Freitag, 6. Mai 2022

Richard David Precht führt in Shanghai einen Kampf gegen die Inflation, Twitter und Tucker Carlson - Vermischtes 09.05.2022

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.

Fundstücke

1) „Es ist ein externer Schock, der auf das Land zukommt“

Wie reagiert die Bevölkerung wohl nun auf die reelle Gefahr eines nachlassenden Wohlstands, auf den die Politik aktuell nur zögerlich reagiert? Eine Rezession, anschließend an die gesellschaftlichen und ökonomischen Zerwürfnisse im Verlauf der Covid-Pandemie, könnte einem kollektiven Frust Vorschub leisten, der politisch sein Ventil finden wird – und den etablierten Mitte-Konsens auflöst. In der Unterschicht, die sich teils schon jetzt von Politik, Medien und staatlichen Institutionen entfremdet hat, wird der nackte Kampf ums Überleben ausbrechen. Die Einmalzahlungen für Hartz-IV-Empfänger sind unzureichend, um Preissteigerungen abzufedern. Die soziale Frage wird sich verstärken und zu neuen Auseinandersetzungen um Ressourcen wie Wohnraum und Sozialstaatsleistungen führen. Dass nun auch noch Hunderttausende Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine um ebendiese Ressourcen konkurrieren, wird die Spannungen trotz der aktuell vorherrschenden Willkommenskultur noch verstärken. Deutschland sitzt auf einem sozialen Pulverfass. Und schon jetzt ist absehbar, dass sich kaum etwas bewegen wird in der sozialen Frage. Hartz-IV-Erhöhungen oder die Kindergrundsicherung werden auch wegen der Zusatzbelastungen des Bundeshaushalts durch das Sondervermögen für die Bundeswehr kaum zu bewerkstelligen sein, wenn man am Ziel der Haushaltskonsolidierung festhalten will – was aufgrund der Regierungsbeteiligung der FDP als gesetzt gelten kann. (Jörg Wilamasena, Welt)

Die Perspektive, die Wilamasena aufmacht, ist natürlich eine völlig berechtigte. Im herrschenden Diskurs bestehen diese Probleme völlig. Aber es sind die letzten beiden Sätze, die das Ganze so entlarven. Wir haben eine apokalyptische, die ganze demokratische Verfasstheit unseres Staats- und Gesellschaftswesens bedrohende Gefahr - und auf der anderen Seite den ausgeglichenen Haushalt. Get your priorities straight, people. Wenn die Einmalzahlungen nicht reichen, um die Preissteigerungen abzufedern und drohen, Millionen Menschen in bitterste Armut zu stürzen, denn muss man wohl nachschieben. Wenn die Belastung durch ukrainische Flüchtlinge dazukommt, muss man halt gegebenenfalls draufsatteln. Die Alternative ist einfach völliger Quatsch. Dass man das überhaupt ausbuchstabieren muss!

Und ja klar, der Staat kann nicht unbegrenzt  Schulden machen. Das ist mir völlig klar. Aber wenn die Alternative das Horrorszenario ist, dass Wilamasena hier zeichnet, mit all den lebensbedrohlichen Konsequenzen, dann ist es schlicht offensichtlich das kleinere Übel. Ich weiß, dass ihm natürlich Recht wäre, das zum Anlass zu nehmen, die eigenen finanzpolitischen Präferenzen durchzusetzen. Das ist natürlich ein sehr erfolgreicher Hebel, der viel radikalere Politiken erlaubt, als unter normalen, demokratischen Umständen möglich wäre. Damit haben wir ja 1930-1932 auch hervorragende Erfahrungen gemacht.

2) Locked down in Shanghai, I’ve caught a glimpse of our techno-dystopian future

Chinese shopping apps have a function called “group-buying”, which in normal times means people can club together and save money by buying in bulk. In the chaos of the lockdown, this has become one of the only ways to receive a delivery of vegetables or meat. For anyone wondering what a techno-dystopian future might look like, this may offer a clue. Scoring meals can mean hours of monitoring your phone: with tens of thousands of people trying to purchase the same small quantity of goods at any one time, quick typing, fervent refreshing and repeated pressing of “buy” buttons are essential. Digital breadlines form, with many ending up empty-handed as supplies run out in seconds. [...] When the lockdown was announced, millions of people had just hours to prepare. It was launched without considering how the elderly or disabled would pass the weeks in isolation, where cancer and diabetes patients would receive life-saving medication and treatment, or how long it would take pregnant women to get to hospital. Tens of thousands of businesses were closed without thinking how employees would get through the month without a pay-cheque or how company owners could pay the rent. Countless residents struggled to find basic provisions as cabbage and pork loins rotted on the shelves. Fewer still were prepared to be carted off to the mass-quarantine facilities that are masquerading as hospitals. Many people have died as a result of not being able to access medical treatment for conditions other than covid, but avoiding covid deaths has been the only thing that mattered to officials. The Communist Party sees this single-mindedness as a quality that allows it to blast through obstacles in its path. But it has also rendered politicians strikingly unaware of how sentiment in the city has shifted in recent weeks. In a letter to guests, a hotel in my district boldly remarked, “Covid is not the thing we are afraid of; it’s [government] policy.” (Don Weinland, Economist)

Wenn man sich anschaut, welche Corona-Politik die chinesische Diktatur fährt, dann weiß man, was eine "Corona-Diktatur" ist. Angesichts dieser dystopischen Berichte ist die Vorstellung, eine Maskenpflicht im ÖPVN wäre irgendwo in der Nähe des Untergang der Demokratie einfach nur albern. Und es ist eine Dystopie. Hungernde Menschen, eingesperrt in ihren Apartments, die im 1984-Stil von Drohnen dazu angehalten werden, nicht am offenen Fenster zu singen - das könnte aus irgendeiner Netflix-Serie sein, und dann hätte man gesagt, die sollten bitte nicht so dick auftragen. Leider ist nicht damit zu rechnen, dass sich aus dieser unterdrückerischen Erfahrung eine breite Forderung nach Liberalisierung ableiten würde. Wie auch in Russland dient die Krise für den Staat eher dazu, seine Kontrolle auszuweiten. Bedrückend.

3) Vor ihm gibt es kein Entkommen: wie Richard David Precht zum deutschen Nationalpsychologen wurde

Precht ist ein typischer Vertreter seiner Nation. Er hadert aus Prinzip. In Jugendjahren, berichtet er, sei er unter zwanzig Nachwuchsjournalisten, die es in die Vereinigten Staaten verschlagen habe, zum «most stereotype of its country» gewählt worden. Precht wäre nicht Precht, setzte er nicht erklärend hinzu, das läge an seiner Nachdenklichkeit, «das assoziierten die mit Deutschtum, aus amerikanischer Perspektive». [...] Precht muss es nicht kümmern. Er schreibt nicht für Akademien, sondern für die Öffentlichkeit, die er selten Masse nennt, obwohl «massenhaft» sein Lieblingsadverb ist. Ausweislich seiner Wirkung gilt Precht als Denker der Massen. [...] Sonst vertritt Lanz das Prinzip der Affirmation und lässt seinen Konterpart dadurch in Düsternis erstrahlen: «Da kommt ein Moment, da kann ich ein Glas zu viel trinken und einfach auch an der Menschheit verzweifeln.» Lanz hingegen ist mit der Einrichtung der Welt zufrieden. Er teilt die Bücher, die er kennt und von denen er im Podcast berichtet, in die Kategorien gut, sehr lesenswert, toll, wunderbar und total interessant ein. [...] Einer fremden Nation die Kapitulation um des lieben Friedens willen zu empfehlen, steht am Ende eines langen Bildungsromans. Richard David Precht ist der populärste Deutschland-Erklärer, weil er um Absolution bittet für Leidenschaften und Irrtümer, die über ihn hinausweisen. Er verzweifelt an einem ungerecht eingerichteten Universum, ohne an sich zu zweifeln. Er gesteht zu, auf vielen, insbesondere geopolitischen Feldern kein Experte zu sein, und will doch der Welt einen Weg weisen. Er versucht seinen Kopf klar zu kriegen und scheut sich nicht, das Trübe zum archimedischen Punkt der Erkenntnis zu erklären. Er ist der Begriff, auf den die Widersprüche nicht zu bringen sind. (Alexander Kissler, NZZ)

Ich bin ein Precht-Hasser-Hipster. Ich konnte die Schwafelbacke noch nie leiden, schon nicht, als erst mit seinen Büchern frisch rauskam und bevor er zum Chefintellektuellen der Nation wurde. Aber ein Land, in dem Zwiegespräche zwischen Lanz (wie brillant ist die Seitenbemerkung aus dem Artikel!) und Precht als irgendwie intellektuell ansprechend gelten dürfen, muss einen echt nichts mehr verwundern. Kisslers Beobachtungen sind on-point: ohne den geringsten Selbstzweifel zweifelt Precht ständig. Das ominöse "ich stell doch nur Fragen", das leider viel zu oft als Legitimation für den absurdesten Blödsinn und als Befreiung von der Pflicht zu echten Argumenten gelesen wird, als Erlaubnis jedwede gegenläufige Fakten wegzuwedeln sowieso, es ist schon lange vor Precht verankert gewesen. Er hat es nur perfektioniert. Dass er in einer Symbiose mit den seicht-bescheuerten Polittalkshows zum Star wurde, passt wie Arsch auf Eimer.

4) Frontex-Chef Leggeri tritt zurück

Es ist ein erzwungener Rückzug, Leggeri klammerte sich lange an seinen Posten. Vor anderthalb Jahren hatte der SPIEGEL gemeinsam mit Lighthouse Reports und weiteren Medienpartnern enthüllt, dass seine Agentur in illegale Pushbacks in der Ägäis verstrickt ist. Seitdem war er ein Behördenchef auf Abruf. Die griechische Küstenwache schleppt in der Ägäis Flüchtlinge auf Rettungsflößen aufs Meer hinaus und setzt sie einfach aus. Die Zahl der ankommenden Flüchtlinge hat sie so drastisch reduziert. Die Aktionen sind illegal, sie verstoßen gegen griechische, europäische und internationale Regeln. Leggeri hatte offenbar nie ein Problem damit. Seine Beamten halfen bei den Pushbacks, so zeigten es die Recherchen von SPIEGEL und Lighthouse Reports, sie orteten und stoppten die Flüchtlingsboote, den Rest überließen sie den griechischen Beamten. Wenn Frontex-Flugzeuge doch mal einen Pushback aus der Luft aufzeichneten, kümmerte Leggeri sich auch persönlich. Mindestens einen klaren Pushback, so zeigten es die Recherchen, vertuschte er, indem er ihn zu den Akten legte. (Giorgos Christides/Steffen Lüdke/Maximilian Popp, SpiegelOnline)

Das alles war schon lange vor der Spiegel-Recherche bekannt. Leggeri tritt nicht zurück, weil er etwas tun würde, das illegitim wäre. Er tut genau das, wofür er eingestellt wurde. Und das macht es noch schlimmer. Er ist das Bauernopfer, das nun erbracht wird, ein Exorzismus, damit sich niemand mit der Realität auseinandersetzen muss: die EU bricht nicht nur gewohnheitsmäßig die Menschenrechte, sondern institutionell organisiert. Und das geht schon seit vielen Jahren so. Frontex ist ein permanenter Rechtsbruch, der nur allzu gerne hingenommen wird, solange niemand allzu offen darüber spricht. Und es sind nur Geflüchtete, das interessiert zum Glück ja praktisch niemanden. Und die gleichen Leute, die überhaut kein Problem mit dem massiven, tödlichen Rechtsbruch von Frontex haben, entrüsten sich dann in tief moralistischen Tiraden mit erhobenem Zeigefinger über die EZB. My kind of humor.

5) Kampf der Inflation – durch mehr Markt

Die strukturelle Ohnmacht der Nachfrager verschärft sich in Zeiten eines (Wirtschafts-)Krieges: Auf den Derivatmärkten schießen die Rohstoffpreise über das durch die Verknappung berechtigte Maß hinaus, und Zwischenhändler erhöhen ihre Gewinnspannen. Dazu kommen "windfall profits" als Spezialfall von Renten: Ölgesellschaften verrechnen den aktuellen Ölpreis und nicht jenen, zu dem sie eingekauft haben; auch Strom aus Wasserkraft wird teuer. Ein erheblicher Teil solcher Preissteigerungen könnte durch Gründung einer "Agentur für Markttransparenz" (AMT) verhindert werden. Ihr Ziel wäre es, die Grundlagen für das Funktionieren von Märkten zu gewährleisten: optimale Information für Anbieter und Nachfrager sowie Belebung der Konkurrenz. Dies würde ungerechtfertigten Preiserhöhungen im Zuge der kommenden, weiteren Erhöhung der Rohstoffpreise vorbeugen. [...] Besonders unverfroren war die Ausweitung der Gewinnspannen bei Energie, nicht zuletzt wegen der Dominanz weniger Konzerne. Auch hier braucht es mehr Transparenz, dargestellt am Beispiel der Treibstoffpreise: [...] Die hohen Gewinne von Energiekonzernen, Einzelhandelsketten und der Immobilienwirtschaft zeigen: Bei den Preisen gibt es viel Luft nach unten. (Stephan Schulmeister, Standart)

Insgesamt: nette Idee, schadet sicher nicht. Aber dass das einen ernsthaften Effekt haben würde, der irgendwo in Problemlösungsregionen kommt, glaubt Schulmeister doch wohl selbst nicht. Selbst wenn so etwas kommen würde, wäre es durch Lobbying so herunterverwässert, dass es das Analog zu den Nährwerttabellen auf Lebensmitteln wäre. Die helfen ja auch massiv bei der Bekämpfung von ungesunder Ernährung und Fettleibigkeit, weil transparent alle Inhaltsstoffe ausgewiesen werden. /Ironie

6) The Neocons Lose One Last War

The failure of this second, policy-centric form of conservatism has been profound. Not only has it failed to secure sufficient electoral support to hold power in the long term, long enough to enact a substantial agenda, but it has even failed to hold the affections of conservative voters themselves. The policies are simply irrelevant, too far removed from the cultural conflicts and the personal woes voters on the right live with every day. The third and latest form of conservatism, “the entertainment wing,” is triumphing over Ryan-style technocracy because it actually speaks to what conservatives care about. Words sometimes do matter as much as deeds, or matter more than policy “solutions” that never pass or never adjust to the ugly realities of 21st-century America. Ryan’s final thoughts on the panel suggested that he has not really opened his eyes to the new dispensation, even if he understands at an intellectual level how immigration and trade became stumbling blocks for his politics. (Daniel McCarthy, The American Conservative)

Ich habe bei diesen Leuten immer das Gefühl, dass sie die Entwicklungen seit spätestens 2015 einfach als einen großen Betriebsunfall sehen wollen, von dem man einfach zum Status Quo zurückkehren könnte, wenn nur die richtige Wahlentscheidung getroffen würde. Das erinnert mich sehr an die Linken, die auch diesem Gedanken anzuhängen scheinen, dass man nur eine richtige Policy-Entscheidung weg von der Wiederherstellung des mythischen Status der Zeit vorher entfernt wäre (wann auch immer die genau war). Der "Neoliberalismus", so er je als mehr denn ein praktisches Schlagwort bestanden hatte, ist seit spätestens 2016 tot.

Der Abgang Obamas, dem "crowning achievement of meritocracy" (Chait oder Hayes, ich weiß nicht mehr), und die Wahl Trumps killte diese Plattform in beiden Parteien. Die Republicans sind auf vollem Kurs zur nativistischen Partei, sie fordern offen Protektionismus und reden von aktiver Industriepolitik, während die Democrats mehr und mehr ein neues comittment for unionism finden und das brüchige Bündnis mit Wallstreet, das Obama kurzzeitig aufgebaut hatte und das durch Clinton verlängert zu werden schien, praktisch aufgekündigt haben. Diese Zeit ist rum. Aber das habe ich hier schon argumentiert.

7) Let’s Be Clear About What It’s Like to Be Harassed on Twitter

But the statements of free speech absolutists like Mr. Musk conflates harassment with criticism. I’ve been on the receiving end of both in my two decades of writing columns about media, finance, culture and politics — and there is a material difference between the two. [...] However, I’ve also received rape threats, anonymous letters to my home address, threatening comments about my family and all manner of misogynistic pejoratives that are not printable in this newspaper for my stated positions on everything from abortion to hiring practices at start-ups to who the next James Bond should be. I don’t even have to write anything particularly provocative for this to happen; I once got a violent threat for a column I wrote about why I disagree with the way the Bureau of Labor Statistics calculates the Consumer Price Index. These are not uncommon experiences for women and minorities who speak in public, on Twitter and beyond, and I’ve suffered far less harassment than others. It happens all the time. Twitter’s current moderation policies can’t completely prevent it, but they are designed to mitigate it. Twitter requires its users to comply with a terms of service agreement that bans certain types of speech — harassment, in particular. It also has moderation policies in place to combat disinformation. The value of these measures isn’t always apparent to powerful people such as Mr. Musk because if you’re a white man on the internet, you’re far less likely to get a rape threat, and you’re also heavily insulated from the possibility of real-world violence. Mr. Musk insists that the company’s policies are too restrictive. But this is not about free speech in the sense that the First Amendment is — ensuring that the state can’t censor its citizens. What Mr. Musk seems to seek is a kind of infinite license to say almost anything, anywhere. It’s an absolutist definition of free speech that says corporations are obligated to let things that may be harmful to their users or bad for their businesses remain on their platforms because any limitation on speech is de facto censorship and censorship of any kind is worse than the consequences of hate speech, harassment and disinformation. (Elizabeth Spiers, New York Times)

Dieser Artikel hat eine ganze Menge Aufmerksamkeit generiert, und er ist in seiner Gänze lesenswert. In der nächsten Zeit wird zu dem Thema Plattformpolitik was Größeres kommen (ich lese gerade das Buch von Michael Seemann), aber dass bestimmte Gruppen wesentlich stärker unter harassment leiden als andere sollte einfach endlich mal breit anerkannt werden. Generell aber ist es ein Problem von sozialen Plattformen generell. Sobald eine bestimmte Followerzahl überschritten wird, ist eine Art Kipppunkt erreicht, bei dem plötzlich Hassmails, Hassnachrichten und so weiter zum Alltag werden. Nur ein willkürliches Beispiel: Bob Blume, der (völlig verdient) gerade immer prominenter wird, hat kürzlich die 20.000-Follower-Barriere durchbrochen. Und seither hat er täglich Hassnachrichten. Ich weiß nicht, was in den Menschen kaputt ist. Aber dass die Plattformen katastrophal darin sind, irgendetwas dagegen zu tun oder den Betroffenen zu helfen, ist leider Fakt.

8) How Tucker Carlson Stoked White Fear to Conquer Cable

That pattern is no accident. To a degree not broadly appreciated outside Fox, “Tucker Carlson Tonight” is the apex of a programming and editorial strategy that transformed the network during the Trump era, according to interviews with dozens of current and former Fox executives, producers and journalists. Like the Republican Party itself, Fox has sought to wring rising returns out of a slowly declining audience: the older white conservatives who make up Mr. Trump’s base and much of Fox’s core viewership. To minimize content that might tempt them to change the channel, Fox News has sidelined Trump-averse or left-leaning contributors. It has lost some of its most respected news journalists, most recently Chris Wallace, the longtime host of Fox’s flagship Sunday show. During the same period, according to former employees and journalists there, Fox has leaned harder into stories of illegal immigrants or nonwhite Americans caught in acts of crime or violence, often plucked from local news sites and turbocharged by the channel’s vast digital news operation. Network executives ordered up such coverage so relentlessly during the Trump years that some employees referred to it by a grim nickname: “brown menace.” (Nicholas Confessore, New York Times)

Das Profil ist sehr lang und ausführlich und lohnt die Lektüre; ich habe hier nur einen winzigen Ausschnitt zitieren können. Zum Glück hat die NYT auch eine Art Zusammenfassung hier. Auch hier hat die New York Times, wie beim Fundstück 7, jüngst einige Aufmerksamkeit erzeugt. Damit zeigt das Blatt deutlich seine Relevanz, im Gegensatz zu den manchmal wirklich unterirdischen Op-Ed-Seiten.

Aber zum Thema. Tucker Carlson ist einer der widerlichsten Menschen dieses Planeten. Der Mann ist nicht dumm. Und das Ausmaß, in dem er ein komplettes Land vergiftet, ist derzeit wirklich einzigartig. Gut möglich, dass er 2024 als Präsident kandidiert - und gewinnt. Kaum jemand ist als Individuum für so viel Schlechtes verantwortlich wie dieser Typ (außer vielleicht den Koch-Brüdern). Dass man nicht einmal sagen kann, ob er an irgendwas von dem, was er jeden Tag in den Äther brüllt, glaubt, macht das Ganze irgendwie noch schlimmer.

9) Racist Minneapolis Cops Spied on Black Leaders While Ignoring White Hate Groups

The Minneapolis Police Department turned a blind eye to white nationalists and white supremacy movements online, even as its officers created fake social media accounts to surveil and troll law-abiding Black community members “without a public safety objective.” [...] The problems at MPD begin with vile language from cops. The report blasts MPD officers who “consistently” use racist language and slurs. “They call Black individuals ‘n***ers’ and ‘monkeys’ and call Black women ‘Black bitches,’” the report reads, adding: “One MPD supervisor referred to Somali men as ‘orangutans.’” The racism was even directed at MPD officers of color, who “reported that their colleagues called fellow Black MPD officers ‘nappy head’ and ‘cattle.’” The report also calls out the stark misogyny of Minneapolis cops, who demean women in the community with epithets like “‘fucking cunt,’ ‘bitch,’ and ‘cussy,’ a derogatory term that combines the words ‘cunt’ and ‘pussy,’” the report says. [...] One of the most disturbing revelations from the investigation is how MPD officers have routinely used fake social media profiles to infiltrate Black online spaces — even though they were acting “without a public safety objective.” The report describes these rogue cops spying on, and often trolling, prominent local Black leaders and organizations, without any suspicion of criminal activity. In particular, investigators describe how “MPD officers used fake social media accounts to gain access to … social media profiles of Black groups and organizations, such as the NAACP and Urban League.” The fake MPD social media posts often expressed bigotry, using language “to further racial stereotypes associated with Black people,” the report says. One fake account posed as “a Black community member” and sent “a message to a local branch of the NAACP, criticizing the group.” (Tom Dickinson, New York Magazine)

Das sind keine Einzelfälle. Das amerikanische Polizeisystem ist völlig kaputt. Und das ist es bereits seit vielen Jahren. Ich fürchte auch, dass die Kritiker*innen, die der Überzeugung sind, dass es praktisch nicht reformfähig ist, Recht haben. Die Fäulnis reicht so tief und ist über mittlerweile jahrhunderte in der Institution verankert, dass da wenig Hoffnung besteht. Die erfolgreichsten Ansätze waren in den wenigen Fällen, wo man das gemacht hat, diejenigen, in der die bestehenden Strukturen komplett aufgelöst und die Polizei fundamental neu organisiert wurde. Quasi wie es hier beim KSK gemacht wurde.

Nur, und jetzt kommt die Kehrseite der Medaille: der Brunnen für diese richtige Politik wurde von den progressiven Aktivist*innen völlig vergiftet. Kein Slogan war so schädlich wie "Defund the Police". Er hätte die Democrats beinahe die Wahl 2020 gekostet und ist wohl Exhibit A für alles, was Mehrheits-Amerika an den Progressiven nicht leiden kann. Völlige Selbstgerechtigkeit, radikale Forderungen, verbunden mit dem miesesten Messaging, das man sich vorstellen kann, und maximaler Angreifbarkeit von rechts. Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr.

10) The Great Experiment by Yascha Mounk review – a shallow dive into the diversity debate

The Great Experiment promises to show us “how to make diverse democracies work”, but contains very few actual policy proposals. For the most part it’s a mishmash of general principles, political truisms and syrupy platitudes, delivered in a register somewhere between a TED talk and an undergraduate dissertation. Mounk draws on social psychology to tell us what we already know:  [...] The defining feature of The Great Experiment is its vagueness. Mounk deems the “experiment” to have begun “in the past five or six decades”, but his focus alternates between Europe and the United States, which has a far longer history of mass migration. He refers to “the problems now plaguing so many diverse democracies”, but does not care to particularise them; they occur “in many cases” and “many parts of the world”. At several points he threatens to say something interesting about critical race theory and the Black Lives Matter movement, but can’t quite follow through, restricting himself to mealy mouthed references to unnamed members of “academic and activist circles”, among whom it is currently “fashionable” to claim “the United States has not made substantive progress towards equality”. The resort to caricature is telling. Barely a single scholar, writer or activist is cited, let alone rigorously engaged with. Why so reticent? Many liberal and leftwing readers would be receptive to a good-faith, nuanced critique of contemporary identity politics, but it’s not forthcoming here. Who is this book for? Why does it exist? A first-year politics student or Blue Labour thinktanker might conceivably find some use for it, but it has little to offer the informed reader. (Houman Baraket, The Guardian)

Yascha Mounk ist der Richard David Precht der USA. Ich hab noch nie viel von ihm gehalten, aber er produziert ständig nur den gleichen Unfug für die gleiche Zielgruppe, die seine Plattitüden begierig aufsaugt. Man muss ihm auch lassen, dass er es hervorragend verkauft. Die Aura des Intellektuellen hat er sich erfolgreich umgehängt, und alle seine Warnungen kommen immer mit dem leicht schmerzverzerrten Gesicht des einsamen Warners in der Wüste. Dazu seine betont unbetontes Understatement. Alles ein Akt, der für ihn sehr erfolgreich ist. Letztlich ein Produkt der liberal-zentristischen Blase (nicht umsonst war es Ezra Klein, der ihn großgemacht hat).

Resterampe

a) Schaut man sich aktuelle Umfragen an, zeigt sich, dass die Bundeswehr gar keinen so schlechten Ruf hat wie ständig behauptet wird.

b) Mal wieder ein Beispiel aus der Kategorie "in meiner Jugend war es noch besser", das einfach hinten und vorne nicht stimmt, und das offensichtlich.

c) Die VERA-Vergleichstests sind dieses Jahr besser ausgefallen als sonst; ein negativer Effekt der Pandemie lässt sich empirisch nicht nachweisen. Zwar muss man das mit Vorsicht genießen, weil sie ein halbes Jahr später waren als üblich, aber die oft behauptete Idee einer ideologischen Studie, es seien zig Wochen Unterricht verlorengegangen, ist nicht haltbar.

d) Der Dunning-Kruger-Effekt existiert nicht - und was das für Schule bedeutet.

e) Einige Links zu dem furchtbaren Offenen Brief der EMMA: Nuhr peinlich, Das Ende der Solidarität, Das Credo der Gewaltlosigkeit - eine Kritik, Wolfgang Müller

f) Vollendetes Hufeisen.

g) Peak Welt.

h) Daran darf man die SPD gerne erinnern.

i) Der immer brillante Kamil Galeev hat einen super Thread zu Mobilmachungen in Russland.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.