Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.
Fundstücke
1) Putin ist der zweite Stalin
Die tatsächliche Geschichte des Zweiten Weltkrieges ist, dass Stalin diesen Krieg geplant hatte, der die ganze Welt erfassen und erst enden sollte, wenn auch noch die letzte argentinische Sowjetrepublik ein Teil der UdSSR geworden sein würde. Er hatte diesen Krieg geplant – lange bevor Hitler an die Macht kam. [...] Im Zweiten Weltkrieg waren amerikanische Generäle dabei, als ihre Truppen anlandeten. Japanische Generäle kämpften an der Seite ihrer Truppen. Guderian und Rommel führten die Schlacht direkt an. Nicht so die sowjetischen Generäle. [...] Diese Haltung gegenüber den eigenen Soldaten ging mit Terror gegen die einheimische Bevölkerung einher. Stalins Terror war gnadenlos, massenhaft und vor allem effektiv. Der größte Teil der stalinistischen „Partisanenbewegung“ hinter den deutschen Linien und besonders in der Ukraine war genau der Terror von Stalins Saboteuren, die hinter der Front bleiben mussten oder während des Rückzugs hinter den deutschen Linien zurückgelassen wurden. Zudem richtete sich dieser Terror in erster Linie nicht gegen die Deutschen, sondern gegen die örtliche Bevölkerung. [...] Der ganz normale Soldat, von den Generälen als Kanonenfutter verheizt, ließ seinen Zorn an der Bevölkerung aus. Auf deutschem Staatsgebiet vergewaltigten sowjetische Soldaten in deutsche Kriegsgefangenschaft geratene russische Frauen und befreite KZ-Häftlinge. [...] Insgesamt besetzte Stalin in den ersten beiden Jahren des Zweiten Weltkrieges als Verbündeter Hitlers Gebiete mit 23 Millionen Einwohnern. Der Große Vaterländische Krieg begann am 22. Juni 1941, als Hitler Stalin angriff. Wenn wir also Putins Strategie und Taktik mit Stalins Strategie und Taktik vergleichen, dann erkennen wir zweifellos Ähnlichkeiten – nicht mit dem propagandistischen Bild der „Befreier Europas vom Nazismus“, sondern mit der realen Praxis des Stalinismus. Putin verkörpert sowohl Hitler als auch Stalin gleichzeitig. Putins Armee ist immer noch Stalins Armee. (Julia Latynina, taz)
Was zur Hölle ist mit der taz los? Ich hatte schon vor einigen Wochen auf Twitter den Eindruck geäußert, dass es sich massiv nach rechts bewege (ich bin kein regelmäßiger Leser, deswegen waren meine Eindrücke sehr punktuell), aber mir wurde versichert, dem sei nicht so. Wenn aber solch harte Propaganda, solcher revisionistischer Müll, solche Kacke da unwidersprochen in den Spalten veröffentlicht wird, da muss man sich schon fragen, was da los ist. Der Historiker Johannes Breit hat einen lesenswerten Thread zu der Problematik geschrieben.
Dieser Artikel käut übelste Klischees wieder, relativiert den Krieg, stellt unhaltbare Thesen aus der Mottenkiste rechtsradikaler Historiker aus der alten BRD auf (fehlt nur noch die Präventivkriegsthese) und knallt mit dem "Putin = Hitler und Stalin" eine Vergleichskategorie hin, die einfach unerträglich ist. Solcher Mist kann echt weg.
Nachtrag: Stefan Reinecke hat in der taz mittlerweile eine Widerrede formuliert.
2) Wissings Klimaplan: Verkehrsminister will Abwrackprämie und 10.800 Euro E-Auto-Rabatt
Demnach plant der FDP-Politiker, die vorgesehene Kaufprämie für rein batterieelektrische Fahrzeuge oder Brennstoffzellenautos bis 2027 zu verlängern und deutlich zu erhöhen. Wer ein Auto mit einem Kaufpreis von maximal 40.000 Euro kauft, soll künftig statt 6000 Euro fast doppelt so viel erhalten: 10.800 Euro und damit mehr als 25 Prozent des Kaufpreises. [...] Den Kauf von Plug-in-Hybriden will Wissing im Gegensatz zu Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) weiter bis 2024 fördern und dies nicht bereits in diesem Jahr beenden. Den Zuschuss will er halbieren, auf 2250 beziehungsweise 1875 Euro je nach Kaufpreis. [...] Der Vorstoß dürfte für Ärger in der Koalition sorgen. Laut Koalitionsvertrag sollen eigentlich alle Kaufzuschüsse 2025 auslaufen. Auch ist im Koalitionsvertrag vereinbart, dass die Subvention bis dahin kontinuierlich sinken soll. Allerdings steht Wissing unter Druck: Der Verkehrssektor hat im vergangenen Jahr seine Klimaziele trotz Pandemie um drei Millionen Tonnen C02 verfehlt, allein in diesem Jahr muss er sechs Millionen weitere Tonnen einsparen. [...] Wissing hat noch 53 weitere Maßnahmen eingebracht, darunter ebenfalls kostspielige Sonderabschreibungen für E-Mobile sowie Förder- wie auch Forschungsprogramme fürs klimaneutrale Fliegen oder die Digitalisierung der Bahn und den Ausbau von Schiene und Nahverkehr. Und doch: Laut Gutachter wird die Klimalücke so groß wie in keinem anderen Sektor sonst bleiben: 159,5 Millionen Tonnen CO2 haben die Gutachter trotz der Vorschläge für das Jahr 2030 errechnet – mehr als der Verkehrssektor derzeit in einem Jahr emittiert. (Daniel Delhaes, Handelsblatt)
"Klimaneutrales Fliegen", was für eine Lachnummer. Eine reine Nebelkerze. Es gibt kein "klimaneutrales Fliegen", es gibt nur einen CO2-Ablasshandel, der im Gegensatz zum Aufbau von Windrädern (siehe letztes Vermischtes) wenig Substanzielles beiträgt. Auch die Förderung des Individualverkehrs ist eine völlige Sackgasse. Das beste Programm bliebe eine "Kein-Auto-Prämie" und eine entsprechende Infrastruktur. Die Hinwendung der FDP zum Staatssozialismus, von Tankprämie zur E-Auto-Pämie, ist wenig verwunderlich. In der Opposition lassen sich alle möglichen Dinge fordern, das hat schon Karl Lauterbach herausgefunden. Auch die FDP muss sich der politischen Realität stellen, nicht nur Lauterbach, da ist ein wenig Schadenfreude durchaus verdient. Dazu passt Hedwig Richters beißender Kommentar, dass Besitzende großer Wohnungen und Häuser ja von steigenden Energiepreisen auch mehr betroffen seien, ob wohl bald eine Heizkostensubvention für 150qm und mehr komme? Wissing bekommt für die ganzen Pläne auch schon ordentlich Gegenwind. - Zu der ganzen Diskussion siehe auch Fundstück 3.
3) Entlastet werden mal wieder vor allem die Reichen
Vieles dabei ist gut gemeint, aber zu vieles ist nicht gut genug gemacht: Die zwei Entlastungspakete sind zu wenig zielgenau, denn Menschen mit geringen Einkommen sind selbst nach den finanziellen Hilfen noch immer deutlich am stärksten vom Anstieg der Energiekosten betroffen. Und viel zu viele Menschen fallen ganz durch das Raster und erhalten wichtige Leistungen wie die Energiepauschale gar nicht, obwohl sie diese dringend benötigen würden. Die beiden Entlastungspakete sind symptomatisch für die fundamentalen Schwächen der deutschen Sozialsysteme: Sie sind zu wenig an den wirklichen Bedarfen der Menschen orientiert und verteilen zu viel Geld nach dem Gießkannenprinzip. [...] Die vielleicht größte Schwäche der Entlastungspakete zeigt sich jedoch in einer anderen Betrachtung: Der größte Teil der 23,6 Milliarden Euro, die die Bundesregierung für die Entlastung privater Haushalte aufbringt, landet nicht in den Taschen der Menschen mit geringen Einkommen und den größten Bedarfen. Sondern bei Menschen mit hohen Einkommen. Denn eine finanzielle Entlastung von 0,7 Prozent für einen Haushalt mit 100.000 Euro Jahreseinkommen bedeutet eine Entlastung von 700 Euro. Dagegen macht eine Entlastung von 3,7 Prozent bei einem Haushaltseinkommen von 15.000 Euro lediglich 555 Euro aus. (Marcel Fratzscher, ZEIT)
Marcel Fratzscher hat mit seiner Kritik völlig Recht. Alleine, sie geht in meinen Augen ein wenig in die Irre. Denn was er völlig ignoriert ist, zeigt sich deutlich, wenn man die englischen Fachbegriffe hernimmt. Die Entlastungspakete sind sehr schlechte policies, aber gute politics. Die policy-technisch vernünftige Variante, nämlich zielgesteuerte, unbürokratische Hilfen für die prekären Schichten, sind miese politics. Denn die potenziellen Empfänger*innen gehen überwiegend nicht wählen. Dagegen liefen die Mittelschichten Sturm, wenn die Programme ihnen nicht zugute kämen. Es gibt für diesen Mechanismus genug Beispiele. Die Politikwissenschaften sind deswegen längst zu der Einsicht gekommen, dass die besten Hilfsprogramme das Gießkannenprinzip nutzen. Sie haben die geringsten Reibungsverluste - und eine Chance zur Umsetzung. Auch wenn sie schlechte policy sind.
4) Bill Gates wants to build a dystopia
The massive investment required to make this vision happen is a good starting point. Where will it come from? Gates is a well-known philanthropist, and makes much of the more than US$2 billion which the Bill and Melinda Gates Foundation have ploughed into fighting Covid-19. Yet this is a small amount compared to the US$6 billion that the US government has invested in the Moderna vaccine alone. As Gates points out, “Most of the world’s greatest talent for translating research into commercial products is in the private sector… It’s the government’s role to invest in the basic research that leads to major innovations, adopt policies that let new ideas flourish.” [...] For Gates, technology really does provide all the answers, as it certainly has in his own life. He believes humanity belongs online: [...] Gates-World is one where citizens make sacrifices for his model to work. And it’s also one where class is totally ignored. Does Gates know what it was like for Angolan children to be forced to stay at home for seven months in 2020? He admits that internet connections need to be improved to make digital schooling possible — but does he understand that no IT in the world can help children of sex workers in Mumbai slums with their homework? Can he comprehend what it is like to be incarcerated in a flat with small children for months on end in New York, Shanghai or London? Gates wants to be respected, and understood. His world is one of innovative scientists having dinner with one another. They solve the world’s problems by the pool, or near the barbecue. It’s what he likes doing best, because “I’ve had some of the best conversations of my working life with a fork in my hand and a napkin in my lap” (p4). He wants to fund more and more work leading to experiences like this, and meanwhile turn the rest of human society into a digital avatar of itself. No doubt he means well. But you don’t need to indulge the conspiracy theories to realise that the road to hell is paved with good intentions. (Toby Gates UnHerd)
Ich kann mich nur eines um das andere Mal wiederholen: Milliardäre und Demokratie sind unvereinbar. Gates ist dafür ein gutes Beispiel. Verglichen mit den staatlichen Investitionen sind die seinen gering, aber er hat riesigen Einfluss. Die WHO, zu der er der zweitgrößte Beitragszahler nach den USA ist, ist weitgehend auf seine Wünsche hin ausgerichtet. Die Entscheidungen seiner "Foundation", deren Gemeinnützigkeitsstatus eine Parodie echter Gemeinnützigkeit ist, bestimmen die Gesundheitspolitiken weltweit. Seine Beiträge sind nicht erfolgreicher als die der Staaten (wenngleich auch nicht weniger erfolgreich), so dass auch die Selbstbeweihräucherung von der Überlegenheit des Privatsektors nur hohle Phrase ist. Ohne massive staatliche Investitionen hätten wir keinen Covid-Impfstoff, Pfizer hin, Gates Foundation her. Es wird Zeit, sich da endlich ehrlich zu machen und die idealistisch-naiven Träumereien von der heilenden Kraft der Milliardärsphilanthropie endlich ad acta zu legen. Das Geld wäre effizienter genutzt, würde es wegbesteuert und von den demokratisch legitimierten und kontrollierten Institutionen investiert.
5) Militarismus ist unfeministisch
Feministische Wissenschaftler*innen wie V. Spike Peterson haben schon in den 90er Jahren herausgearbeitet, dass der Nationalstaat „gegendert“ ist und mit patriarchalen Strukturen und Gewalt einhergeht. Eine feministische Perspektive konzentriert sich auf die Sicherheit von Menschen und vor allem die von Frauen und schwachen Teilen einer Bevölkerung. Werden die Waffenlieferungen diese also schützen? [...] Es ergibt aber nur „Sinn“, schwere Waffen zu liefern, wenn es Aussicht auf einen klaren und schnellen Sieg der Ukraine gibt. Doch leider ist es wahrscheinlicher, dass der Krieg lange andauern, zu einer direkten Auseinandersetzung zwischen Russland und dem Westen führen oder doch zu einem Atomkrieg eskalieren wird. Die Waffenlieferungen machen diese drei Szenarien noch realistischer. Diese wiederum werden noch mehr Tote, mehr Trauma – auch für Männer – und noch mehr Gewalt an Frauen bedeuten. [...] Eine Perspektive, die sich aus einer feministischen Theorie der Internationalen Beziehungen ableitet, macht aber deutlich, dass die Sicherheit von Menschen, nicht die Sicherheit von Staaten, zentral für unsere Überlegungen sein sollte. Die neue feministische Außenpolitik der Bundesregierung sollte ihr Handeln in diesem Krieg nach diesem Maßstab ausrichten und überprüfen, ob die Lieferung schwerer Waffen dieses Ziel wirklich verfolgt. (Hanna L. Mühlenhoff, taz)
Es ist spannend, die "feministische Außenpolitik" so auf eine reale Krise treffen zu sehen, weil er so seine eigenen Prämissen in Echtzeit quasi mit sich selbst aushandeln muss. Glücklicherweise tun die Beteiligten das auch mit intellektueller Offenheit, so dass man das gut begleiten kann. Ich sehe, was Mühlenhoff hier für eine Argumentation aufbaut: Militär und Nationalstaat werden als patriarchalische Konzepte, als gegendert, angesehen und stehen damit in Opposition zu einer feministischen Konzeption von Außenpolitik, die sich dem Schutz von Menschen, besonders Frauen und Kindern, verschrieben hat. So weit, so gut.
Das Problem, auf das Mühlenhoffs Argumentation prallt, ist, dass nur Militär und Nationalstaat diese Sicherheit schützen können. Gleichzeitig haben beide vordringlich die Sicherung der eigenen Existenz im Sinne; wo diese im Widerspruch zu Schutz von Menschen steht, versagen sie als Instrumente aus ihrer Sicht. Das wird einsichtig, wenn man es an einem Extrembeispiel festmacht: die Wehrmacht im Frühjahr 1945 diente nicht dem Schutz der Bevölkerung, sondern dem Erhalt des Deutschen Reichs - zwei Ziele, die sich zu diesem Zeitpunkt gegenseitig ausschlossen. Die Kapitulation wäre also im Sinne feministischer Außenpolitik das einzig angebrachte Mittel gewesen.
Das Problem ist, dass die Klarheit, die Mühlenhoff hier konstatiert, in der Ukraine nicht besteht. Die vergleichsweise niedrige Intensität der Kämpfe einerseits und die schlechte Performance der russischen Armee andererseits alleine garantieren schon, dass nicht klar ist, wie in einer utilitaristischen Abwägung das Ergebnis aussähe. Dieses Dilemma ist real, denn auch die Gegenseite kann natürlich nicht sicher prognostizieren, dass die Waffenlieferungen das erwünschte Ergebnis haben werden. Eine Auflösung lässt sich nicht wirklich finden - weswegen auch andere Faktoren überwiegen, etwa unser eigenes Sicherheitsinteresse. Und das spricht glasklar für die Lieferungen. Ist das die Grenze der Idee der feministischen Außenpolitik? Lohnenswerter Diskussionsgegenstand.
6) Liberalism gave us this hard new right
The future of conservatism will look like Friedrich Nietzsche meets Beavis and Butt-Head if things continue the way they have been going. As bad as this might sound for the right, it portends much worse for the left. Liberal pieties will not stand a chance against that threat. And liberals have only themselves to blame for what the right is becoming. [...] The more power the left gains, the more obvious its failures become, and the more it gives rein to its despotic desires, the more Americans rebel. The failure of the left does nothing to restore religion, localism, or constitutional philosophy, and as Americans become more socially atomized most of them find organized religion, local loyalty, and eighteenth-century philosophy baffling and unrelated. But they reject the left and its values nonetheless. They turned to Trump, and sooner or later their plight will be articulated by new philosophers, who will offer prescriptions for a social order no longer in fact grounded in Christianity or local affection. Don’t blame Donald Trump — this hard new right is the result of liberalism. (Daniel McCarthy, Spectator World)
Ich habe über dieses Phänomen der Verantwortungslosigkeit schon einmal 2017 geschrieben. Schuld sind immer die anderen. Es ist absolut zum Kotzen. Ja, natürlich fühlen sich Konservative von Progressiven angepisst. Ja, sie rejecten deren values. Was für eine Erkenntnis. Newsflash: das läuft auf der anderen Seite genauso. Ich könnte den Artikel problemlos spiegelverkehrt schreiben, als ein "die linken sind total überdreht und das ist allein die Schuld radikalisierter Konservativer". Es wäre genauso Quatsch. Das ist auf demselben Niveau wie Alice Schwarzers "Selensky provoziert Russland". Wenn deine schiere Existenz die andere Seite zu einem Vernichtungsfeldzug provoziert, was willst du dann machen? Entweder aufgeben oder gegenhalten. Putin ist genauso verantwortlich für seine Taten wie Amerikaner*innen, die sich mit Neonazis ins Bett legen. Dieses Abschieben von Verantwortung ist so ekelhaft, ich könnte kotzen. Party of personal responsibility, my ass.
7) Osterurlaub auf Sylt: Sohn von Verteidigungsministerin Lambrecht reiste in Regierungs-Hubschrauber
Mitte April berichtete Business Insider, dass Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) die Osterfeiertage auf Sylt verbracht hatte. Ungeachtet der russischen Offensive in der Ukraine war die Ministerin bis einschließlich Dienstag auf der Insel geblieben. Nun droht der Osterurlaub ein politisches Nachspiel zu haben: Nach Informationen von Business Insider flog Lambrechts Sohn Alexander mit einem Regierungshubschrauber in eben jenen Urlaub. Ein Foto, das der 21-Jährige auf seinem öffentlichen Instagram-Profil hochgeladen hat, zeigt ihn angeschnallt im Cougar-Regierungshubschrauber (Kosten pro Flugstunde: 5300 Euro). [...] Laut Dienstvorschriften ist die Nutzung der Flugbereitschaft eigentlich nur dem Bundespräsidenten, Kanzler, Ministern, den Präsidenten von Bundestag und Bundesrat und einigen wenigen weiteren Amtsträgern vorbehalten. Und wenn, dann zu offiziellen Anlässen. Persönliche Gäste dürfen kostenfrei mitreisen, wenn sie den Bundespräsidenten, den Kanzler und die Außenministerin begleiten. Alle anderen müssen 30 Prozent des Lufthansa-Normaltarifs bezahlen. Laut des Sprechers des Verteidigungsministeriums habe Frau Lambrecht den Mitflug ihres Sohnes am 8. April ministeriumsintern angemeldet und die Kosten dafür bezahlt. Er betont, dass alles „in voller Übereinstimmung mit den Richtlinien“ stattgefunden habe. (Lars Petersen/Josh Groeneveld, Business Insider)
Das ist die Art Skandal, für die ich überhaupt keine Geduld habe. Einmal abgesehen davon, dass im konkreten Beispiel abgesehen von der enttäuschten Erwartungshaltung der "investigativen Journalisten" nichts übriggeblieben ist (was dennoch in einem Artikel breit getreten wird, so dass auf jeden Fall etwas hängen bleibt), so frage ich mich ernsthaft, was der Unfug soll. Der Helikopter fliegt so oder so. Wenn er einen Platz frei hat, dann kann die Ministerin doch ihren Sohn mitfliegen lassen. Oder Hugo den Schoßhund. Das ist doch Latte.
Diese Art von Skandalen hat mich schon bei Wulff seinerzeit maßlos aufgeregt. Während Knalltüten wie Andreas Scheuer Milliardenschäden anrichten, ohne dass ihnen das im Geringsten schadet, oder andere im leider etwas anstrengender zu recherchierenden Wirecard-Sumpf untertauchen (ja, die Metapher gerät etwas außer Kontrolle, fuck it), werden Karrieren beendet und Wahlen entschieden, weil jemand lacht, sich ein Bobbycar schenken lässt oder der Sohn im Helikopter mitfliegen lässt.
Das ist so unglaublich kleinlich. Als ob das irgendwem schaden würde! Gehen wir davon aus, dass Lambrecht Junior Regierungspolitik beeinflusst, wenn er da mitfliegt? Wohl kaum. Aber für diejenigen reichen und vernetzten Leute, die das tatsächlich tun, haben wir Regeln, dass sie das (kostenfrei natürlich) dürfen, da gibt es bei diesen Reisen immer Kontingente. Und das macht ja auch Sinn! Aber warum sollte Lambrecht nicht ihren Sohn mitnehmen? Der Job ist so geil bezahlt jetzt echt nicht, lasst die Leute doch ihre Privilegien nutzen, da bricht sich niemand einen Zacken aus der Krone. Ich weiß gar nicht, was das ist? Neid? Missgunst? Eifersucht?
8) Biden Can Fight Inflation by Repealing Trump’s Tariffs. Why Hasn’t He?
One recent study finds that rescinding the Trump tariffs would reduce prices 1.3 percent. With inflation currently running over 8 percent, that would hardly resolve the crisis, but it would do more to alleviate it than any other step Biden could take on his own. [...] So why has Biden held off? Hans Nichols reported recently that the administration is split between its economic advisers and China hawks at the National Security Council, who believe Trump’s tariffs on China give them leverage to force concessions. Those concessions have yet to materialize, and in the meantime, inflation is killing Biden. Nichols also reports that, when one Biden official floated a partial tariff exemption, some labor officials objected. One grim lesson from this episode is that even in realms where the president can act freely without having to navigate Congress, other political considerations can freeze the process. There are interest groups to consider, some of which benefit from the status quo. And there are intraparty factional fights — in this case, a pro-labor faction that has only recently regained the upper hand from free traders and is loath to relinquish it due to a temporary emergency. (Jonathan Chait, New York Magazine)
Es ist wie ich in Fundstück 3 schon geschrieben habe, und letztlich gibt sich Chait die Antwort ja auch selbst: politische Zwänge (politics) erschweren eine objektiv sinnvoll erscheinende Politik (policy). Darum führt kein Weg vorbei. Es ist ja auch keine Dynamik, die politikspezifisch wäre; hier ist es nur besonders auffällig. In jedem Unternehmen gilt dasselbe: Entscheidungen, die vielleicht für das Unternehmen gut wären, werden nicht getroffen, weil innerhalb des Unternehmens etablierte Interessen dagegenstehen und sie blockieren. Und theoretische Möglichkeiten zum Handeln (die recht große, durch hierarchie Strukturen bedingte Machtfülle an der Spitze) stoßen auch hier auf reale Hindernisse.
Aber zum eigentlichen Thema: das Problem war von Anfang an, dass Protektionismus nicht nur mehrheitsfähig, sondern sehr beliebt ist. Dasselbe ist ja auch in Europa der Fall (und überall sonst). Noch nie waren Freihandel und Globalisierung, so positiv ihre Folgen auch sein mögen, die präferierte Option. Das Hirn mag anerkennen, dass sie Wohlstandsgewinne für alle bringen, aber Herz und Bauch entscheiden sich noch jedes Mal für Protektionismus. Und Biden weiß das.
What about the view, prevalent in some economic circles, that Milton Friedman finally got it right and the current inflation is a case of too much money chasing too few goods? Former Treasury Secretary Larry Summers is a notable supporter of this explanation, placing much of the blame for “too much money” on the Biden pandemic relief program, passed in early 2021. That case is doubtful at best. After the pandemic lockdowns, demand began to recover in June 2020, with support from the first tranche of pandemic relief in April 2020. That stimulus may have contributed modestly to an uptick in inflation in early 2021, but that was a small cost to prevent a protracted deep recession. Inflation indeed began to take off in March 2021—along with energy prices—but given the long lag between fiscal policy changes and changes in prices, Biden’s American Rescue Plan passed in March 2021 could not have been responsible for that. That program, along with the bipartisan infrastructure bill and deft vaccine distribution, did fuel the extraordinary job gains of the last 15 months. In that way, the Biden relief may have helped sustain the early 2022 uptick in inflation that, again, was driven much more by energy prices. [...] The current inflation is not only about energy. Many economists emphasize the strong demand from the 2021 boom colliding with global supply chain problems in China and at American ports. The pandemic shook up the economy, and those effects have contributed to inflation. (Robert Shapiro, The Washington Monthly)
Was mich bei solchen Artikeln immer wahnsinnig verwundert ist der nationalstaatlich eingeengte Blick. Die Inflation ist ein globales Phänomen, oder doch zumindest eines, das in der gesamten westlichen Welt auftritt. Logischerweise kann die Erklärung dafür nicht in einem rein amerikanischen Ausgabenprogramm liegen, genauso wie Stagflation der 1970er Jahre nicht an einer einzelnen nationalstaatlichen Policy festgemacht werden konnte.
Shapiro hat auf der anderen Seite völlig Recht damit, dass die Friedman'sche Erklärung wenig taugt. Die Geldpolitik ist als Inflationstreiber wesentlich weniger glaubwürdig als die Störung der Lieferketten durch die Pandemie und die massive Verteuerung von Energie - beides Faktoren, die außerhalb der Kontrolle der Wirtschaftspolitik liegen, ob nationalstaatlich oder überstaatlich. Wöllte man ernsthaft mit staatlichen Maßnahmen an die Sache heran, wären die Instrumente eher Preiskontrollen und Übergewinnsteuern (siehe Resterampe j)), aber ich bin sehr skeptisch, ob das nicht alles schlimmer machen würde. Dagegen bin ich sicher, dass eine Erhöhung der Leitzinsen vor allem eine Rezession mit sich brächte. Die senkt natürlich auch meist die Inflation, aber das kann den Preis kaum wert sein.
10) Robert Habeck könnte auch anders
Habeck bekommt für seinen eloquenten Terminallobbyismus viel Zustimmung und Zuneigung, weit jenseits des grünen Milieus. Da zeige ein Grüner Verantwortung in schweren Zeiten. Jetzt gehe es erst mal um Energiesicherheit, später dann um die Energiewende. In Zeiten des Krieges müsse eben auch mal ein Schweinswal dran glauben. So oder so ähnlich lauten die Kommentierungen – auch weil Habeck, anders als seine Vorgänger, schnell handelt und schnell neue Gesetze macht: An diesem Mittwoch verabschiedete das Kabinett beispielsweise das LNG-Terminal-Beschleunigungsgesetz. [...] Was aber, wenn man die Perspektive ändert und infrage stellt, dass es dieses Entweder-oder zwischen Naturschutz und Sicherheit gar nicht gibt oder nicht geben müsste? [...] Was aber nicht stimmt, ist die Schlussfolgerung, dass wir unweigerlich all die vielen neuen Terminals in Deutschland brauchen und auch noch solche, die erst dann fertig werden, wenn wir längst viel mehr Energie aus Wind und Sonne beziehen sollten. Eine gerade veröffentlichte Studie der Energieexperten von Atelys sagt sogar, dass bei der richtigen europäisch gedachten Energiepolitik fast gar keine zusätzliche feste Gasinfrastruktur nötig sei, ergo kein Ausbau fester Gasterminals. [...] Und was ist überhaupt mit Energiesparen? Was, wenn die Regierung das noch viel stärker fördern und vor allem fordern würde. Von der Industrie, von der Bevölkerung? Und zwar durch Gesetze, Regeln und Preise. Denn wie viel Gas Deutschland heute, morgen oder übermorgen noch braucht, das ist nicht Gott gegeben, sondern eine Folge von vielen Entscheidungen. (Petra Pinzer, ZEIT)
Wir haben hier einmal mehr das Thema politischer Zwänge. Vielleicht hat Pinzer mit ihrer Kritik Recht, vielleicht nicht; ich kenn mich dafür in der Gasbranche zu wenig aus. Fakt ist, dass die beschriebenen Alternativen schlichtweg nicht zur Debatte stehen. Warum nicht? Erstens, die LNG-Geschichte ist mindestens so sehr Außenpolitik wie Wirtschaftspolitik. Da werden noch ganz andere Ziele mit verfolgt, unter anderem eine Bindung an die USA und umgekehrt. Zweitens, klar ist nicht 100% sicher, wie viel Gas wir brauchen, aber kein Energieminister kann es sich leisten, einfach mal auf Verdacht hin auf Reserve zu fahren. Drittens, klar wäre es nice, wenn wir den Verbrauch einfach einschränken, aber als ich das letzte Mal nachgeschaut habe hatten die Grünen nicht 67% der Stimmen in Bundestag und Bundesrat und haben Koalitionspartner. Davon abgesehen ist auch hier völlig unklar, ob und in welchem Maße das hilft. Die Reihenfolge ist einfach falsch: von sicherer Versorgung runtersparen - sofort. Sparen in der Hoffnung dass es reicht - das ist Kriegswirtschaft. Und in einem demokratischen System sehe ich das einfach nicht.
Resterampe
a) Es gibt eine neue Studie mit Schätzungen für die Folgen eines Gas-Embargos. Der Ton ist apokalyptisch. Ich kann das nicht beurteilen, ich lasse es einfach mal da.
b) Peak Steingart.
c) Und ein Thread über Steingarts Verwicklungen mit Kreml-Propaganda. Klickhure.
d) Als Ergänzung zu der Luftfiltersache aus dem letzten Vermischten hier eine kurze Abhandlung über den Forschungsstand zu Aerosolen.
e) Ich habe zur jüngst in Podcast und Rezension besprochenen Thematik von Mental Load und Equal Care diesen großartigen Fragebogen gefunden und mit meiner Frau ausgefüllt. Ihr Ergebnis, meines, und eines, das ich für mein Ich von vor 5 Jahren gemacht habe.
f) Guter Thread zu den grundlegenden Problemen deutscher Auslandseinsätze.
g) Nur ein weiterer Tag in Bayern. Konzentrieren wir uns lieber auf Instagramposts von Ministerinnensöhnen.
h) Und ja, Lambrecht ist eine Social-Media-Niete
i) Lesenswerter Essay zur Erinnerungskultur. Und noch einer.
j) Ich kenne mich in der Debatte um die Übergewinnsteuer zu wenig aus, um das zu kommentieren, und lass deswegen mal nur diesen Artikel da.
k) Was den Blödsinn mit Lambrecht noch nerviger macht ist, dass viele andere das auch machen, und teils sogar ohne zu zahlen. Sie kriegt es gerade nur arbiträr ab.
m) Elon Musk ist so ein abgehobenes Arschloch ohne Ahnung, das ist echt Wahnsinn.
n) Guter Thread zur nuklearen Abschreckungslogik mit Russland.
o) Wird euch alle überraschen, aber es gibt sehr viele Rechtsextremist*innen bei den Sicherheitsbehörden.
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