John Green - Das Schicksal ist ein mieser Verräter
Ich hatte John Greens preisgekrönten Roman schon ewig und drei Tage auf meiner Leseliste. Ich erinnere mich, ihn anno 2015 in der neunten Klasse lesen zu wollen, aber damals fiel die Entscheidung dann doch auf "Die Tribute von Panem" (hier besprochen). Seither hatte ich keine neunte Klasse mehr, und dieses Jahr bleibt mir nicht mehr genug Zeit, so dass ich mich aus einer Laune heraus entschloss, das Buch einfach für mich persönlich zu lesen und abends im Bett zu lesen begann. Als ich endlich das Licht ausschaltete, war ich halb durch, und am nächsten Morgen habe ich es vollends beendet. Nun bereue ich erst recht, so wenig Zeit übrig zu haben, und plane schon, wie ich das Ding nächstes Jahr in den Stoffverteilungsplan unterbringen kann. Aber ich schweife ab. Das Buch ist absolut großartig und lohnt die Lektüre unbedingt.
Schauen wir zuerst auf die Handlung. Die schwer krebskranke Hazel lernt in der Selbsthilfegruppe den ebenfalls an Krebs erkrankten Augustus ("Gus") kennen, der ein Bein verloren hat. Beide finden einander sofort anziehend und gehen zögerlich aufeinander zu. Ihre Liebe zu Literatur und Intellektualismus eint sie, und Hazels Lieblingsbuch, "Ein herschafftliches Leiden" des niederländisch-amerikanischen Autors Peter van Houten, gibt ihnen einen gemeinsamen Referenzrahmen. Das Buch endet allerdings ambivalent, und Hazel will unbedingt wissen, wie es mit den Figuren danach weitergeht. Augustus organisiert für sie eine Reise nach Amsterdam, wo die beiden den Schriftsteller treffen. Die Begegnung aber verläuft enttäuschend, und wieder zurück in Amerika, wo Augustus' Krebs zurückkehrt, müssen sich beide sowohl den Lektionen der Reise als auch ihrer eigenen Sterblichkeit stellen.
Soweit eine grobe inhaltliche Zusammenfassung. Ich will nicht zu viele Plotdetails verraten, aber für eine Rezension werde ich so oder so auf die Aspekte eingehen müssen. Die Handlung selbst ist aber ohnehin nicht der anziehende Punkt; die Ereignisse kommen nicht überraschend (im Sinne von Shyamalan-Twists), sondern mit einer gewissen Logik und werden auch immer wieder vorausgedeutet (so sehr, dass ich bis zum Schluss überzeugt war, die Handlung würde genauso wie die von "Ein herrschaftliches Leiden" mitten im Satz abbrechen; ganz so konstruiert war John Green dann aber nicht).
Nein, die eigentliche Attraktivität liegt in den Figuren und den Motiven, die in der Handlung entwickelt werden. Was John Green im Gegensatz zu vielen, vielen anderen Autor*innen des Genres gelingt ist, seine Figuren glaubhaft zu machen. Glaubhaft in dem Sinne, als dass sie Teenager sind, die sich wie Teenager verhalten, trotz der nicht eben typischen Vorliebe für hohe Literatur, die Hazels Charakter ausmacht und mit der sie Augustus ansteckt (der sie wiederum zu den Trash-SF-Romanen und Call-of-Duty-Spielen bringt).
Gerade hier stolpern und fallen so viele Jugendbücher. Der Topos einer (meist weiblichen) Hauptfigur, die gerne liest, wird sehr gerne bemüht. Leider ist er viel zu oft didaktisiert, und die Bücher schreien die Lesenden geradezu an, dass hier eine Art Lektion versteckt ist: Bücher sind toll! Menschen die Bücher lesen sind bessere Menschen! Ein besonders übles Beispiel dafür, mit dem ich kürzlich in Berührung kam, ist "Die Bücherdiebin". Da kriegen wir sogar gleich noch schlechtes Gewissen und revisionistische Widerstandserzählungen mitgeliefert. The less said, the better. In diese Falle tappt "Das Schicksal ist ein mieser Verräter" niemals.
Stattdessen ist die Lektion hier eher eine gegenteilige. Es ist gerade die Weigerung, sich von Büchern das Leben diktieren zu lassen oder zu versuchen, aus ihnen die großen Wahrheiten herauszuziehen, die als existenzieller Sieg am Ende steht; eine bewusste Entscheidung, die eigene Geschichte selbst zu schreiben, anstatt sie von außen vorstrukturieren zu lassen. Dabei setzt sich der Roman auch, ohne dies je explizit zu machen, mit der Theorie vom "Tod des Autors" auseinander (den Lindsay Ellis mitsamt einem Gastauftritt von John Green in diesem Video großartig bespricht). Von Houten weigert sich erst, Hazel die erwünschte Antwort zu geben; als er sich später dann doch bereit findet, will Hazel sie nicht mehr hören - sie ist inzwischen darüber hinaus, sich von einem Buch, und mag es auch noch so sehr zu ihr sprechen, das Leben diktieren zu lassen.
Auch tappt John Green nicht in die andere große Falle, ein "Problembuch" zu schreiben (oder, wie es im Roman selbst genannt wird, eine "Krebsgeschichte"). Ja, die Charaktere sind alle in der außergewöhnlichen Situation, an einer tödlichen Krankheit zu leiden und mit einem Fuß im Grab zu stehen, aber der Roman schlägt uns nicht die didaktische Keule über die Köpfe und zwingt uns mit Druck auf die Tränendrüse zum Mitleiden. Die Katharsis stellt sich von selbst ein. Sowohl die Charaktere als auch Green setzen sich damit auseinander, dass eine tödliche Krebserkrankung die Menschen nicht zu Heiligen macht. Sie sind stattdessen, egal wie sehr ihre Umwelt das auch verleugnen mag, eine Belastung für alle, die sie kennen (und haben deswegen wenig Freunde). Dieses Wissen, das Leben ihrer Liebsten massiv zu erschweren, lastet auf ihnen allen, und sie müssen Wege finden, damit umzugehen, oder eben auch nicht. Dass es sich um Teenager handelt, macht die Sache nicht eben einfacher. Der miese Verräter des Schicksals hat ihnen eine Aufgabe gegeben, an der sie eigentlich nur scheitern können; letztlich müssen sie erwachsener sein als die Erwachsenen um sie herum, eine emotionale Mammutaufgabe stemmen, zusätzlich zu ihrem eigenen Leid und dräuenden Tod. Ohne persönlichen Bezug (dankenswerterweise) kann ich nur sagen, dass es sich real anfühlt. Ich überlasse es berufeneren Personen, darüber zu urteilen, wie repräsentativ Hazel, Augustus, Isaac und die anderen sind.
Doch all diese Faktoren sind erst einmal nur Fehler, die Green vermeidet. Solche Fehler können Geschichten davon abhalten, Großartigkeit zu erreichen, aber das Umschiffen dieser narrativen Klippen alleine sorgt noch nicht von sich für großartigen Stoff. Das erst kann durch das Zugegeben gelungener Zutaten erreicht werden, und es ist an dieser Stelle, an der Green sein ganzes Talent in die Waagschale wirft - und gewinnt.
Es sind die Figuren, allen voran Hazel und Augustus, die den Roman vorantreiben, die mich Seite um Seite blättern lassen und mich in einen Sog ziehen, dem ich bis zum Schluss nicht zu entrinnen in der Lage bin. Das liegt zum einen an den Dialogen. Sie fühlen sich authentisch an, sind voller Brüche, emotionalen Auslassungen und Abbrüchen, mäandern zwischen fundamentalen Erkenntnissen und banalsten Alltagssituationen hin und her sind gleichzeitig voll sprühender Energie und Witz. Im einen Moment lache ich beim Lesen laut auf, weil die Situation, der Satz, das hingeworfene Wort genuin komisch sind, in der anderen läuft mir ob der profunden Erkenntnisse eine Träne über die Wange.
Ein Beispiel dafür: gegen Ende des Romans rekrutiert Augustus noch einmal all seine Freunde, um seine eigene Beerdigung durchzuführen (eine Stelle, an der die deutsche Übersetzung mangels einer kulturellen Entsprechung für das amerikanische "wake" an ihre Grenzen kommt). Sie halten beißende, komische, profunde Reden auf Augustus, ihre Situation und ihr Verhältnis zu ihm, wie sie nur zwischen diesen todgeweihten Personen ausgesprochen werden können. Auf der echten Beerdigung hält Hazel eine Rede voller platter Motivationssprüche, wie Gus' Eltern sie liebten. Sie kommentiert das mit ihrer inneren Erzählerstimme lakonisch: "Ich habe beschlossen: Beerdigungen sind die für die Lebenden." Ich konnte nicht anders als angesichts solch profunder Einsichten aus dem Mund einer 16jährigen Todkranken eine Träne zu verdrücken. Der Roman ist voll dieser Momente, in denen Green zuversichtlich von einer emotionalen Lage in die andere wechselt, ohne je aus dem Takt zu geraten.
All diese Qualitäten machen den Roman nicht für Jugendliche lesenswert. Er mag als Jugendroman konzipiert und beworben sein, aber er ist auch problemlos für Erwachsene lesbar. Ich kann ihn rundheraus empfehlen.
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