Dienstag, 31. Mai 2022

Gini Thomas und Lisa Fitz senken die ukrainischen Einkommenssteuern und kaufen Sprit bei den Taliban - Vermischtes 31.05.2022

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.

Fundstücke

1) Nach dem Fall Lisa Fitz

Die Eskalationen verlaufen nicht alle nach dem gleichen Muster. Aber gemein ist den Kritikern daran oft eine problematische Interpretation des Begriffs der Meinungsfreiheit und einer Satire, die ja angeblich "alles" darf. Es sind allesamt Fälle, die das Spannungsverhältnis zwischen Fake News, falscher Ausgewogenheit und Meinungsfreiheit berühren. Rassismus beispielsweise ist keine Meinung. Und der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, hat – egal ob es nun um israelbezogenen Antisemitismus oder den Antisemitismus etwa der "Querdenker"-Bewegung geht – ebenfalls zu Recht betont: "Antisemitismus ist keine Meinung." [...] Doch darum geht es längst nicht mehr. Lisa Fitz ist, ein schleichender Prozess, in ihrer Empörung über "die da oben" abgedriftet. Der Spiegel schreibt: "Sie spaltet selbst: Sie will differenzierte Kritikerin sein und bedient doch immer wieder ganz simpel die Radikalisierten." Beifall bekomme sie von den ganz Rechten, den ganz Linken und den ganz Verwirrten. [...] Zum Teil rekrutiert Lisa Fitz ihre Verteidiger auch selbst. 2019 gaben die Linken-Politiker Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine eine Ehrenerklärung für Fitz ab, nachdem diese wegen antisemitischer Äußerungen in der Kritik stand. Zum Streit mit dem SWR veröffentlichte sie auf ihrer Homepage eine Solidaritätsadresse von Klaus Hartmann, einem Funktionär des Freidenker-Verbands, der in anderen Texten für Solidarität mit Ken Jebsen plädierte und Massenmedien "Volksverdummung" vorwirft. Als Anwalt in der Auseinandersetzung mit dem SWR beauftragte sie Ralf Höcker aus Köln, der unter anderem wegen seines AfD-Mandats bekannt ist. [...] Nach der Sendung sagte Kazim dem journalist, er halte die Vorgehensweise des SWR für richtig. Zu oft werde Meinungsfreiheit mit Widerspruchsfreiheit durcheinandergebracht. "Wer Falsches, Verleumderisches, Beleidigendes, Menschenverachtendes oder wer Lügen verbreitet, muss damit rechnen, dass dies kritisiert und ihm oder ihr keine Bühne geboten wird. Mit Einschränkung von Meinungsfreiheit hat das nichts zu tun." Über Lisa Fitz sagt Hasnain Kazim: "Ich fand sie nie komisch. Aber das tut nichts zur Sache, Humor ist Geschmackssache. Sie hat sich allerdings in eine Ecke verrannt, aus der sie nicht mehr rauskommt. Sie ist in einer Trotzhaltung gefangen." (Matthias Meisner, Journalist.de)

Fitz ging einen Weg, den wir in der letzten Zeit oft gesehen haben. Durch den Doppelschlag von Flüchtlings- und/oder Coronakrise radikalisiert erfolgte eine Annäherung an die Querdenker und andere Hufeisenkrieger*innen. Der Beifall Oskar Lafontaines und Sahra Wagenknechts ist dafür typisch, genauso dass sie danach bei den NachDenkSeiten unterkam. Das Gegenstück dazu, das sich dieser Tage vom Duktus her ohnehin nicht mehr unterschiedet, wäre Compact. Irgendjemand müsste mal eine Studie mit diesen Leuten machen - Guérot und Homburg gehören ja beispielsweise auch in dieses Spektrum.

Gleichzeitig sehen wir auch immer wieder das gleiche Problem mit der Verteidigung von wegen "ist ja nur Satire". Denn tatsächlich darf Satire zwar alles, aber das macht sie halt noch nicht gut. Die Verwechslung von Meinungs- und Widerspruchsfreiheit nervt mich bereits seit Monaten; das ist nicht dasselbe. Das Label "Satire" drüberzukleben ist nur der letzte Hit. Gerade die Rechtsradikalen in den USA sind da super drin. "It's just a joke." Nur, das tut halt nichts zur Sache. Ob ich Grütze in Witz- oder Prosaform erzähle, es bleibt Grütze, und es gibt keinen Grund für die Gesellschaft, dem eine Bühne zu bieten. Dass man es sagen darf, ist dem unbenommen.

2) «Wie bekommen wir alle diese Krisen bloss unter einen Hut?» (Interview mit Adam Tooze)

Warum scheuen Sie den Begriff der Inflation?
Bei einer Inflation steigen die Preise und Löhne umfassend. Natürlich gab es in der Geschichte noch nie eine Inflation, die zu einem völlig gleichmässigen Anstieg führte, aber derzeit entwickeln sich die Preise über die verschiedenen Waren­kategorien und Dienst­leistungen extrem unterschiedlich. Ein Grund dafür ist auch der enorme Nachfrage­schub – und zwar weg vom Dienstleistungs­sektor hin zu jenen Gütern, deren Herstellung immer weniger menschliche Arbeit erfordert. Deshalb steigen in den USA bestimmte Güterpreise. Die Löhne steigen auch, aber nicht im gleichen Masse. Die Reallöhne fallen sogar auf beiden Seiten des Atlantiks. Konservative fordern nun, dass Unter­nehmen die Löhne tief halten sollen, um die Inflation zu dämmen. Das ist entlarvend: Sie zeigen, dass Inflation nur in Güter­kategorien gedacht wird, während eine Inflation im wahren volks­wirtschaftlichen Sinne alles umfasst – auch die Löhne. [...]

Der Wirtschaftskrieg droht vor allem auch, die notwendige Dekarbonisierung zu verzögern. Für die Energie­wende braucht es China.
China ist der Leitmarkt. Das gilt in einem generellen Sinn, aber es gilt auch in einem sehr konkreten Sinn – zum Beispiel für die Autofirma VW, weil der entscheidende Markt für Elektro­fahrzeuge in China entsteht. Tesla ist gut und recht, aber das Durchschnitts-Elektroauto wird ein No-Name-Billig­produkt sein, das in China rumfährt. Eine Grossfirma wie VW hat keinen Plan B, falls das Geschäft in China stillsteht. Der VW-Vorstands­vorsitzende, Herbert Diess, spricht das ganz offen aus. Er sagt: Wir müssen mit China im Geschäft bleiben, anders geht es gar nicht. Die Vernetzung mit China ist heute so intensiv, dass eine Abkoppelung für eine ganze Reihe von westlichen Gross­firmen eine existenzielle Frage wäre. (Daniel Binswanger, Elia Blülle, Republic.ch)

Das ganze Interview ist sehr lang und in dieser Gänze lesenswert, ich habe hier nur einen Auszug genommen. Die Polikrise macht diese Länge notwendig. Aber zum Thema. Etwas, das mich an der Inflationsdebatte nervt, ist die Unbestimmtheit, mit der diese oft geführt wird. Es entsteht gerne der Eindruck, als sei sie allgemein und nicht wirklich zuweisbar. Aber die Preise steigen ja extrem uneinheitlich, einerseits, und andererseits wissen wir sehr gut, warum sie steigen. Weder treiben die Löhne die Inflation noch ist es die Geldpolitik der EZB; es sind die Lieferkettenschocks durch China und seine Coronapolitik einerseits und der Ukrainekrieg andererseits. Aber die Linken haben effektiv keine Antwort auf die Inflation, und die Rechten hauen mit demselben ideologischen Hammer, egal welcher Nagel gerade da scheint.

Was Tooze bezüglich der Vernetzung mit China anspricht, kann meines Erachtens nach auch nicht genug betont werden: zwischen der Wirtschaft des Westens und der der Sowjetunion gab es praktisch keine Verflechtungen; was es an Beziehungen gab, lief fast nur in eine Richtung (Importe in den Ostblock, der immer stärker abhängig wurde, ein viel zu unterschätzter Faktor beim Untergang der UdSSR und des Ostblocks). Mit China dagegen gibt es ein riesiges Netz an gegenseitigen Abhänigkeiten und Verflechtungen, das eher dem der europäischen Großmächte am Anfang des 20. Jahrhunderts entspricht. Nicht, dass das Frieden garantiert hätte, aber es bedeutet, dass die Rezepte des Kalten Krieges, wie sie gerade gegen Russland wieder ausgegraben werden, gegen China wesentlich weniger anwendungsfähig sind.

3) The novelty of technologically regressive import substitution

To further complicate the matters of technologically retrograde import substation, we need to take into account the labour force. In past import substitution episodes, workers were relatively low-skilled and import substitution policies were supported by policies of improved education in order to have workers able to “man” the new and more sophisticated machinery. In the Russian case now, the problem is exactly the reverse. Russia has a labor force that is highly educated and tends to move towards post-industrial areas, like in other advanced economies. But here it would have to go down in its skills levels to be adequate for the operation or (re)creation of the technologically regressive import substitution. To put it in graphical terms: while the original import substitution required that semi-literate peasants learn a bit of arithmetic in order to “service” the machines, here we would expect software engineers to become metal-bashing workers or foremen in large factories. This is because the demand for their (advanced) kind of skills will be reduced as Russian economy is cut off from the global market, and domestically there will be few similarly advanced sectors that would employ them. There will be thus a mismatch between the skill level of the laboür force and the skill level technologically needed. Suppose that workers of high skill level (HW) are needed to work with highly sophisticated machines, say robots (HM). But if HM are unavailable because previously they were all imported and they cannot be produced at home, the technological level of home-produced machines will be medium, call it MM. For MM however, one does not need HW workers but medium skilled workers MW. Thus, one needs to proceed to the deskilling of high-skill workers or just simply to ignore their level of education and “allocate” them to the jobs for which they are over-qualified. It is hard to believe that workers would find such repositioning attractive whether in terms of income, or challenge of, or interest in, the work they do. From the economic point of view this forced experiment will be interesting to observe since, as I mentioned, nothing similar in modern history has ever happened, but I do not think that it will be very much fun for the participants. (Branko Milanovic, Brave New Europe)

Das Beispiel Russland aus Fundstück 2 können wir hier gleich fortführen. Die von Milanovic angesprochene Regression ist überhaupt nur möglich, weil das Land so wenig Verflechtung mit der Weltwirtschaft hat. Für den Diktator im Kreml mag das positiv sein, aber für die russische Bevölkerung, vor allem die ohnehin schmale Mittelschicht des Landes, ist es nicht gerade sonderlich ansprechend.

Ein weiterer Gedanke hierzu: je länger wir warten, um den Klimawandel zu bekämpfen, und je radikaler deswegen die Maßnahmen werden, die wir ultimativ werden ergreifen müssen, desto eher dräut uns dieses Szenario auch. Ich habe mich direkt an "World War Z" (hier rezensiert) erinnert gefühlt, wo Max Brooks diese technologische Regression anhand der Zombieapokalypse durchdekliniert: die früheren Topjobs in Verwaltung, Finanzwesen, Bildung etc. werden nicht mehr gebraucht, die Leute umgeschult um in Fabriken das Notwendigste herzustellen. Wenn eine Zombieapokalypse der naheliegendste Vergleichsmaßstab ist, dann spricht das nicht eben für das Szenario.

4) George W. Bush Stumbles Into a Moment of Truth

Two striking and contradictory facts are true: there is a wide consensus across the political spectrum that the Iraq War was a mistake—possibly a crime. Yet there is no realistic possibility of punishment for those who perpetrated this disaster. Donald Rumsfeld died a free man, as in time will Dick Cheney and Bush himself.  [...] The refurbishing of Bush’s reputation was a travesty of history that helps obscure the current crisis. The dichotomy of the respectable Bush versus the unsavory Trump ignores the ways in which Trumpism was an outgrowth of Bushism. The ginned-up hysteria and threat inflation of the global war on terror, followed by an interminable military intervention was the seedbed where the surly nationalism of Trumpism took root. Combine this with the anger over the 2008 economic collapse (for which Bush surely also bears a considerable share of blame) and the elite impunity that made sure no one was punished for either the foreign policy or the economic failure. That is the concoction that gives you the current polarized America and the rise of anti-system demagogues. (Jeet Heer, The Nation)

Ich bleibe dabei: es war richtig von Obama, die Bush-Administration rechtlich nicht zu verfolgen. Hätte sie es verdient gehabt? Ohne Zweifel. Aber die Folgen sind potenziell verheerend. Egal, wie berechtigt es im Falle von Bush, Rice, Rumsfeld und Konsorten auch gewesen wäre - die Republicans hätten ohne Zweifel zurückgeschlagen und ihrerseits ab 2017 die Obama-Administration vor Gericht gezerrt. Aus so etwas entsteht schnell ein Teufelskreis, der die Demokratie in den Abgrund zieht. Mich erinnert dieses Szenario immer an Cäsar, der den Rubikon vor allem deswegen überschritt, weil er in Rom mit Anklage zu rechnen hatte. Der Bürgerkrieg war der einzige Ausweg aus dem persönlichen Ruin.

5) „Schlafwandeln“ wir gerade in den 3. Weltkrieg? (Interview mit Christopher Clarke)

Und Olaf Scholz?
Was Olaf Scholz angeht: Ich finde diese Zögerlichkeit absolut richtig, und sie geziemt sich auch für den Staatsmann einer friedliebenden Nation. Ich finde, Olaf Scholz hat den richtigen Ton getroffen. Ich denke da auch an seine Rede in Düsseldorf, als er vom Gejohle der Menge übertönt wurde, da hat er gesagt: Es muss einem Staatsbürger der Ukraine zynisch vorkommen, wenn man ihm sagt, er soll sein Land ohne Waffen verteidigen. Das war ein toller Augenblick. [...]

Erleben wir mit dem Ukraine-Krieg einen Epochenbruch und treten jetzt in eine andere Zeit ein?
Interessant ist der Epochenbruch, der nicht eintritt. Der russische Außenminister Lawrow und auch einige chinesische Politiker haben in den letzten Jahren oft vom Ende des westlichen Zeitalters gesprochen. Aber es sieht nicht so aus, als würden wir in den nächsten Jahren in ein nachwestliches Zeitalter eintreten. Ganz im Gegenteil. Der Westen steht eher stärker da. Die NATO ist noch vollkommen funktionsfähig, und auch die EU hält, trotz einiger Spannungen, insbesondere durch Ungarn. Die apokalyptischen Träume von einem Übergang in ein anderes Zeitalter haben sich wie Seifenblasen verdünnisiert. Es ist noch nicht vorbei mit dem Westen. Aber es ist auch nicht vorbei mit Russland. Man darf Russland nicht abschreiben. Egal, was bei dieser Sache herauskommt, man muss für Russland eine ihm gebührende Rolle für die Zukunft einbauen. (dpa, Krone.at)

Ich habe an dieser Stelle schon öfter darüber geschrieben, dass die Churchill-Verehrung der Briten völlig überzogen ist. Dass ausgerechnet Boris Johnson diesen Vergleich bemüht setzt dem Ganzen nur noch die Krone auf. Aber das ist eben das was passiert, wenn man eine völlige Fantasieversion der eigenen Geschichte permanent reproduziert und damit identity politics in landesweitem Maßstab betreibt. Gleichzeitig stimme ich Clarke auch bezüglich Scholz zu: ich teile die maßlose Kritik an ihm und seinem Stil, die derzeit en vogue ist, nicht. Ich würde mir auch mehr deutsches Engagement wünschen, aber es ist nicht eben so, als hätte Scholz keine Strategie, die er verfolgen würde.

Auch wichtig scheint mir Clarkes Hinweis darauf, dass der Abgesang auf den Westen offensichtlich sehr verfrüht war. Den Untergang des Westens zu prognostizieren hat ja eine gewisse Tradition, und was dran war bisher noch nie. Die liberale Demokratie ist wesentlich widerstandsfähiger, als es bisweilen scheint, und sie stellt immer noch das beste bisher erprobte Regierungssystem dar, das auf der ganzen Welt Strahlwirkung besitzt, wenngleich nicht in dem Ausmaß, in dem manche amerikanische Kulturkrieger*innen sich das Anfang der 2000er Jahre gedacht haben mögen. Aber man sollte nicht von den Neocons auf den ganzen Westen schließen, das hieße, die Lektion zu überlernen.

6) Die Dummheit der Reichen

Die Vorstellung, dass man sich vor Hunderten Millionen Klimaflüchtlingen in einer Festung auf Neuseeland oder, noch abwegiger, in den österreichischen Alpen wird verstecken können, ist fast schon rührend absurd. Übrigens auch die Vorstellung, dass man als Reicher in so einer Post-Crash-Welt auch weiterhin reich ist. Warum sollte das eigene Sicherheitspersonal einen noch beschützen, wenn Geld nichts mehr wert ist und es ums nackte Überleben geht? Die Vorstellung, dass man eine globale Katastrophe nicht am besten verhindert, sondern eine Position anstrebt, in der sie einen nicht so hart trifft wie die anderen, ist so egozentrisch wie dämlich. Aber auch eine absolut folgerichtige, apokalyptische Fortschreibung neoliberaler Ideologie. Ich, ich, ich, bis das Licht ausgeht. Die Reichen der Welt täten gut daran, lieber an der Rettung der Menschheit mitzuarbeiten – in ihrem eigenen Interesse. (Christian Stöcker, SpiegelOnline)

Bei diesem Fundstück hab ich mich gleich noch mal an "World War Z" erinnert gefühlt (siehe Fundstück 3). Da gab es auch ein Kapitel, in dem es darum ging, dass einige Reiche sich so private Festungen gebaut hatten, mit eigenem Sicherheitsdienst und allem drum und dran. Als die Apokalypse dann da war kam es für alle überraschend, dass der private Sicherheitsdienst gar nicht mehr dermaßen an Bezahlung in wertlosem Geld interessiert war, aber sehr an der Übernahme (und Plünderung) der privaten Festungen. Die Vorstellung, dass der aktuelle Zustand, in dem der liberale Staat Sicherheit und Wohlstand garantiert, in der Apokalypse auch noch Bestand haben könnte, ist völlig absurd. Elon Musk ist mit seinen Plänen, auf dem Mars eine eigene Kolonie zu gründen, noch der Realist in dem Haufen, und er hat wohl auch nie Bioshock gespielt.

7) Welche Folgen Long Covid für Deutschland hat

Wie vielen Menschen es so geht wie Marie-Louise Wagner, ist ungewiss. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass jeder zehnte Covid-19-Patient Long Covid bekommt. Über 25 Millionen Menschen haben sich bereits in Deutschland mit Corona infiziert. Umso fataler ist die Tatsache, dass diese neue Krankheit inzwischen zwar eine offizielle Diagnose ist, jedoch immer noch nicht genügend erforscht. [...] Es würde also nur versucht, die Schmerzen und auftauchenden Probleme zu behandeln, jedoch nicht die Ursache bekämpft, so Daniel Vilser. Bestimmte Probleme lassen sich eindeutig auf Organschädigungen von Lunge, Muskeln, Gehirn oder Herz zurückführen. Erschöpfung ist das häufigste Symptom, gefolgt von Kurzatmigkeit, Kopfschmerzen, Konzentrationsstörungen, Muskelschmerzen, Gedächtnisproblemen, Herzrhythmusstörungen und Gelenkschmerzen. "Es trifft auch junge Leute, aktive Leute, die gut trainiert sind, die gesund sind", sagt der Arbeitsmediziner Arne Drews. "Was mich besonders erschreckt hat, ist so etwa 20 bis 25 Prozent von den Leuten, die das durchgemacht haben, die berichten über Minderleistung vom Gehirn", so der Pneumologe aus Grimma. Das sieht er auch als wirtschaftliches Problem. Denn viele könnten, einfach nicht zurück in ihren Beruf kommen. "Viele Leute sind noch nicht wieder arbeitsfähig mit diesem Post-Covid-Syndrom und die müssen alle lange kämpfen, wieder ihren Zustand von vorher zu erhalten." "Wir werden die Debatten haben, was ist eine Berufsunfähigkeit?", sagt Prof. Joachim Kugler, Gesundheitswissenschaftler an der Technischen Universität Dresden. Es werden einige Fälle vor Gericht landen. "Denn wie will ich nachweisen, dass ich mir ausgerechnet bei der Arbeit Covid-19 geholt habe? Das könnte bei Krankenpflegeberufen so sein. Aber das werden wir alles erleben, wie unser Sozialstaat darauf reagieren wird." (MDR)

Angesichts der Masse von Long-Covid-Fällen ist es wahrlich ernüchternd sich auszumalen, welche Folgekosten das für das Gesundheitssystem noch haben wird (mal abgesehen von der Belegung von Kapazitäten, die an anderer Stelle dringend fehlen; das System war ja schon vor Covid auf Kante genäht). Bezieht man Long-Covid in die Kalkulation ein (was viel zu wenig geschieht), so wird so manche Kosten-Nutzen-Rechnung fragwürdiger und auch viele der Freiheitsnarrative zumindest schwammiger. Denn die Beeinträchtigungen sind massiv und weit verbreitet. Angesichts der Zahlen vor allem erscheinen diverse Aufrechnungen da viel weniger eindeutig als wenn man nur Mortalität und Grundrechtseinschränkungen vergleicht (auch wenn das teilweise schon pervers ist).

8) »Die Taliban verschicken keine Mahnung, bevor sie dich abknallen«

Die Geschichte der Familie M. zeigt, wie Unterstützern der Deutschen immer noch Hilfe verwehrt wird – und wie sich auch die aktuelle Bundesregierung aus der Verantwortung windet, trotz anders klingender Versprechen. In den Häusern der Familie M. hätten 400 bis 500 Afghaninnen und Afghanen Zuflucht gefunden, schätzt Sabur M., der die Hilfe für seine Verwandten koordinierte. Die meisten Schutzsuchenden hatten für die Deutschen gearbeitet, sie waren Köche, Übersetzer, langjährige Mitarbeiterinnen. Nachdem die Sicherheitslage über Monate immer gefährlicher geworden war, fürchteten viele spätestens im vergangenen Sommer um ihr Leben. Die Deutschen konnten wenig Schutz anbieten. Familie M. schon. Pro Haus nahmen sie bis zu hundert Menschen auf – geplant waren ursprünglich 30. Teilweise schickten die Deutschen ihre ehemaligen Mitarbeiter gleich selbst in die privaten Verstecke. [...] Inzwischen sind die Safe Houses womöglich erneut zu einer Todesfalle geworden – für ihre früheren Betreiber. [...] Seitdem warten die Sabur M.s Angehörige auf Rettung. Er selbst ist in Deutschland geboren und aufgewachsen, doch nach der Machtübernahme der Taliban konnte auch er nur noch über Umwege zurückkehren. [...] »Dass ich meine Familie damals überredet habe, den Deutschen zu helfen, war der größte Fehler meines Lebens«, sagt Sabur M. heute. Wie viele Afghanen, die derzeit noch auf Ausreise warten, hatten die Angehörigen von Familie M. das Pech, auf keiner offiziellen Evakuierungsliste zu stehen. (Jan Petter, SpiegelOnline)

Die Verantwortung lässt sich in diesem Falle leicht zuweisen: die Bremse ist Faesers Ministerium. Das BMI bremste unter Seehofer so weit es nur irgendwie konnte die Rettung der Ortskräfte, und das scheint sich unter der SPD nicht wesentlich geändert zu haben. Ich habe es bereits in meinem Artikel "Der große Verrat" beschrieben: es ist ein Totalversagen Deutschlands, das uns noch Jahrzehnte nachhängen wird. Warum sollte angesichts solcher Geschichten bei irgendeinem Auslandseinsatz jemand den deutschen Truppen helfen wollen? Die toten afghanischen Ortskräfte von heute sind tote Bundeswehrsoldat*innen von morgen, die keine Verbündeten haben, schlechte Aufklärung und die in Fallen von Verrätern laufen. Von den Kosten, weil man externes Personal braucht wenn niemand vor Ort zur Kollaboration bereit ist gar nicht zu sprechen. Es ist so unglaublich kurzsichtig. Anstatt die paar Tausend Leute großzügig reinzuholen, lässt man sie von den Taliban abschlachten. Man schämt sich für diese Regierenden.

9) Für billigen Sprit zahlen alle

Der kleinste Koalitionspartner führt damit nicht nur einen seiner zentralen Glaubenssätze ad absurdum, er liefert auch ein hervorragendes Beispiel für die Verzerrungen, die ein solcher Eingriff bewirken kann. Ein Tankrabatt setzt falsche Anreize. Das ist offensichtlich – politisch alternativlos ist es allerdings keineswegs. [...] Die Kosten fallen trotzdem an, sie werden allerdings von der Allgemeinheit getragen, und der oder die Einzelne bezieht sie deshalb nicht in die persönliche Entscheidung ein. Die Steuersenkung verfälscht also das Signal, das der Preisanstieg gibt, nämlich dass Öl knapp ist und wir weniger davon konsumieren müssen. Noch schlimmer: Wer von der Subvention profitieren will, muss tanken. Der Tankrabatt befördert also etwas, das eigentlich reduziert werden sollte. [...] Das Entlastungspaket gibt mit seiner Energiekostenpauschale sogar einen Hinweis, wie ein Mittelweg in diesem Konflikt aussehen könnte: Zuschüsse, die nicht an irgendeinen Ausgabezweck gebunden sind. So können die Menschen sich wieder mehr leisten, aber haben trotzdem das ganze Ausmaß der Verteuerung vor Augen. Sie entscheiden nun auf Grundlage von Preisen, die die reale Verfügbarkeit widerspiegeln. (Josa Zeitlinger, taz)

Die FDP wählt verlässlich immer die bürokratischste und ineffizienteste Methode zur Subventionierung. Entweder verteilen sie die Kohle wie hier über zig Filter, fordert eine Senkung der Einkommenssteuer oder will wie mit Hubertus Heils geplantem Klimageld gerade mit der Gießkanne verteilen anstatt zielgerichtet. Immer geht es darum, die Kohle möglichst weit oben in der Verteilungspyramide zu lassen. Einkommenssteuersenkungen helfen den niedrigen Einkommen am wenigsten, die zahlen eh kaum welche. Die Subventionen helfen vor allem den dicken Autos. Und genau da, wo sie unbürokratisch eine Kopfprämie wollen, geht es darum zu verhindern, dass das Geld vor allem bei Niedrigempfängern landet. Die machen das so gewohnheitsmäßig dass Johannes Vogel im gleichen Satz erklärt wie toll eine Kopf-Prämie ist und dass "vor allem Geringverdienende profitieren", was angesichts des Konzepts einer KOPFPRÄMIE so offensichtlich hanebüchener Unsinn ist, dass ich Hirnzellen beim Sterben zuhören kann.

10) How dangerous is Justice Clarence Thomas' wife?

Slate's Dahlia Lithwick and Mark Joseph Stern aren't buying Ginni Thomas' assertion that she doesn't talk about her conservative activism with Justice Thomas. In an article titled "Clarence and Ginni Thomas are Telling Us Exactly How the 2024 Coup Will Go Down," Lithwick and Stern write that the "symmetry between Ginni and Clarence Thomas' work has never been more obvious. While Clarence fought to give state legislatures the constitutional authority to reject election results, Ginni lobbied state legislators to do exactly that." A person with a passing interest in the matter "might assume they were working in tandem, with Clarence handling the law and Ginni working on the political side," Lithwick and Stern said. "They aren't particularly subtle about it." [...] Conservative Washington Post columnist Kathleen Parker is focusing on how Ginni Thomas' actions reflect on her husband. She believes Ginni Thomas "deserves the media fire" now coming her way because "she has asked for it — time and time again — by being outrageous, by nurturing conspiracies, by being Stephen K. Bannon's acolyte, and encouraging the MAGA fringe." While Ginni Thomas is an activist known in conservative D.C. circles, Parker said there's one thing she clearly doesn't grasp. "[H]er biggest mistake is that she thinks she's important," Parker wrote. "She is not. Her husband is. By her words and actions, she has brought doubt to her husband's judicial integrity. She has diminished his hard-won gravitas." One lesson that has been learned by "wiser spouses of important men and women" is that "it isn't about you," Parker added. "Stand down and let your better half do the job." (Catherine Garcia, The Week)

Ich finde bei aller berechtigten Kritik an Gini Thomas die Argumentationslinie hier super problematisch. Dieses aggressive "her biggest mistake is that she thinks she's important" ist so wahnsinnig misogynistisch, genauso diese Betonung dass sie allein eine Ergänzung ihres viel wichtigeren Ehemanns ist. Und klar, Clarence Thomas hat das wesentlich höherrangige Amt inne, aber die Vorstellung, dass sie irgendwie irrelevant sei ist kompletter Unfug. Dadurch, dass Parker sie dermaßen herunterzieht, versucht er gleichzeitig, den Skandal kleinzureden. Aber Gini Thomas ist seit 2000 Mitglied der Federalist Society, die wohl wichtigste und einflussreichste rechtsradikale Lobbyorganisation in den USA. Seither arbeitet sie in weiteren Thinktanks. Die Frau ist nicht Verfassungsrichterin, aber sie ist alles andere als unwichtig.

Resterampe

a) Unilevers sexistische Werbekampagne in Uganda ist schon auf einem ganz eigenen Level.

b) Hervorragender Artikel zum Aufheben der student debt.

c) Die Obsession der amerikanischen politischen Rechten mit Hillary Clinton ist schon echt faszinierend.

d) Wenig überraschend: die hohe Inflation wird den Democrats voraussichtlich massiv schaden. No surprise there. Und nicht, dass sie noch zusätzlich Schaden gebraucht hätten...

e) Mehr solche Bürgermeister bitte.

f) Solche Binsenweisheiten braucht kein Mensch.

g) Der Spiegel macht Erkenntnisfortschritte, aber leider nur kleine.

h) Diese Zahlen zu Alkoholerkrankungen sind faszinierend.

i) Döpfner...untragbar

j) Autobahnfans sind echt unbelehrbar, was die Forschung der letzten 60 Jahre angeht.

k) Zur Geschichte der CDU und ihres Umgangs mit Homosexualität ein Thread.

l) Entgegen ständig anderslautender Behauptungen ist Deutschland bei Ungleichheit ziemlich weit oben dabei.

m) Reichelt hetzt gegen Migrant*innen. Untragbar, der Typ.

n) Immer ganz wichtig, dass es den Republicans um Meinungsfreiheit geht.

o) Deutschland mal wieder vorne dabei beim Moralisieren.

p) Nachtrag zur Debatte um die französischen Atomkraftwerke.

q) Worüber man in Deutschland bei der Inflation gar nicht so gerne spricht.

p) Guter Artikel zur Frage, ob der 23. Mai ein Feiertag sein sollte. Ich meine: ja.

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