Stephen Wertheim - Tomorrow, the world. The birth of US supremacy
Seit der sakralisierten Warnung George Washingtons am Ende seiner Amtszeit, Amerika solle sich aus "entangling alliances" und Europa heraushalten, betrieb das Land eine isolationistische Außenpolitik. Am Ersten Weltkrieg nahm es gezwungenermaßen teil, und als die Vision des Völkerbunds scheiterte, zog sich die Nation auf sich selbst zurück. Erst der Angriff von Pearl Harbor zwang die USA in den Zweiten Weltkrieg und legte den Grundstein für die folgende Dominanz als Supermacht. Dieses Narrativ ist hinreichend bekannt - und falsch, wenn man Stephen Wertheim Glauben schenken darf. Er argumentiert in "Tomorrow, the world" viel mehr, dass die USA Anfang der 1940er Jahre auf einem bewussten Kurs waren, die Weltherrschaft anzustreben. Das klingt nach einem Buch, das im Compact-Magazin empfohlen wird, aber dieser Eindruck täuscht. Wertheim zeichnet keine Verschwörungstheorie auf; vielmehr zeichnet er nach, wie sich die strategischen Debatten in den USA in diesen entscheidenden Monaten änderten und auf welchen Prämissen sie basierten. Das Resultat ist sehr erhellend.
Wertheims zentrale These ist dabei, dass eine falsche Dichothomie zwischen Internationalisten und Isolationisten besteht. Er erklärt, dass dieses Narrativ, wie ich es eingangs auch zitiert habe, unhistorisch sei. Vielmehr seien die US-Außenpolitiker schon lange internationalistisch gewesen; die Idee eines "Isolationismus" sei eine Erfindung. Ein sicher entscheidender Beleg: Der Begriff taucht erstmals 1939 auf. Wertheim skizziert den Rahmen für diese These direkt zu Beginn des Buches und schlägt den Bogen von der eigentlichen Entscheidung der USA hin zu einer internationalistischen - und auch imperialstischen - Außenpolitik im Jahr 1898. Wenn die Geschichte jener Zeit, in der die US Marines "from the halls of Montezuma to the shores of Tripoli" die Interessen der Großindustrie mit Gewalt durchsetzten auffrischen will, sei auf Jonathan Katz' "Gangsters of Capitalism" verwiesen, das ich hier rezensiert habe.
Aber im Jahr 1919, als Woodrow Wilson als erster amerikanischer Präsident nach Europa reiste, um entscheidend an den Friedensverhandlungen von Versailles teilzunehmen, waren in Wertheims Lesart alle Internationalisten. Vereinigt war das amerikanische außenpolitische Establishment in seinem Wunsch nach einer "rules-based world order", also effektiv einer Erweiterung des (nationalen) Rechtsstaatsgedankens auf die ganze Welt. Der Streit drehte sich um die Frage, wie das erreicht werden solle. Während Wilson und andere Völkerbund-Anhänger ihr Vertrauen in eine anglosächsische Übereinkunft legten, die durch die Macht der öffentlichen Meinung funktionieren und mit modernem Militär (sprich: Marine und Luftwaffe und spezialisierten Eingreiftruppen) als Weltpolizei agieren würden, waren die Kritiker davon überzeugt, dass Wilson die Macht der US unterschätzte - sie waren der Überzeugung, es brauche überhaupt kein Militär oder einen Völkerbund, weil die Macht der öffentlichen Meinung andererseits und die wirtschaftliche Lage andererseits bereits abschreckend genug seien. Ich erinnere an dieser Stelle an die parallele Diskussion in Nicholas Mulders "The Economic Weapon", das ich hier rezensiert habe, über eben diese Möglichkeit. In Wertheims Buch spielt sie keine große weitere Rolle außer einem "was wäre wenn", aber diese Strömung Internationalisten fordert immer wieder eine Beschränkung auf die technokratischen Funktionen des Völkerbunds.
Wertheim wendet sich indessen einem anderen Narrativ zu, das er als komplett falsch identifiziert und das er minutiös auseinandernimmt: die Idee von Pearl Harbor als Wendepunkt. Entscheidend ist für Wertheim vielmehr der Fall Frankreichs anderthalb Jahre zuvor. Zu Kriegsbeginn 1939 gab es keinerlei Interesse, aktiv in den Krieg einzugreifen; die amerikanischen Außenpolitiker debattierten sogar, ob ein zu schneller Sieg Großbritanniens dieses über Gebühr stärken würde. Eine Schwächung Europas in einem europäischen Krieg erschien den USA als vorteilhaft. Für sie war das Ergebnis klar: die Vereinigten Staaten würden profitieren, weil sie nicht gezwungen waren, wertvolle Ressourcen in einen dummen Krieg zu investieren.
Diese Rechnung änderte sich durch den schnellen Fall Frankreichs, der wie Wertheim immer wieder betont stärksten Militärmacht ihrer Zeit. Die USA sehen sich nun plötzlich bedroht; nicht physisch oder vom Niveau ihres Wohlstand her, sondern von den Möglichkeiten ihres Einflusses und der potenziellen "power projection" sowie ihren zukünftigen ökonomischen Möglichkeiten. Eine Eroberung Großbritanniens durch Nazideutschland oder zumindest ein für die Alliierten sehr nachteiliger Friede schienen realistische, ja, wahrscheinlich Ergebnisse der kommenden Wochen und Monate. Dies führte zu einem radikalen Mentalitätswandel in den außenpolitischen Eliten: eine nazidominierte Welt ist inkompatibel mit liberalen Werten und muss folgerichtig bekämpft werden.
Innerhalb der amerikanischen Außenpolitik entstand jetzt intern ein Streit darüber, ob die Sicherung der eigenen Hemisphäre ausreichend sein konnte beziehungsweise ob man in einer ökonomischen Blockbildung existieren könnte - in diesem Fall mit Großbritannien gegen ein deutsches Kontinentaleuropa ("Großraumwirtschaft", in der Sprache der Nazis). Auffällig ist, dass die UdSSR in diesen Plänen überhaupt keine Rolle spielte. Das Land war an den Welthandel praktisch nicht angebunden und war deswegen für die Art von Einflusssphärendenken, wie es in den USA (und auch in Deutschland, wenngleich Wertheim sich für die parallele deutsche Debatte überhaupt nicht interessiert; dafür wären Brendan Simms und Charlie Ladermanns "Hitler's American Gamble" die richtige Lektüre) vorherrschend war, praktisch irrelevant. Auch seine militärische Bedeutung wurde deutlich unterschätzt, wie wir weiter unten noch sehen werden.
In den USA schossen in jener Zeit die Thinktanks wie Pilze aus dem Boden, die sich alle mit dieser Thematik beschäftigten und sowohl Policy- als auch Strategiepapiere am laufenden Band erstellten. Sogar ein Dachverband wurde zur Koordinierung gegründet. Das lag auch an der dünnen Personaldecke des Außenministeriums, das überhaupt nicht darauf eingerichtet war, solche Debatten zu führen.Ich habe keine Schlussfolgerung aus dieser Beobachtung, aber der Unterschied zu den europäischen Staaten, wo solche Aufgaben eigentlich ausschließlich bei der Ministerialbürokratie lagen, ist bemerkenswert.
Die strategischen Überlegungen nach dem Fall Frankreichs folgten einer eigenen, unausweichlichen Logik. Sie begannen mit einer Diskussion über eine mögliche Konsolidierung der eigenen Hemisphäre, gewissermaßen Monroe-Doktrin 2.0. Die Rohstoffbasis wurde als ausreichend erachtet - der amerikanische Doppelkontinent bot auf dem Stand 1940 alle Ressourcen, die eine voll entwickelte Volkswirtschaft benötigte - und konnten durch Ausfuhren von Exportgütern auch problemlos bezahlt werden. Es war das Problem des Marktzugangs, das die Planer weiter Länder in diese "amerikanische Sphäre" einbeziehen ließ, vor allem in Asien (ironischerweise schlossen alle diese Überlegungen einer amerikanisch dominierten Wirtschaftssphäre Japan mit ein; der Instelstaat wurde als Bedrohung nicht ernstgenommen, anders als Deutschland).
Nur, diese Ausbreitung einer amerikanischen liberalen Wirtschaftssphäre gegen die totalitäre geschlossene Großraumwirtschaft Deutschlands erforderte ein Weiterbestehen des britischen Empire, und gerade das stand ja in Frage. Das Empire war in allen amerikanischen strategischen Überlegungen vor dem Sommer 1940 das Herzstück jeder Strategie gewesen; auf seine Navy und Militärmacht, seine Garantie eines liberalen Systems hatten die USA sich stets verlassen, ob 1914 oder 1922. Die USA hatten kein Interesse daran, Großbritannien in dieser Rolle zu beerben. Aber der Fall Frankreichs änderte alles. Letztlich erreichten die Planer nach mehreren Monaten des Durchrechnens, Kalkulierens und Planspiele Veranstaltens die Schlussfolgerung, dass ein deutsches Europa die Dominanz der restlichen Welt erfordern würde, um den Liberalismus zu retten (der in Vorwegnahme der Dominotheorie durch beständige deutsche Einflussnahme im Rest der Welt gefährdet wäre). Es war im Endeffekt das Szenario eines Kalten Kriegs gegen Deutschland, mit gigantischem, globalem und permanentem Militäraufwand. Gegenüber dieser unattraktiven Alternative erschien der direkte Kampf gegen Deutschland als das kleinere Übel.
Parallel zu dieser Einsicht in der außenpolitischen Elite vollzog sich in der Bevölkerung zwischen Ende 1940 und Mitte 1941 ein massiver Meinungsumschwung. Hatte Roosevelt seine erste große Hilfe an Großbritannien, den "Destroyer-for-Bases-Deal" noch als executive order am Kongress vorbei initiiert, gab es für die wohl entscheidenste policy des Krieges, das Lend-Lease-Abkommen, eine gewaltige Mehrheit im Kongress. Roosevelt hatte darauf gewettet, mit Lend-Lease die Nicht-Interventionisten (die, das sei noch einmal betont, keine Isolationisten waren) ans Licht zu ziehen und öffentlich zu desavouiren, und es gelang ihm. Die USA waren nun offiziell nicht mehr neutral, sondern "non belligerent". Wenn es nach Roosevelt ginge, konnte es auch dabei bleiben. Ein amerikanischer Eintritt in den Krieg wurde von niemandem gewünscht; die Bewaffnung Großbritanniens und seine Nutzung als Hauptgegner Deutschlands schien ausreichend, um die eigenen Ziele zu erfüllen. In der Zwischenzeit konnte man andere dringende Fragen klären.
Denn ein Dilemma blieb: welche Ordnungsform sollte nach dem Krieg herrschen? Die Nicht-Interventionisten fürchteten einen permanenten Kriegszustand, in dem die USA weltweit permanent ihr Militär in die Wagschale werfen mussten, um lokale Aggressoren zu unterdrücken. Den Interventionisten dagegen schwebte eine Weltordnung der gemeinsamen Weltpolizei von Großbritannien und USA vor, die die liberale Weltordnung durchsetzten. In beiden Szenarien blieben internationale Organisation demgegenüber weit zurück. Die Idee der öffentlichen Meinung als Treiber von Frieden wurde komplett ad acta gelegt. In Wertheimers Worten: "peace cannot be won by incantation, only by force". Die Interventionisten dachten an eine weitgehende Abrüstung. Frankreich war ohnehin entwaffnet; Deutschland und Japan würden es nach dem Krieg sein. Damit blieben das UK und die USA die einzig relevanten Militärmächte, die dann den Pax Democratia durchsetzen könnten. In diesen Monaten war die Anglophilie in den USA auf dem Höhepunkt; der Kongress verabschiedete sogar ein Gesetz, das es allen weißen englischsprachigen Menschen ermöglichte, frei in die USA zu reisen und sich niederzulassen, gewissermaßen ein rassistisches angelsächsisches Schengen. Diese Anglophilie würde sich in den kommenden Monaten wieder abkühlen.
Außen vor blieb in all diesen Planungen die UdSSR. Wie bereits erwähnt war sie irrelevant für den Welthandel und damit für eine liberale Ordnung. Sie war militärisch neutral und wirtschaftlich an Deutschland angebunden und schien nach dem Angriff vom Juni 1941 auch bald Deutschland anheim zu fallen. Zentral für alle Überlegungen war Westeuropa; auch die Pazifikregion wurde demgegenüber ab Dezember 1941 defensiv betrachtet. "Germany first" lautete die strategische Parole; Japan sollte danach folgen. Es ist ein Beleg für die enorme amerikanische Stärke, dass die Nation sich letztlich nicht zwischen den Optionen entscheiden musste und beide Gegner fast zeitgleich niederzuringen in der Lage war.
Mit jeder Woche, in der die amerikanische Industrie sich auf Kriegswirtschaft umrüstete - immer noch mit dem Ziel einer Bewaffnung Großbritanniens - emanzipierte sich das strategische Denken der Amerikaner mehr von der Vorstellung britischer Ordnungskräfte. Auch die öffentliche Meinung in den USA selbst spielte hierbei eine große Rolle. Weder konnte man die imperialistischen Briten - in bemerkenswerter kognitiver Dissonanz lehnte man das britische Kolonialreich ab, ohne das eigene je anzuerkennen - weiterhin diese Rolle spielen lassen, noch war es möglich, nackte amerikanische Weltherrschaft anzustreben. Stattdessen brauchte es eine Weltorganisation, nicht aus praktischen, sondern aus politischen Gründen. Ohne Weltorganisation war amerikanische weltweite Dominanz der eigenen Bevölkerung nicht zu verkaufen, dessen waren sich die Außenpolitiker sicher.
In der anglophilen Ära bis Mitte 1941 wurde das noch in strikt angelsächsischer Kooperation gedacht; der Höhepunkt dieser Entwicklung ist die Atlantikcharta, die Wertheim zu Unrecht als direkten Vorläufer der UNO betrachtet sieht. Sie war in seiner Lesart vielmehr ein explizit bilateraler Versuch der Weltordnung. Doch die Ereignisse änderten das. Die abnehmende Bedeutung Großbritanniens einerseits und die massiv zunehmende Bedeutung der Sowjetunion andererseits machte andere Mechanismen notwendig. Parallel zum Fall Frankreichs sorgte der überraschende Widerstand der Sowjetunion im Winter 1941 für ein Umdenken in den amerikanischen Planungsstäben. Die Stärke der Sowjetunion machte sie nicht nur zu einem weiteren Hauptempfänger von Lend-Lease-Leistungen, sondern auch zu einem Eckpfeiler jeder zukünftigen Sicherheitsarchitektur.
Aus diesen Faktoren heraus entstand die Idee einer Weltorganisation mit Sicherheitsrat. Die Weltorganisation war explizit als machtlos konzipiert; sie sollte es den anderen Staaten ermöglichen, ihre Kritik an den USA und Großbritannien (sowie später der Sowjetunion, Frankreichs und China) zu äußern, aber diese Länder in keinster Art binden. Gleichzeitig würde die Vetokraft im Sicherheitsrat den größten Konstruktionsfehler des Völkerbunds beseitigen: die Möglichkeit, amerikanische Truppen gegen den Willen der USA zum Einsatz zu verpflichten. Zuletzt erklärten die amerikanischen Planer explizit, dass ein Veto im Sicherheitsrat die USA selbst nicht von Krieg zur Durchsetzung ihrer eigenen Interessen abhalten würde. Aus amerikanischer Sicht war die UNO ein Instrument zur Organisation und Verkleidung der amerikanischen Dominanz, nicht mehr. Keinesfalls glaubte man noch an die Macht der öffentlichen Meinung und Verhandlungen einerseits und weltweiten Koalitionen gegen Rechtsbrecher andererseits à la Völkerbund, um die liberale Weltordnung zu sichern.
Wertheim beendet sein Buch mit einer ziemlich ausufernden Debatte über die Relevanz der Isolationsmus-Diskussion. Noch einmal unternimmt er es, explizit aufzuzeigen, dass es so etwa wie "Isolationisten" eigentlich nie gegeben hat. Es ist interessant, dass die außenpolitischen Eliten 1940ff. einen gigantischen Public-Relations-Kampf gegen den Isolationismus führten, obwohl sie explizit wussten, dass er nicht existierte - gedacht war das als Immunisierung für die Zeit nach dem Krieg, von dem sie zu Recht annahmen, dass er die Begeisterung der Amerikaner für Friedenssicherung US-Dominanz schnell erlahmen lassen würde. Auf diese Art wurde ein effektives, bis heute wirkmächtiges, aber ahistorisches Framing geschaffen: der Isolationismus war in dieser Lesart verantwortlich für das Desaster von Versailles und den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs; jeder, der gegen den Interventionismus war, stellte sich damit gegen den Frieden und war, in Wertheimers Antworten, "almost as bad as a communist". In der epischen Breite, die diese Nachzeichnung der Debatten vor sich geht, ist sie aber etwas ermüdend.
Trotz dieses Relevanz-Abfalls am Ende des Buches war die Lektüre ungeheuer spannend. Das Buch hat einen sehr engen Fokus und ist deswegen sinnvoll eigentlich nur in Verbindung mit anderen Werken lesbar, die die Leerstellen füllen - und von denen gibt es viele. Wertheim beschäftigt sich etwa praktisch gar nicht mit der wirtschaftlichen Lage; er referenziert zwar die deutsche "Großraumwirtschaft", Lend-Lease und so weiter, setzt aber deutlich voraus, dass diese bekannt sind. Hier schadet, besonders was das deutsch-amerikanische wirtschaftliche Verhältnis angeht, die Lektüre von Adam Toozes "Ökonomie der Zerstörung" (hier von mir rezensiert) sicherlich nicht. Die Gefahr ist, Wertheims Darstellung als eine große amerikanische Verschwörung zur Weltherrschaft misszuverstehen. Die dahinterliegende strategische Logik ist nachvollziehbar, und Wertheims großer Verdienst hier ist zu zeigen, dass die Alternativen nicht in Isolationismus und Interventionismus bestanden, sondern in der Frage, wie groß die amerikanische Einflusssphäre künftig sein und wie sie gegen Bedrohungen von außen abgesichert werden sollte. Die USA handelten nicht aus der Güte ihres Herzens, aber ihre Dominanz würde wesentlich leichter erträglich und segensreicher sein als totalitäre Herrschaft.
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