse der Plattformen. Seemann beschäftigt sich mit diesem „Regulierungsparadox“ ziemlich ausführlich. Je regulierter die Plattformen sind, desto schwieriger ist es für potenzielle Konkurrenten, in den Markt einzudringen. Die Datenschutzverordnung der EU etwa ist zwar ein katastrophales Bürokratiemonster, das uns unter anderem die nervigen Cookie-Pop-Ups beschert hat, aber die vielen kleinteiligen Regelungen erfordern für die Plattformen eine kleine Armee von Anwält*innen und anderen Expert*innen, die die Markteintrittshürde deutlich anheben. Regulierung, die die Macht der Plattformen beschränken sollte, hat so den paradoxen Effekt, diese Macht zu steigern. Das Leistungsschutzrecht etwa stärkte Google und schwächte es nicht.
Für Plattformen ergeben sich dadurch Anreize, aus denen Seemann eine Art Lebenszyklus ableitet. Einer initialen Graphnahme folgt eine (oftmals lange) Wachstumsphase, in der die Plattformen um jeden Preis wachsen möchten. Diese Phase ist die, in der die User-Erfahrung die beste ist. Wenn das Wachstum ein Plateau erreicht, nehmen die Ausbeutungseffekte überhand: die Plattformbetreibenden versuchen, so viel Macht wie möglich anzusammeln und so viel Geld wie möglich aus dem System zu ziehen. Das System wird geschlossener, die Usererfahrung schlechter. Dieser Phase schließt sich der Niedergang an, in dem die ursprünglichen Betreibenden oft bereits abgesprungen sind. Die Plattform wird nun nur noch gemolken, aber nicht mehr weiterentwickelt. Ironischerweise verbessert sich die Usererfahrung dadurch häufig wieder, einfach weil niemand mehr sie aktiv verschlechtert. Im Endstadium existieren Plattformen vor sich hin, ohne gewartet zu werden. Ich durfte zu meiner Überraschung erfahren, dass MySpace immer noch existiert.
Dieser Zyklus ist, verbunden mit den Auswirkungen der Netzpolitik, ein sehr negativer. Die Interessen von Plattformbetreibenden sind durch diese Dynamiken derart gelagert, dass die eigene Plattform geradezu zwangsläufig eine Art Selbstzerstörungsmechanismus eingebaut hat und die Machtentwicklung für allerlei andere negative Effekte sorgt. Dies führt Seemann darauf zurück, dass die Plattformdynamik und das Internet mit seinen Möglichkeiten durch die Pfadabhängigkeit der umgebenden Systeme (Luhmann lässt grüßen) in ein System gezwungen werden, das ihrer Arbeitsweise nicht vollständig entspricht: der Gewinnlogik des Kapitalismus.
Als alternatives Positivbeispiel führt Seemann die Wikipedia auf. Auch sie zeichnet sich durch exponentielles Wachstum und eine erfolgreiche Graphnahme aus und wirkte ungeheuer disruptiv auf einen vorher bestehenden Markt (Enzyklopädien), aber sie wurde nie monetarisiert und die Macht ist auch heute noch, allen Problemen mit dem Moderator*innensystem zum Trotz, recht dezentral unter den Nutzenden selbst verteilt. Seemanns These ist, dass Plattformen nicht zwingend immer innerhalb dieser Logik operieren müssten.
Trotz allem bleibt er sehr pessimistisch. Im Abschluss des Buches stellt er einige Thesen für die Zukunft der Plattformen auf, die besonders im Hinblick auf die Demokratie sehr besorgt stimmen dürften: er postuliert eine generelle Unvereinbarkeit der Plattformen mit demokratischen Nationalstaaten und prophezeit, dass letztere durch die Macht der Plattformen letztlich ausgehöhlt und zerstört würden. Erst, wenn die beschriebenen Dynamiken durchbrochen werden können, sieht er eine Chance, dieser Destruktivität der Plattformen Einhalt zu gebieten.
Ingesamt kann ich das Buch sehr empfehlen. Die theoretischen Konstrukte, die darin aufgestellt werden, sind für das Verständnis von Plattformen elementar, ganz egal, ob man seine Schlussfolgerungen teilt oder nicht. Der analytische Rahmen, den Seemann aufspannt, ist über alle Zweifel erhaben.
Bob Blume – Deutschunterricht digital
Disclaimer: Der Autor ist mir persönlich bekannt und hat mir ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.
Wenn irgendetwas dran ist, dass Niccolo Machiavelli jemals dazu geraten hat, Grausamkeiten am Anfang zu begehen (zumindest behauptete das Oskar Lafontaine, und wer bin ich, am Wort eines so integren Ehrenmannes zu zweifeln?), dann ist Bob Blume ein gelehriger Schüler des Ahnherren der Politkberatung. Bevor er zu den Schmankerln kommt, müssen sich geneigte Lesende durch anspruchsvolle Theorie beißen – eine Effekt, den der Autor so beabsichtigt hat, wie er mir gegenüber freimütig bekannte. Per aspera ad astra! Das mag sich wie Kritik anhören, aber es ist nicht so gemeint. Blume hat durchaus Recht: manchmal ist es einfach notwendig, sich auch mit komplexeren Sachverhalten zu beschäftigen. Und es ist auch nicht seine Schuld, dass ich mich mit Fachdidaktik seit dem Referendariat kaum mehr beschäftigt habe, ein peinliches Versäumnis, das aufzuholen ich hiermit feierlich gelobe. Möge mit diesem Buch der Anfang gemacht sein. Was aber verbirgt sich zwischen den Pappdeckeln? Jedenfalls keine Explosion quadratischen Konfettis, auch wenn der Einschlag dies suggeriert. Es wäre allerdings ein Knalleffekt gewesen; vielleicht ein bedenkenswertes Feedback für die zweite Auflage.
Bob Blume hat mit dem ABC für wissenshungrige Mediennutzer (hier besprochen) und den 33 Ideen für digitalen Deutschunterricht bereits zwei eher praxisorientierte Heftchen vorgelegt, aus denen Bausteine für die eigene Unterrichtsgestaltung gewonnen werden können. Dieser Band hier will dezidiert keine weitere „Nike-Didaktik“ sein, sondern, in Bobs Worten, „ein Produkt, an das man andocken kann“. Dieses Buch ist quasi für Fortgeschrittene, also diejenigen, die sich tatsächlich auch mit der Theorie beschäftigen und sich ein solides Fundament für die eigene Unterrichtskonzeption geben wollen – und das sollten wir alle sein, auch wenn ich Asche auf mein Haupt streuend zugeben muss, diesbezüglich in die Kategorie jener Lehrkräfte zu fallen, die er nicht zu Unrecht in „10 Dinge die ich an der Schule hasse“ (hier rezensiert) kritisiert hat.
Nun aber genug der Selbstkasteiung, in medias res. Wie auch im „10 Dinge“-Buch stellt Blume gleich zu Beginn dar, dass er nicht vorhat, die klassischen Fächerstrukturen aufzulösen. Auf Grundlage dieser Prämisse teilt der die Digitalisierung des Unterrichts in drei grundlegende Strukturen ein (die nicht unumstritten sind): Additive, integrative und disruptive Settings.
Additive Settings nutzen digitale Medien ergänzend oder als Ersatz für bisher analoge Medien. Primitiv gesprochen könnte das ein PDF des Schulbuchs sein, ein Stundeneinstieg über Kahoot oder das Mitschreiben auf dem Tablet statt im Heft. Obwohl hier die Unterrichtsstruktur selbst (die Blume ja auch kritisiert, siehe erneut „10 Dinge“) nicht verändert wird, beeinflusst das Digitale den Unterricht bereits auf dieser Ebene, allerdings nicht entscheidend. Deswegen erklärt Blume auch den Begriff der Digitalisierung für den Deutschunterricht für weitgehend bedeutungslos, weil sie nur auf die Form eingeht.
In diesen Kontext gehört auch der Begriff der „zeitgemäßen Bildung“. Hier geht es bereits um wesentlich mehr als ein YouTube-Video im Unterricht zu schauen oder ein Kahoot zu spielen. Stattdessen werden Unterrichtsschemata aufgebrochen und etwa durch wesentlich mehr projektbasiertes und freies Lernen ersetzt. Bereits additive Settings können aber zu einer neuen „Kultur der Digitalität“ (Felix Stalder) beitragen, indem sie auf „Möglichkeiten in einer sich verändernden Praxis [verweisen]“ – vom kollaborativen Arbeiten an einem Dokument bis hin zur Second-Screen-Analyse.
Integrative Settings hingegen bauen Medien nicht nur als funktionale Bestandteile in den Unterricht ein, sondern reflektieren diese gleichzeitig und schaffen dadurch eine Wechselbeziehung. So kann etwa das Führen eines Blogs begleitend zu einer Unterrichtseinheit als integratives Setting verstanden werden. Häufig werden hierbei mehrere Medien benutzt, die zusammen einen Medienverbund ergeben, ein Phänomen, das Blume unter „Medienkonvergenz“ fasst.
Konsequent weitergedacht führt dies in seiner finalen Anwendung zu „Symmedialität“, in der „das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist“. Medien werden nun nicht nur als Elemente des Unterrichts betrachtet und entsprechend in die Planung einbezogen; ihr Wechselspiel stellt dagegen das Fundament der Planung selbst dar. In einem symmedialen Setting wirken Medien folglich disruptiv und lösen bestehende Grenzen des analogen Fachunterrichts auf.
Diese Abschnitte sind sehr theoretisch und voller Fachbegriffe, und sie sind es hauptsächlich, die die eingangs ironisierte Grausamkeit am Anfang darstellen. Vielleicht ist es auch nur meine eigene Nicht-Vertrautheit mit der Theorie; ich bin seit Studium und Referendariat als gebranntes Kind weitgehend von solchen definitorischen Fragen weggeblieben. Mir fehlt daher wohl auch die Routine, solche Abhandlungen schnell durchdringen zu können. Aber ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass diese Abschnitte für mich sofort erleuchtend oder gar vergnüglich zu lesen waren.
Glücklicherweise werden diese Probleme im weiteren Verlauf kleiner, und im Rückspiegel betrachtet (wenn erst einmal die Praxisbeispiele kommen) werden die Konzepte dann auch verständlicher. Ein zweiter Lektüredurchgang aber war durchaus nützlich.
Konkretisiert werden die Ideen durch einige (allerdings auch theoretische) Modelle, die die Implementierung im Unterricht thematisieren. So stellt Blume das SAMR-Modell vor, das über vier idealisierte Stufen abläuft. Auf der niedrigsten findet sich die Ersetzung (ich lese „Faust“ statt als Reclamheft auf dem Kindle), gefolgt von der der Erweiterung (ich benutze im digitalen Buch die Suchfunktion zur Analyse und schaue, wie oft Faust „Gretchen“ sagt). Beide Schritte ändern den Unterricht nicht fundamental, bleiben also additiv. Einen Schritt zu integrativen Settings geht die dritte Stufe, die Änderung, bei der etwa kollaboratives Schreiben in einem gemeinsamen Dokument ansteht. Der letzte und höchste Schritt ist die Neubelegung, bei der Dinge möglich werden, die vorher undenkbar waren (etwa die Erstellung verschiedener eigener Medien).
Dieses Modell ist nicht ohne Probleme, wie Blume ausführt, Probleme, die als symptomatisch für die Digitalisierung des Unterrichts gelten können. Einerseits ist die elende Frage nach dem „Mehrwert“ von Medien eingebaut. Diese Frage suggeriert, dass Medien immer mehr bieten müssen als die vorhandenen Strukturen, um eine Daseinsberechtigung zu haben; dadurch werden sie aber in ihrer Bedeutung verkannt – sie erweitern immer die Perspektive der Lernenden. Unter Mediendidaktiker*innen ist der Mehrwertsbegriff deswegen verhasst. Andererseits haben solche Modelle den Nachteil, dass sie leicht als rigider Stufenplan oder Zielfeststellung verstanden werden können, die dann die Kreativität der Lehrkräfte unnötig einengt oder dafür sorgt, dass auf der additiven Stufe stehengeblieben wird.
Ein Modell, das für Blume zentral ist und dessen Wichtigkeit er auch in seinen Blogbeiträgen immer wieder betont (siehe auch hier) ist das der 4K: Kreativität, Kritisches Denken, Kollaboration und Kommunikation. Keines dieser 4K erfordert notwendigerweise die Einbindung von Medien im Unterricht, aber sie sind für modernen Unterricht praktisch unerlässlich. Fehlen sie in irgendeinem medialen Setting, wird gewissermaßen etwas falsch gemacht.
In einem weiteren Schritt hin zur unterrichtlichen Praxis nähert sich Blume nun dem Kompetenzbegriff und den Bildungsstandards. Der Kompetenzbegriff ist in Baden-Württemberg seit 2004 die Leitlinie der Bildungspläne. Demzufolge steht nicht das Erlernen eines spezifischen Stoffes – also irgendwelcher fachlichen Inhalte, wie Jahreszahlen in Geschichte – im Vordergrund, sondern der Erwerb von Kompetenzen – wie etwa die Analyse einer Quelle im selben Geschichtsunterricht. Für Blume besteht keinerlei Zweifel, dass die Kompetenzen durch die Digitalisierung nicht nur deutlich besser erreicht werden können, sondern dass sie diese Digitalisierung geradezu bedingen. Die Bildungspläne fordern aus seiner Sicht also eher die Rechtfertigung, Medien nicht einzusetzen, als sie einzusetzen.
Er begründet dies am praktischen Aufbau des Deutschunterrichts, der so genannten „Phasierung“ (Unterricht besteht aus verschiedenen Phasen mit unterschiedlichen Zielen, siehe hier), die durch die Einführung von Medien beeinflusst und geändert wird. So erlauben etwa Tools wie Mentimeter wesentlich differenzierte und effektivere Einstiege; Sicherungsphasen werden durch kollaborative Dokumente schneller und nützlicher; Erarbeitungsphasen können die 4K wesentlich besser abbilden, und so weiter.
Den Abschluss des theoretischen Teils bilden Blumes „10 Thesen zum digitalen Deutschunterricht“, in denen er pointiert zusammenfasst, welche Änderungen sich für die Planungsüberlegungen ergeben und welche Möglichkeiten der digitalisierte Unterricht bietet.
In den folgenden Praxisbeispielen skizziert Blume je ein Unterrichtsbeispiel für ein additives, integratives und disruptives Setting. Die Funktion dieser Praxisbeispiele ist weniger, direkt nutzbares Material an die Hand zu geben (dafür ist es viel zu skizzenhaft), sondern die vorherige Theorie begreiflich zu machen. Viele seiner vorher entworfenen Konzepte wurden mir hier wesentlich klarer; es stellte sich geradezu ein Belohnungsgefühl ein, die vorherige Theorie durchgepaukt zu haben und nun in Anwendung zu sehen.
Diese Unterrichtsskizzen werden von einer erschöpfenden Vorstellung diverser „Impulse für den Deutschunterricht“ gefolgt, in denen Blume Tools und Plattformen vorstellt, deren Anwendbarkeit für bestimmte Klassenstufen umreißt und Ideen für ihre Einbindung in den Unterricht gibt. solche Aufstellungen sind immer willkommen, und man ertappt sich beim Lesen immer dabei, wie bei einer Checkliste abzustreichen, welche davon man bereits kennt und/oder einsetzt.
Noch nützlicher fand ich die folgende Aufstellung von Methoden, die im Unterricht direkt anwendbar sind. Hier verbindet Blume einige altbekannte Dinge – etwa Lückentexte – mit den Möglichkeiten der Digitalisierung. Gerade der Grammatik- und Rechtschreibunterricht, ein Hassobjekt von sowohl Lernenden wie auch Lehrenden, bekommt hier einige hilfreiche neue Ansätze.
Es ist denke ich offenkundig geworden, dass dieses Buch für Deutschlehrkräfte relevant ist (ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand außerhalb des Bildungsbereichs viel damit anfangen kann). Es unterfüttert einerseits die Planungsstrukturen mit nützlicher Theorie, gibt aber andererseits auch wertvolle Praxishinweise. Ich kann nicht verhehlen (und habe mir auch keine Mühe gegegen, das zu tun), dass ich mir gelegentlich einen leichteren Zugang und leichtere Formulierungen gewünscht hätte. Aber die Mühe hat sich zweifellos gelohnt, und ich kann allen Kolleg*innen nur empfehlen, sie sich auch zu machen.
John Green – Das Schicksal ist ein mieser Verräter
Ich hatte John Greens preisgekrönten Roman schon ewig und drei Tage auf meiner Leseliste. Ich erinnere mich, ihn anno 2015 in der neunten Klasse lesen zu wollen, aber damals fiel die Entscheidung dann doch auf „Die Tribute von Panem“ (hier besprochen). Seither hatte ich keine neunte Klasse mehr, und dieses Jahr bleibt mir nicht mehr genug Zeit, so dass ich mich aus einer Laune heraus entschloss, das Buch einfach für mich persönlich zu lesen und abends im Bett zu lesen begann. Als ich endlich das Licht ausschaltete, war ich halb durch, und am nächsten Morgen habe ich es vollends beendet. Nun bereue ich erst recht, so wenig Zeit übrig zu haben, und plane schon, wie ich das Ding nächstes Jahr in den Stoffverteilungsplan unterbringen kann. Aber ich schweife ab. Das Buch ist absolut großartig und lohnt die Lektüre unbedingt.
Schauen wir zuerst auf die Handlung. Die schwer krebskranke Hazel lernt in der Selbsthilfegruppe den ebenfalls an Krebs erkrankten Augustus („Gus“) kennen, der ein Bein verloren hat. Beide finden einander sofort anziehend und gehen zögerlich aufeinander zu. Ihre Liebe zu Literatur und Intellektualismus eint sie, und Hazels Lieblingsbuch, „Ein herschafftliches Leiden“ des niederländisch-amerikanischen Autors Peter van Houten, gibt ihnen einen gemeinsamen Referenzrahmen. Das Buch endet allerdings ambivalent, und Hazel will unbedingt wissen, wie es mit den Figuren danach weitergeht. Augustus organisiert für sie eine Reise nach Amsterdam, wo die beiden den Schriftsteller treffen. Die Begegnung aber verläuft enttäuschend, und wieder zurück in Amerika, wo Augustus‘ Krebs zurückkehrt, müssen sich beide sowohl den Lektionen der Reise als auch ihrer eigenen Sterblichkeit stellen.
Soweit eine grobe inhaltliche Zusammenfassung. Ich will nicht zu viele Plotdetails verraten, aber für eine Rezension werde ich so oder so auf die Aspekte eingehen müssen. Die Handlung selbst ist aber ohnehin nicht der anziehende Punkt; die Ereignisse kommen nicht überraschend (im Sinne von Shyamalan-Twists), sondern mit einer gewissen Logik und werden auch immer wieder vorausgedeutet (so sehr, dass ich bis zum Schluss überzeugt war, die Handlung würde genauso wie die von „Ein herrschaftliches Leiden“ mitten im Satz abbrechen; ganz so konstruiert war John Green dann aber nicht).
Nein, die eigentliche Attraktivität liegt in den Figuren und den Motiven, die in der Handlung entwickelt werden. Was John Green im Gegensatz zu vielen, vielen anderen Autor*innen des Genres gelingt ist, seine Figuren glaubhaft zu machen. Glaubhaft in dem Sinne, als dass sie Teenager sind, die sich wie Teenager verhalten, trotz der nicht eben typischen Vorliebe für hohe Literatur, die Hazels Charakter ausmacht und mit der sie Augustus ansteckt (der sie wiederum zu den Trash-SF-Romanen und Call-of-Duty-Spielen bringt).
Gerade hier stolpern und fallen so viele Jugendbücher. Der Topos einer (meist weiblichen) Hauptfigur, die gerne liest, wird sehr gerne bemüht. Leider ist er viel zu oft didaktisiert, und die Bücher schreien die Lesenden geradezu an, dass hier eine Art Lektion versteckt ist: Bücher sind toll! Menschen die Bücher lesen sind bessere Menschen! Ein besonders übles Beispiel dafür, mit dem ich kürzlich in Berührung kam, ist „Die Bücherdiebin„. Da kriegen wir sogar gleich noch schlechtes Gewissen und revisionistische Widerstandserzählungen mitgeliefert. The less said, the better. In diese Falle tappt „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ niemals.
Stattdessen ist die Lektion hier eher eine gegenteilige. Es ist gerade die Weigerung, sich von Büchern das Leben diktieren zu lassen oder zu versuchen, aus ihnen die großen Wahrheiten herauszuziehen, die als existenzieller Sieg am Ende steht; eine bewusste Entscheidung, die eigene Geschichte selbst zu schreiben, anstatt sie von außen vorstrukturieren zu lassen. Dabei setzt sich der Roman auch, ohne dies je explizit zu machen, mit der Theorie vom „Tod des Autors“ auseinander (den Lindsay Ellis mitsamt einem Gastauftritt von John Green in diesem Video großartig bespricht). Von Houten weigert sich erst, Hazel die erwünschte Antwort zu geben; als er sich später dann doch bereit findet, will Hazel sie nicht mehr hören – sie ist inzwischen darüber hinaus, sich von einem Buch, und mag es auch noch so sehr zu ihr sprechen, das Leben diktieren zu lassen.
Auch tappt John Green nicht in die andere große Falle, ein „Problembuch“ zu schreiben (oder, wie es im Roman selbst genannt wird, eine „Krebsgeschichte“). Ja, die Charaktere sind alle in der außergewöhnlichen Situation, an einer tödlichen Krankheit zu leiden und mit einem Fuß im Grab zu stehen, aber der Roman schlägt uns nicht die didaktische Keule über die Köpfe und zwingt uns mit Druck auf die Tränendrüse zum Mitleiden. Die Katharsis stellt sich von selbst ein. Sowohl die Charaktere als auch Green setzen sich damit auseinander, dass eine tödliche Krebserkrankung die Menschen nicht zu Heiligen macht. Sie sind stattdessen, egal wie sehr ihre Umwelt das auch verleugnen mag, eine Belastung für alle, die sie kennen (und haben deswegen wenig Freunde). Dieses Wissen, das Leben ihrer Liebsten massiv zu erschweren, lastet auf ihnen allen, und sie müssen Wege finden, damit umzugehen, oder eben auch nicht. Dass es sich um Teenager handelt, macht die Sache nicht eben einfacher. Der miese Verräter des Schicksals hat ihnen eine Aufgabe gegeben, an der sie eigentlich nur scheitern können; letztlich müssen sie erwachsener sein als die Erwachsenen um sie herum, eine emotionale Mammutaufgabe stemmen, zusätzlich zu ihrem eigenen Leid und dräuenden Tod. Ohne persönlichen Bezug (dankenswerterweise) kann ich nur sagen, dass es sich real anfühlt. Ich überlasse es berufeneren Personen, darüber zu urteilen, wie repräsentativ Hazel, Augustus, Isaac und die anderen sind.
Doch all diese Faktoren sind erst einmal nur Fehler, die Green vermeidet. Solche Fehler können Geschichten davon abhalten, Großartigkeit zu erreichen, aber das Umschiffen dieser narrativen Klippen alleine sorgt noch nicht von sich für großartigen Stoff. Das erst kann durch das Zugegeben gelungener Zutaten erreicht werden, und es ist an dieser Stelle, an der Green sein ganzes Talent in die Waagschale wirft – und gewinnt.
Es sind die Figuren, allen voran Hazel und Augustus, die den Roman vorantreiben, die mich Seite um Seite blättern lassen und mich in einen Sog ziehen, dem ich bis zum Schluss nicht zu entrinnen in der Lage bin. Das liegt zum einen an den Dialogen. Sie fühlen sich authentisch an, sind voller Brüche, emotionalen Auslassungen und Abbrüchen, mäandern zwischen fundamentalen Erkenntnissen und banalsten Alltagssituationen hin und her sind gleichzeitig voll sprühender Energie und Witz. Im einen Moment lache ich beim Lesen laut auf, weil die Situation, der Satz, das hingeworfene Wort genuin komisch sind, in der anderen läuft mir ob der profunden Erkenntnisse eine Träne über die Wange.
Ein Beispiel dafür: gegen Ende des Romans rekrutiert Augustus noch einmal all seine Freunde, um seine eigene Beerdigung durchzuführen (eine Stelle, an der die deutsche Übersetzung mangels einer kulturellen Entsprechung für das amerikanische „wake“ an ihre Grenzen kommt). Sie halten beißende, komische, profunde Reden auf Augustus, ihre Situation und ihr Verhältnis zu ihm, wie sie nur zwischen diesen todgeweihten Personen ausgesprochen werden können. Auf der echten Beerdigung hält Hazel eine Rede voller platter Motivationssprüche, wie Gus‘ Eltern sie liebten. Sie kommentiert das mit ihrer inneren Erzählerstimme lakonisch: „Ich habe beschlossen: Beerdigungen sind die für die Lebenden.“ Ich konnte nicht anders als angesichts solch profunder Einsichten aus dem Mund einer 16jährigen Todkranken eine Träne zu verdrücken. Der Roman ist voll dieser Momente, in denen Green zuversichtlich von einer emotionalen Lage in die andere wechselt, ohne je aus dem Takt zu geraten.
All diese Qualitäten machen den Roman nicht für Jugendliche lesenswert. Er mag als Jugendroman konzipiert und beworben sein, aber er ist auch problemlos für Erwachsene lesbar. Ich kann ihn rundheraus empfehlen.
Rezension: Bob Blume – Zehn Dinge, die ich an der Schule hasse: Und wie wir sie ändern können
Disclaimer: Ich bin mit dem Autor bekannt und habe ein Rezensionsexemplar erhalten.
Vor rund 20 Jahren machte ein Buch über die Schule Furore, das den Titel „Das Lehrer-Hasser-Buch“ trug. Der Name war Programm; das Pamphlet enthielt vor allem anekdotische Klagen einer Mutter über das, was sie alles ganz schrecklich fand. Die Autorin tingelte damals durch Talkshows, und für einen Nachrichtenzyklus gab sich die Republik genussvoll dem Lehrkräfte-Bashing hin. Man könnte denken, dass Bob Blumes Buch durch die Ähnlichkeit im Titel auch so ein Pamphlet wäre. Aber da wäre man weit gefehlt. Blume ist einerseits wesentlich interessierter an einer konstruktiveren Auseinandersetzung. Und er bringt dafür den Blick von innen mit. Denn Bob Blume ist nicht nur selbst Lehrer, sondern auch ein didaktischer Vordenker im Bereich der Modernisierung und Digitalisierung von Schulen.
Bob Blume hasst in seinem Buch nicht Personen, wie dies bei der unsäglichen Lehrer-Hasserin seinerzeit der Fall war. Er verwendet „Hass“ eher im Sinne einer Wut im Bauch („aber Freude im Herzen“), einem Frust mit bestimmten Umständen des Systems Schule, und mit dem Willen zur Veränderung. In allen Punkten erklärt er, auch für Laien gut verständlich, was die jeweiligen Probleme aus seiner Sicht sind.
So beklagt Blume die Bürokratie, die viele Initiativen verhindert. Nicht von ungefähr nimmt er als Beispiel dafür die Medienentwicklungspläne, die zuverlässig verhinderten, dass die vom DigitalPakt bereitgestellten Gelder abgerufen werden konnten, der Politik aber eine gute Ausrede gaben, den Schwarzen Peter an die Träger und Schulen weiterzureichen. Diese Bürokratisierung zieht sich noch in viele weitere Bereiche. Im Interesse der Struktur des Buches in die titelgebenden zehn Punkte konzentriert sich Blume hier vor allem auf den gigantischen Verwaltungsaufwand, den die Bürokratie schafft und der wertvolle Ressourcen vom pädagogisch-didaktischen Geschäft abzieht, aber diese bürokratische Logik zieht sich als Problemfaktor auch in andere Bereiche.
Ein Beispiel dafür wäre der von Blume völlig zurecht beklagte „Stofffetisch“, die Konzentration der Schule (und aller beteiligten Gruppen) auf die Erfüllung der Inhalte des Bildungsplans, auch wenn er eigentliche Lernerfolg eher bescheiden bleibt. Das liegt, so Blume, an den festgefahrenen Strukturen idealen Unterrichts mit seinen künstlichen Erarbeitungs- und Sicherungsphasen (ich hab das hier näher erklärt), der wiederum in der Lehrkräfteausbildung im Zentrum steht (die ein eigenes Kapitel verdient hat und es auch bekommt).
Diese Zusammenhänge arbeitet Blume in seinem Buch sehr anschaulich heraus. Er erspart den Lesenden nicht, jeweils eine kurze, aber fundierte Einleitung ins Thema zu bekommen. Das ist gut, denn wer nicht weiß, wie Unterricht wenigstens grundsätzlich funktioniert, kann ihn auch nicht vernünftig kritisieren (oder Blumes Kritik nachvollziehen); wer nicht weiß, nach welchen völlig intransparenten Prinzipien die Lehramtsausbildung verläuft, wird nicht verstehen, wo das Problem liegt.
Überfordert wird man damit nicht; das Buch ist insgesamt nur rund 230 großzügig dimensionierte Seiten dick und bequem an einem halben Nachmittag lesbar, zu was Blumes flüssige Schreibe nicht unerheblich beiträgt. Aber es ist mit Sicherheit der derzeit fundierteste Überblick, der gerade auch für Laien erhältlich ist (und auch für „Profis“ sehr gut lesbar, die an vielen Stellen verständig oder voll Wiedererkennung mit dem Kopf nicken werden).
Blume selbst ist kein Unbekannter. Schon seit Langem bloggt er auf seiner Homepage über Unterricht; unter dem Pseudonym „Netzlehrer“ ist er auf Twitter und Instragram aktiv und hat dort zusammen über 50.000 Follower*innen. Er spricht auf Kongressen und ist ein gefragter Interviewpartner. Innerhalb der „Szene“ der um Reformen im Schulsystem bemühten Lehrkräfte ist er sicherlich ein Vordenker. Ich erwähne das deswegen, weil er auch nicht unumstritten ist. Seine didaktischen Ideen zur Digitalisierung, die er in einem eigenen Buch verarbeitet hat, haben Kritik provoziert, und bei diesem Buch ergeht es ihm nicht anders.
Das liegt natürlich einerseits an den Animositäten und ideologischen Grabenkämpfen des #Twitterlehrerzimmers, aber dahinter verbergen sich zentral unterschiedliche Ansätze zur Reform von Missständen. Blume thematisiert diesen Konflikt innerhalb des Buches auch kurz, aber ich halte das für das Verständnis für zentral: er ist, was ich einen Inkrementalisten nennen würde. Er fordert keine vollständige Umwälzung des Schulsystems, sondern Verbesserungen in dem Rahmen, der aktuell vergleichsweise kurzfristig in den gegebenen Umständen und Institutionen umsetzbar ist. Das ruft Kritik vor allem bei denen hervor, die ihren Blick auf größere Änderungen gerichtet haben.
Ich rechne mich eher zu denjenigen, die wie Blume versuchen, die Freiräume des Systems zu nutzen, so eingeschränkt sie auch sein mögen. Mir liegt dieser Ansatz daher wesentlich näher, aber ich fände es unredlich, nicht darauf hinzuweisen, dass dies für andere ein Dealbreaker sein könnte. Auch teile ich nicht sämtliche Problembeschreibungen. Dass es im Lehrkraftberuf etwa vergleichsweise leicht ist, mit unterdurchschnittlichen Leistungen durchzukommen, bewegt Blume zu einer Generalkritik am Beamtenstatus von Lehrkräften. Allein, ich sehe nicht, dass ein Angestelltenstatus die Situation verändern würde; mein Gewicht liegt viel mehr auf verbindlichen Evaluationen, Kooperationen und Feedbackschleifen (auf die Blume ebenfalls verweist!).
Aber das ist Kleinkram. Insgesamt kann ich 95% der Kritikpunkte problemlos unterschreiben und meine Stimme dem Chor derjenigen hinzufügen, die wie er Reformen fordern. Blume belässt es dabei auch nicht nur an der Darstellung der Missstände im System – von wenig aussagekräftigen und den Lernerfolg behindernden Noten, von mies konzipierten Prüfungsregimen, von kritisches und demokratisches Denken nicht eben fördernden Schulalltagen, von mangelndem Respekt gegenüber den Schüler*innen und ebenso mangelnder Einbindung der Eltern -, sondern präsentiert am Ende auch zehn Ansätze, wie es besser gehen könnte.
Dazu gehört, was den Unterricht angeht, spannenderweise nicht die Liste progressiver Klassiker, von denen sich Blume explizit absetzt. Er erachtet weder vorgegebenen Stoff und Kanon noch die Fächerstruktur als grundsätzliche Probleme, vielmehr plädiert er für ihre Beibehaltung. Stattdessen plädiert er für eine Öffnung auf neue Methoden, neue Lernkonzepte und mehr Freiheit für Lehrkräfte wie Schüler*innen. Mehr Freude am Lernen, das oft eingeforderte und selten erreichte Ziel der Reformen, steht auch bei ihm im Mittelpunkt.
Gleichzeitig begibt er sich immer wieder auf die Ebene des Alltags zurück, weg von utopischen Idealen einer ganz neuen Schule und zu so basalen Aspekten wie der Alltagskenntnis der Lehrkräfte (also dass Lehrkräfte wissen, wie der Alltag ihrer Schüler*innen eigentlich aussieht). Es ist diese sympathische wie fruchtbare Verbindung von Alltagstauglichkeit und Theorie, von großen Ideen und Verbesserungen im Kleinen, wie sie Blume sowohl einfordert als auch selbst vorlebt, die das Buch so gelungen machen. Wer wissen möchte, woran das Schulsystem heute krankt, aus der Perspektive der Praxis und mit Möglichkeiten, konkret etwas daran zu ändern anstatt nur im luftleeren Raum zu schwadronieren, für all diese Personen ist dieses Buch eine unverzichtbare Lektüre, die nur wärmstens ans Herz gelegt werden kann.
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