Eine der Sensationen des Sachbuchmarkts der letzten Monate ist "Erzählende Affen" des Autor*innenenduos Samira El Quassil und Friedemann Karig. Ich habe so viel Gutes darüber gehört, dass ich mich selbst vergewissern wollte, ob der Hype gerechtfertigt ist und welche Erkenntnisse sich aus dem Band ziehen lassen. Die Grundthese des Buches, dass das, was uns Menschen am meisten von Affen unterscheidet unsere Fähigkeit zum Geschichten erzählen ist und die anderen Kenntnisse und Errungenschaften quasi aus dieser Fertigkeit fließen, ist eine, die gerade von Antropolog*innen ebenfalls immer wieder genannt wird. Die Fähigkeit zur Kommunikation und vor allem der Schaffung von Gemeinschaften dürfte weit relevanter gewesen sein als das Aufheben des ersten Feuersteins. Diese zugegeben starke These, die bei den Vertretern der Gattung "Homo Faber" sicherlich zu einigen Abwehrreaktionen gegen den Parvenü "Homo Narrans" führen dürfte, wird im Verlauf des Buches einerseits entwickelt und andererseits in ihren Konsequenzen durchdekliniert.
El Quassil und Karig strukturieren das Buch dabei anhand der so genannten "Heldenreise" durch. Das Konzept des Literaturwissenschaftlers Joseph Campbells ist zwar bereits ziemlich in die Jahre gekommen und hat mittlerweile im englischsprachigen Raum nach einer wahren Blüte in den späten 2000er und frühen 2010er Jahren bereits wieder den Status erreicht, dass lauter revisionistische Bestrebungen seine Bedeutung und Anwendbarkeit relativieren; im deutschsprachigen Raum hat es leider, auch wegen der deutsche Hochnäsigkeit gegenüber "populären" Stoffen, über die wir im Podcast auch geklagt hatten, leider immer noch Neuheitswert.
Aber zur Sache. Die Heldenreise ist ein Konzept, das vorgibt, eine übergeordnete narrative Theorie zu sein, nach der die Protagonisten (eigentlich fast immer männlich) der klassischen Sagen aller Kulturen eine sehr ähnliche, generische "Reise" in ihrer Entwicklung durchmachen, eben die "Heldenreise". Es gibt verschiedene Ausprägungen dieser Theorie, die sich im Detailgrad unterscheiden. El Quassil und Karig nutzten eine aus 12 Stationen bestehende.
Die erste Station ist die "Gewohnte Welt", beschreibt also den Ursprung. El Quassil und Karik nutzten sie als Metapher für den Themenkomplex "Fremdbild - Selbstbild". Jede Person hat ein Selbstbild von sich (ich etwa als furchtbar eloquenter, sympathischer Lehrer), während alle anderen, die mich kennen, ein Fremdbild von mir haben (furchtbar aufgeblasener Dampfplauderer). Wir erzählen uns stets selbst eine Geschichte - eine Geschichte von uns selbst. "Jeder ist der Held seiner eigenen Geschichte" ist eine weitere der Erkenntnisse aus diesem Ansatz der narrativen Interpretation, und nirgendwo wird sie so deutlich wie darin, dass selbst Hitler überzeugt war, der Gute zu sein. Niemand glaubt, dass er oder sie aus Bösartigkeit handelt - man legt sich immer ein passendes Narrativ zurecht.
Wird dieses Narrativ in Frage gestellt, finden Abwehrreaktionen statt. Diesen begegnen wir permanent, die sind für unsere Selbstkonzeptionen entscheidend. Der Grund dafür, wie wir im "Ruf zum Abenteuer" erfahren, ist eben die eingangs geäußerte These vom "Homo Narrans". Menschen erzählen Geschichten und schaffen dadurch Gemeinschaft, aber vor allem erwerben sie jene Fähigkeiten, die ihnen erlauben werden, zur beherrschenden Spezies des Planeten zu werden. Leider kommt dieses Kapitel nicht ohne die mittlerweile schon beinahe üblichen Spekulationen über den Alltag der neolithischen Menschen aus, die gerne als Fakt präsentiert werden. Man sollte annehmen, dass bald 40 Jahre nach "Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken" dieser Quatsch langsam mal gut sein könnte.
Zur Erzählung allerdings braucht man Sprache. Während der klassische Held sich der "Verweigerung des Rufs" einhergibt und erst einmal die Herausforderung ablehnt, um bei dem zu bleiben, was er kennt, befassen sich El Quassil und Karig mit der Macht der Sprache selbst. In diesem Kapitel erklären sie, warum Sprache eine solche Gewalt über uns ausübt, vor allem über die Assoziationen von Begriffen. Wir verbinden konkrete Begriffe mit dem, was Sprache erlaubt, was dann eine Art "Begegnung mit dem Mentor" erlaubt - Geschichten, die aus einem einzigen Wort bestehen. Man denke nur an "Wiedervereinigung", das für uns Deutsche nicht nur ein, sondern verschiedene Narrative beinhaltet: Vom Untergang des Kommunismus und der Bestätigung der Überlegenheit des "Westens" zum Beginn eines langen Abstiegs, nur um zwei der populärsten zu nennen.
Mit diesen Ein-Wort-Narrativen verbunden sind Konzepte und Prämissen, die selten ausgesprochen sind, aber immer dem Ganzen zugrundeliegen. Machen wir uns nicht klar, dass diese Prämissen existieren, so werden wir einander auch nicht verstehen. Wir kommunizieren in einem Wettstreit der Narrative, und wenn wir nicht ehrlich genug sind, das einzugestehen (mein Favorit ist ja die völlig irrige Vorstellung von "Objektivität"), dann verstehen wir einander auch nicht. Das schlägt dann auch den Bogen zu den oben angesprochenen Identitätsfragen, die mit diesen Narrativen verbunden sind.
Hat der Held diese initialien Hindernisse hinter sich gebracht, steht das "Überschreiten der Schwelle" an. Die große weite Welt, die sich nun vor uns erstreckt, ist unübersichtlich, neu und, zumindest aus der eigenen Perspektive, chaotisch. Es braucht also Narrative, mit denen wir Unterschiede erklären oder Unsicherheiten einordnen können. Ohne diese würde unser Gehirn vermutlich einfach abschalten. Irgendwann kommen wir über den Stand hinaus, dass unsere Eltern Halbgötter ohne Fehl sind und müssen diese entwickeln, und je älter wir werden, desto detaillierter werden unsere Narrative, mit denen wir die Welt erklären - die dann wiederum in Konkurrenz zueinander treten, weil niemals alle Menschen dieselbe Erklärung für dieselben Phänomene haben. Wer da die Religion um die Ecke lugen sieht liegt nicht falsch, aber das müssen wir noch ein Kapitel aufschieben.
Zuerst nämlich besteht der Held eine "Bewährungsprobe" - und die Kraft von Sprache und Narrativ ebenfalls. In diesem Kapitel sprechen El Quassil und Karig von der Macht einzelner Worte, die durch die Bedeutung, die wir ihnen geben, selbst Realität zu schaffen in der Lage sind. Ein Beispiel dafür ist etwa Ehe oder Taufe. Physikalisch ändert sich durch die Aussprache der entsprechenden Worte überhaupt nichts, aber wir messen ihnen ungeheure Bedeutung bei, die lebensverändern ist. Solche Prozesse haben wir, mehr oder weniger bedeutend, in unserem Leben permanent. Sprache bestimmt die Welt.
Im Ursprung von Narrativen, quasi beim "Vordringen in die tiefste Höhle", stoßen wir dann auf die Religion als Urerzählung. Um die Welt zu erklären und die Macht der Worte und Rituale zu legitimieren, erzählten die Menschen sich religiöse Geschichten von Geistern und Gottheiten, die das Schicksal der Welt bestimmten - und damit auch unseres. Oft genug stehen wir Menschen als wichtigste Schöpfung jener Wesen dann im Mittelpunkt, was natürlich unserem Selbstbewusstsein sehr zugute kommt. El Quassil und Karig geben in diesem Artikel zahlreiche Beispiele für solche religiösen Narrative, aber die Grundthese sollte außer Frage stehen: kein Narrativ war so langfristig erfolgreich wie das religiöse.
Den Preis für das zerstörerischste Narrativ dagegen, das sich selbst in einem "Entscheidungskampf" imaginierte, war sicherlich das faschistische. Die bewusst anti-religiöse (und, wenn wir ehrlich sind, so ziemlich anti-Alles) Erzählung führte zu den verheerendsten Kriegen und Völkermorden, die die Menschheit je gesehen hat. El Quassil und Karig untersuchen das recht ausführlich und sauber; was mir auffiel, ist aber die kuriose Leerstelle des Kommunismus. Auch hier handelt es sich um ein im 20. Jahrhundert extrem erfolgreiches Narrativ mit verheerender Wirkung, aber weder er noch sein netter Cousin Sozialismus werden diskutiert, was mir angesichts der Bedeutung und im Falle des Sozialismus (im internationaleren Sinne gefasst, der auch sozialdemokratische Ideen einbezieht) auch des Erfolgs beider Ideen merkwürdig erscheint.
Ich habe eingangs bereits festgestellt, dass der Held in diesen Narrativen praktisch durch die Bank männlich gedacht ist. Diese Leerstelle untersuchen El Quassil und Karig in einem eigenen Kapitel zur "Belohnung und Ergreifen des Schwerts". In einer erschreckenden Vielzahl von Narrativen gibt es praktisch keine Frauen, ein Phänomen, das sich bis in die Gegenwart zieht (der Bechdel-Test hat nicht umsonst traurige Berühmtheit erlangt). An dieser Stelle der Lektüre sollte die Bedeutung der Narrative für die Bildung der Realität hinreichend bekannt sein, so dass klar ist, warum diese Leerstelle bedeutsam ist. Die Autor*innen betrachten auch, wie Narrative Heteronormativität decken und reproduzieren. Wenig überraschend schreiben sie diesen Prägungen der Bedeutung von Narrativen zu, der ich mich problemlos anschließen kann.
Nach Bestehen seiner Abenteuer tritt der Held den "Rückweg" an. Für die Autor*innen ist das die Synthese ihrer Erkenntnisse, was die Narrative zum Klimawandel betrifft. Die größte Herausforderung unserer Zeit ist narrativ notorisch schwer zu fassen, und die Gegner des Fortschritts sind sehr erfolgreich darin, ihre eigenen 1-Wort-Geschichten zu etablieren. Bereits spätestens seit den 1970er Jahren war den großen fossilen Energiefirmen, allen voran Exxon, die Gefährlichkeit des Klimawandels bewusst. In klassisch kapitalistischer Manier sahen sie darin vor allem eine Gefahr für sich selbst und begannen eine große Offensive der Gegenpropaganda. Sie unterdrückten Erkenntnisse, relativierten, untergruben die Autorität der Forschenden, sähten Zweifel und nutzten ganz prosaisch Lügen. Dazu etablierten sie erfolgreiche eigene Geschichten, etwa wenn sie das Konzept des CO2-Fußabdrucks pushten (für das BP einen Online-Rechner entwickelte), die die Verantwortung dem Individuum zuschoben und damit sehr erfolgreich jeden Wandel blockierten.
Die Erzählbarkeit des Klimawandels ist generell furchtbar problematisch. Das Konzept ist komplex, die Zeiträume lang, die Verantwortung des Individuums diffus. Die besten Aussichten sahen die Autor*innen in der #FridaysForFuture-Bewegung, die mit der Galionsfigur Greta Thunberg ein gerade maßgeschneidert ideales Aushängeschild besaß. Ich hielt bereits 2019 die symbolische Aufladung der FFF-Bewegung und Thunbergs für übertrieben (man denke nur an das Geschwätz von einer "Generation Thunberg" und was des Unfugs nicht noch mehr war), und seit dem stetigen Abrutschen der Bewegung erscheint mir dieser Zweifel berechtigter denn je.
Im letzten Kapitel, für das ich die letzten Stationen der Heldenreise "Erneuerung/Verwandlung" zusammenfassen möchte, wird ein Ausblick in zukünftige, progressive Geschichten gegeben. Wenig überraschend ist, dass sich die Autor*innen im progressiven Lager verorten und deswegen ein Interesse daran haben, dass es solche gibt. Sie fordern neue, bessere Ein-Wort-Geschichten und die Schaffung von neuen Utopien anstatt dem vorherrschenden Konservatismus. Dahinter kann ich mich durchaus stellen, allerdings bleibt das Kapitel (notwendig?) unspezifisch und diffus.
Sind die Lorbeeren für das Buch gerechtfertigt? Insgesamt denke ich ja, aber ich will über einige Schwächen nicht hinweggehen. Bereits angesprochen habe ich die teilweise veralteten Kenntnisse, etwa was Joseph Campell angeht, und das Einschleichen von narrativem Unfug über Urzeitmenschen (was gleich wieder, wenngleich unfreiwillig, die These von der Macht der Narrative bestätigt). Leider findet sich auch klassisch linker Unfug wie etwa das Narrativ vom homo oeconomicus, das dargestellt wird, als ob signifikante Bedeutung im Denken vieler Menschen mit ihm verknüpft sei. Aber das sind eher einzelne Ausrutscher. Als jemand, der bereits seit vielen Jahren auf die Bedeutung der Narrative pocht, tragen El Quassil und Karig natürlich Eulen nach Athen. Aber ich habe die Lektüre genossen, und für Interessierte dürften sehr, sehr viele Kenntnisse zu gewinnen sein.
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