Mittwoch, 4. Mai 2022

Rezension: Franziska Schutzbach - Die Erschöpfung der Frauen: Wider die weibliche Verfügbarkeit

 

Franziska Schutzbach - Die Erschöpfung der Frauen: Wider die weibliche Verfügbarkeit

Der Titel dieses Buches mag für die eine oder ander gerunzelte Stirn sorgen. "Wider die weibliche Verfügbarkeit"? Was ist damit gemeint? Franziska Schutzbach bietet in ihrem bemerkenswerten Buch die These an, dass die Frauen unter einer kollektiven Erschöpfung leiden, die Folge der von ihnen erwarteten, eingeforderten und auch bereitgestellten ständigen Verfügbarkeit sei. Sie wendet sich gegen diese Verfügbarkeit, sowohl in dem Sinne, dass Frauen aufhören müssten, sich selbst ständig verfügbar zu machen, als auch von den Männern im Speziellen und der Gesellschaft im Allgemeinen, dass sie aufhören möge, diese ständig einzufordern. Das Buch ist lose in sieben große Kapitel gegliedert, die von der Autorin aus problemlos getrennt voneinander gelesen werden können; sie spricht von einer "essayistischen Struktur". Es enthebt sie auch der lästigen Pflicht, dem Ganzen einen übergeordneten Roten Faden zu verpassen, aber das tut der Qualität der in den Kapiteln enthaltenen Gedanken glücklicherweise keinen Abbruch.

Der erste von Schutzbach besprochene Erschöpfungsfaktor ist zugleich der, der durch #Aufschrei und #MeToo der vermutlich einer breiten Öffentlichkeit bekannteste ist: die ständige sexuelle Verfügbarkeit. Es besteht eine leider besonders unter Männern weit verbreitete Erwartung weiblicher sexueller Verfügbarkeit, die sich weit über den eigentlichen Geschlechtsakt hinaus erstreckt. Schutzbach behauptet natürlich nicht, dass jeder Mann ein potenzieller Vergewaltiger ist, der nur durch massive Sanktionsdrohung von seinem Tun abgehalten wird (generell hält sie sich mit solchem biologistisch-determinstischem Blödsinn, der davon ausgeht, Männer seien eben genetisch auf solches Verhalten programmiert, wie er gerne von rechter Seite ("locker-room talk" etc.) propagiert wird, nicht auf).

Ihr geht es stattdessen um Phänomen wie die das Catcalling, also dem Hinterherpfeifen, auf den Po schlagen oder Zurufen anzüglicher Kommentare. Es gibt massenhaft soziale Experimente, die belegen, wie verbreitet dieses Verhalten immer noch ist (falls man den millionenfachen Aussagen der Frauen selbst keinen Glauben schenkt). Schutzbach beschreibt eindrücklich, wie kräftezehrend es ist, sich damit auseinanderzusetzen, weil Frauen dieses Verhalten zur Vermeidung von Konflikten und, leider, Gefahr oft einfach ertragen und weglächeln.

Gleiches gilt für Belästigung. Allzu oft ignorieren Männer die nonverbalen Signale von Frauen, nicht an einer Kontaktaufnahme interessiert zu sein und setzen sich über deren Grenzen hinweg. Auch hier stehen sie stets vor der Wahl, entweder gute Miene zum bösen Spiel zu machen, in der Hoffnung, das Problem erledige sich schnell von selbst, oder aber einen Streit und wiederum gegebenenfalls Gefahr zu provozieren. Denn leider reagieren Männer immer wieder gewalttätig, wenn sie die Aufmerksamkeit nicht bekommen, von der sie überzeugt scheinen, dass sie ihnen zustehe. Diese Verfügbarkeitserwartung geht so weit, dass viele Frauen schlechten Sex in Kauf nehmen, um die Erwartungen von miesen Dates nicht zu enttäuschen. Diese ständige sexuelle Verfügbarkeit erschöpft.

Der zweite Faktor ist die Frage des Selbstwertgefühls. Die in der Gesellschaft fest eingebaute Minderwertigkeit von Frauen gegenüber Männern wird von Schutzbach historisch anhand der Frauenbilder seit der Aufklärung aufgearbeitet. Diese Minderwertigkeit sorgt nicht nur für Doppelstandards, unter denen Frauen leiden, sondern bewirkt auch, dass sie - analog übrigens zu Migrant*innen - einem höheren Perfektionsdruck unterliegen, wenn sie die gleichen Stellungen erreichen wollen wie Männer. Diesem Perfektionsdrang fühlen sich viele Frauen unterworfen. Die Widersprüchlichkeit von Erwartungen an Frauen - einerseits unfaire Perfektionsstandards, andererseits Minderwertigkeit - erschöpfen sie konstant. Viele Frauen reagieren darauf mit einem Rückzug in die häusliche Sphäre und identifizieren sich über die Hausarbeit, nur um dort dann ebenfalls Perfektionsdrang zu unterliegen.

Der dritte Erschöpfungsfaktor besteht aus den Widerständen gegen Aktivismus. Frauen, die versuchen ihre Situation zu verbessern und für eine gerechtere Gesellschaft einzutreten, müssen gegen starke Widerstände eintreten. Es entsteht eine Erschöpfung durch den Dauerkampf. Das liegt nicht nur an den Anstrengungen dieses Kampfes selbst, denn die tragen selbstverständlich alle, die für bessere Umstände eintreten. Schutzbach streicht besonders die permanente Delegitimierung dieses Kampfes durch Inhaber von Privilegien heraus, was natürlich direkt mit Faktor zwei verbunden ist.

Besonders relevant fand ich die Betonung der Rolle der selbst ernannten "Leistungseliten", überwiegend (aber nicht ausschließlich!) ältere weiße Männer. Diese sind der Überzeugung, ihre privilegierte Stellung komplett eigener Anstrengung zu verdanken und bekämpfen Gleichstellungsmaßnahmen mit besonderem Nachdruck. Schutzbach führt dies näher aus, aber diese Diskussion hatten wir hier im Blog schon so oft, dass ich die Argumente als bekannt voraussetze.

Faktor vier der Erschöpfung ist einer, bei dem meine zwangsläufig männliche Sichtweise und ihre Beschränkung - ich habe keinerlei Erfahrung mit weiblicher Selbstwahrnehmung und kann die auch nicht haben - besonders durschlägt: die Körperscham. Schutzbach beschreibt einen unglaublichen Druck zu körperlicher Konformität, der auf Frauen lastet. Grundsätzlich ist das Phänomen hinreichend bekannt; die Schönheitsstandards an Frauen sind allgegenwärtiger und fordernder, als sie dies bei Männern sind (wobei sie hier auch zugenommen haben; wir streifen das Thema im Podcast). Dass das psychisch sehr belastend ist hört man ja aber seit langer Zeit einerseits in der Debatte um Pubertierende und Körperbilder, aber zunehmend auch, wenn es um die in der Werbung verwendeten Models geht.

Faktor fünf betirfft die Familien. Bei diesem Thema verlässt Schutzbach die allgemein bekannte Diskussion in meinen Augen am stärksten, schon alleine, weil sie explizit die stark gewachsene Belastung auch auf Männer thematisiert und zu einem Generalangriff auf gesellschaftliche Erwartungen an Familien ausholt. Sie betont stark den Druck, unter dem die moderne Kleinfamilie steht. Der Hauptgrund hierfür liegt ihrer Ansicht nach in den Ansprüchen an Perfektion bei der Kindeserziehung, der, erneut, auch auf Männern lastet.

Der Hauptgrund hierfür sei, dass die Kinder mittlerweile absolut im Mittelpunkt stünden. Die Eltern verschwänden demgegenüber fast vollständig, kommen als Subjekte praktisch nicht mehr vor, weil ihre eigenen Interessen delegitimiert und komplett den Bedürfnissen der Kinder untergeordnet würden. Man erkennt in diesem Angriff auf den Mythos der Kernfamilie deutliche Anknüpfungspunkte zu konservativer Gegenwartskritik über die Verweichlichung der "Jugend von heute". Zumindest empirisch lässt sich das problemlos nachweisen: Kinder und Jugendliche haben so viel Geld und Freizeit zur Verfügung wie noch nie zuvor, während gleichzeitig praktisch keine Pflichten auf ihnen lasten (Kinderarbeit ist praktisch abgeschafft, und in der Hausarbeit sind sie immer weniger eingebunden). Diese Ansprüche fressen Eltern auf und erschöpfen sie nachhaltig.

Der sechste Faktor dagegen ist geradezu prototypisch weiblich und wird ausschließlich als Frauen identifizierenden Menschen aufgebürdet. Es geht um emotionale Verfügbarkeit und letztlich emotionale Ausbeutung. Denn Frauen wird, beileibe nicht nur in der Familie, sondern auch am Arbeitsplatz, der Löwenanteil emotionaler Arbeit aufgebürdet. Ihnen obliegt die Verantwortung, für Harmonie zu sorgen und die Gefühle ihres Gegenübers nicht nur zu berücksichtigen, sondern ihnen oftmals auch die höhere Gewichtung einzuräumen. Schutzbach fordert klar, dass Frauen hier das Recht einfordern, ihr eigenes emotionales Befinden einerseits und ihre emotionalen Ressourcen andererseits selbstbestimmter an erste Stelle setzen zu können, wie dies für Männer selbstverständlich ist.

Wie auch beim Thema Körperscham kann ich hier nur aus der privilegierten Perspektive antworten, aber zumindest in meiner Lebensrealität trifft dies zu, und diverse von Schutzbachs Vorwürfen trafen. So liegt die Verantwortung für den Kontakt mit der Verwandtschaft, auch mit meiner eigenen, hauptsächlich bei meiner Frau. Ich bin super schlecht darin, wie sehr viele Männer, aber das ist eben - erneut - kein biologisches Schicksal. Frauen sind nicht durch Geburt besser darin, sondern bekommen es beigebracht, wie Schutzbach sehr schön herausarbeitet. Das passiert bei Männern einfach nicht, weswegen wir uns da oft sehr gut heraushalten können.

Der siebte und letzte Faktor ist einer, über den ich hier oft geschrieben und auch im Podcast gesprochen habe: die Verteilung der Care-Arbeit und der damit einhergehende Effekt auf die Karrierechancen. Auch diese Argumente sind Lesenden dieses Blogs sehr geläufig, weswegen ich sie an der Stelle gar nicht groß wiederkäuen will: auf Frauen lastet das hauptsächliche Gewicht der Hausarbeit, wir sind immer noch weit von einer Gleichverteilung entfernt, und wenn Frauen in die Erwerbsarbeit gehen, müssen sie die Care-Arbeit weiterhin erledigen, was einer Doppelbelastung gleichkommt. Schutzbach hat auch die entsprechenden Statistiken parat; das Missverhältnis ist wirklich erschreckend.

Beachtenswert finde ich, dass Schutzbach in ihrem Buch einer Falle sehr reflektiert und geschickt ausweicht, indem sie die Erfahrungen von Frauen aus der Mittelschicht absolut stellt. Stattdessen achtet sie jederzeit darauf, unterschiedliche Lebenswirklichkeiten zu berücksichtigen. Intersektionalität durchzieht das ganze Buch. Schutzbach vergleicht die Belastungen zwischen Frauen aus prekäreren Schichten mit denen der Mittelschichten bis hin zur Oberschicht, sie bezieht die Probleme von Migrantinnen und Menschen mit vom mitteleuropäischen Standard abweichendem Aussehen mit ein und sorgt stets dafür, dass ein facettenreiches Bild entsteht.

Meine Besprechung dürfte deutlich gemacht haben, dass ich das Buch rundum für gelungen und der Lektüre wert erachte.

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