Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.
Fundstücke
1) Putins Mythen: Was der Jugoslawien-Krieg mit der Ukraine zu tun hat
Putin jedenfalls kam Scholz’ Vorlage gelegen: „Aber wir haben doch bereits Krieg in Europa erlebt. Dieser Krieg wurde von der NATO gegen Jugoslawien entfesselt (...).“ Natürlich erwähnte Putin nicht, warum es für jenes Bombardement Serbiens 1999 keine UN-Resolution gab – sie wäre am russischen und chinesischen Veto gescheitert. Er erwähnte auch nicht, dass es eine andere NATO-Intervention gegeben hat, an der die Russen im Rahmen einer UNPROFOR-Mission indirekt beteiligt waren, nämlich jene von 1995. Sie beendete die Belagerung Sarajevos. Es war die erste NATO-Intervention auf dem Balkan, die demonstrierte, wie schnell Frieden hergestellt werden kann, wenn sich einer hochgerüsteten Armada, die ein Land ohne Armee angreift, das zusätzlich ein Waffenembargo auferlegt bekam(!), eine starke Militärmacht gegenüberstellt. [...] Es ist mir unbegreiflich, wie häufig in Deutschland die Schuld am Zerfall Jugoslawiens Genscher, Fischer, der NATO gegeben wird, ohne je nach Russland zu schauen. [...] Den Menschen im Osten wird immer wieder das Recht abgesprochen, selbst darüber zu entscheiden, ob sie der EU und der NATO angehören wollen, womit nur die Doktrin Putins wiederholt wird. Die Begründung variiert, mal wird der Westen des Imperialismus beschuldigt, als ob Menschen, die sich nach westlichen Werten sehnen, keinen freien Willen hätten, mal glauben die Deutschen, dass sie den Russen Loyalität schulden. Immer wieder wird gesagt, dass Gorbatschow versprochen habe, es werde keine Osterweiterung der NATO geben. Man muss sich das einmal vor Augen halten: Es war Nazi-Deutschland, das diese Länder zunächst ins Elend gestürzt hat. Bei der Befreiung von den Deutschen wurden die Länder von der Roten Armee überrannt und in Jalta dem Einflussgebiet der UdSSR zugesprochen. Dann fiel die Berliner Mauer – und als Preis für die Wiedervereinigung Deutschlands soll es Garantien gegeben haben, dass jene Länder weiter unter russischem Einfluss verbleiben sollten? Ich bin froh, dass der Bundeskanzler trotz des bedauerlichen Ausblendens der Kriege im ehemaligen Jugoslawien diese Meinung nicht teilt. (Alida Bremer, Freitag)
Die (Allein-)Schuld der NATO am Kosovo-Krieg ist ein sehr beliebter linker Mythos. Ich kann mich noch gut an ein Buch erinnern, das ich in den frühen 2000er-Jahren gelesen habe und das damals eines der ersten Politik-Sachbücher war, die ich in meinem Leben gelesen hatte. Natürlich kam es aus dem Milieu von Jürgen Elsässer; Name und Autor habe ich glücklicherweise verdrängt. Aber neu ist diese Argumentation einer "imperialistischen" NATO, die böse irgendwo ethnische Säuberungen verhindert, leider ganz und gar nicht, und Bremers Einordnung hier in den Kontext einer russischen Propagandaoffensive passen dazu wie der Deckel auf den Topf.
Merz hätte lernen können – nicht so sehr bei Baerbock, eher bei Robert Habeck. Habeck unterstellt man immer ein Kalkül, ob er mit Pferden spricht oder in Schwedt in der Rosneft-Raffinerie vor der Belegschaft auf den Tisch springt wie ein Volkstribun oder Arbeiterführer in alten Filmen. Er wirkt dabei jedoch nie völlig unsympathisch, weil zur Pose sofort die reflexive Brechung kommt, weil er zur Schau stellt, was von Politikern immer wieder gefordert wird: intellektuelle Skrupel, das Eingeständnis, sich geirrt zu haben – und trotzdem handlungsfähig zu bleiben. Man kann auch darin mühelos eine Selbstinszenierung erkennen. Und zugleich bemerken, dass Habeck einer dieser Schauspieler ist, die bewusst nie ganz in ihrer Rolle aufgehen. Dennoch entsteht da kein krasser Widerspruch zwischen seinem der Öffentlichkeit zugekehrten Selbst und dem Part, den er politisch spielen muss. Das ist, wenn man so will, eine Art Robert-Redford-Haftigkeit. Der kruden geschichtsklitternden Propaganda auf dem Roten Platz sind diese Inszenierungen ästhetisch wie politisch überlegen, auch weil sie einen wissen lassen, dass sie inszeniert sind. Und weil an den Auftritten von Baerbock oder Habeck nicht entscheidend ist, dass sie eine Rolle spielen, sondern für welche Rolle sie sich entschieden haben. (Peter Körte, FAZ)
Ich halte wenig von Körtes im Artikel ebenfalls geäußerter These, dass die Politik jetzt erst die Macht der Inszenierung entdeckt hätte. Politik hat schon immer inszeniert, nur gibt es eben solche und solche Inszenierungsarten. Auch Merkel hat Politik inszeniert, sie hat sich nur den traditionellen Repräsentationsformen verschlossen und etwas eigenes entwickelt. Aber Politik ist immer Inszenierung; wer das nicht kann, verliert in diesem Spiel.
Es ist auch ein Irrtum zu glauben, dass es objektiv gute Inszenierungen gibt. Habecks und Baerbocks Inszenierung kommen gerade sehr gut an, aber das liegt neben ihren unbestreitbaren Fähigkeiten auf diesem Gebiet vor allem daran, dass sie den Zeitgeist treffen. Der gleiche Stil wäre vor fünf Jahren (Habeck) beziehungsweise vor fünf Monaten (Baerbock) noch in der Luft zerrissen worden. Scholz' Stil wäre vor Kurzem noch gelobt worden und passt plötzlich nicht mehr in die Zeit.
Natürlich gibt es manche Politiker*innen, die sich wesentlich besser inszenieren können, keine Frage. Aber man muss vorsichtig sein, da zu viel Erklärungsgehalt reinzulegen. Die große Mehrheit der Leute bekommt sie ohnehin nie oder nur selten live zu Gesicht, und letztlich mag die Inszenierung etwas helfen, aber das, was inszeniert wird, muss den Leuten dann doch trotzdem schmecken. Und das haben die Politiker*innen oft genug gar nicht in der Hand.
3) Die Ordnung im Kopf und die Unordnung der Welt
Zur kulturell-mentalen Erbschaft, aus der wir uns derzeit herausarbeiten, gehört der „deutsche Russlandkomplex“. Er ist die andere Seite der Ukraine-Ignoranz. Alle Blicke, alle Aufmerksamkeit waren – bis vor kurzem jedenfalls – auf Russland fokussiert, von Russland absorbiert. Es ist ein über alle Zäsuren und Brüche hinwegführender, aus der Reichstradition stammender Komplex, der bis heute anhält, und sich in Formulierungen wie „gemeinsame Grenzen zwischen beiden Nachbarn“ immer wieder äußert. [...] Vieles kommt hier zusammen, der Lobbyismus deutscher Unternehmer und Netzwerker, aufrichtige Faszination für das große Land und sentimentaler Russenkitsch. Das Bewusstsein der Schuld für die deutschen Verbrechen auf sowjetischem Boden erstreckt sich auf Russland – bis in die jüngste Zeit jedenfalls –, und ein Projekt wie Nord Stream 2 wurde vom Bundespräsidenten vor noch nicht langer Zeit sogar mit einem Verweis auf deutsche Schuld und Wiedergutmachung für deutsche Verbrechen legitimiert. Für die Ukraine und Belarus galt diese Aufmerksamkeit, Verständnisinnigkeit und Empathie nie, obwohl es genug Gründe dafür gegeben hätte: die deutsche Besatzungszeit, Tausende von niedergebrannten Dörfern und Städten, die Millionen von Zwangsarbeitern, die Opfer der Schoah auf ukrainischem und belarussischem Boden. Sogar die Existenz einer ukrainischen Nation wurde von gebildeten Leuten – Helmut Schmidt – in Abrede gestellt. (Karl Schlögel, FR)
Grundsätzlich sehr lesenswerter, langer Artikel über die Geschichte der Ukraine und Belarus und ihr Verhältnis zu Deutschland. Ich muss ehrlich sagen, mir war bis vor Kurzem effektiv auch nicht geläufig, dass "Sowjetunion" und "Russland" nicht deckungsgleich sind. Klar wusste man auf einem abstrakten Level, dass es Nachfolgestaaten gibt, aber wie oft ich die Begriffe synonym benutzt habe - und oft genug aus Reflex immer noch benutze! - geht auf keine Kuhhaut. Das ist auch kein rein deutsches Phänomen, aber bei uns ist es besonders ausgeprägt. An der Stelle darf man auch gerne endlich mal Helmut Schmidt vom Podest herunterholen; der Mann ist den Blick des Wehrmachtleutnants in mancher Beziehung echt nie losgeworden.
4) It's the legislation, stupid!
Moreover, as has happened on a number of issues, Democrats chose to push a maximalist bill that checked all the activist boxes rather than legislation that could have won enough bipartisan support to exceed 50 votes. While the abortion measure was sold as codifying Roe v. Wade as the Supreme Court seems on the verge of overturning it, its provisions went far beyond the policies that precedent permitted. A bill that really did limit itself to codifying Roe could have gotten Sens. Susan Collins (R-Maine) and Lisa Murkowski (R-Alaska), both pro-choice, to vote for it, and ostensibly Sen. Joe Manchin (D-W.V.), too. Yes, that more modest bill still would have failed. But then it would really have been due to the supermajority requirements of the filibuster, and it would have been a bipartisan majority of 52 senators. The Democrats' democratic absolutism is largely opportunistic. [...] And that brings us back to the filibuster, a subject about which Democrats may reverse themselves yet again after November. The Democrats' problem is that they barely won the Senate and are dependent on the votes of their most conservative lawmakers, yet they are trying to legislate as if they enjoyed supermajorities. That's not on procedures, or even the GOP. (W. James Antle III, The Week)
Man hat irgendwie die Lektion der Obama-Jahre zu gut gelernt. Damals haben sie ihre supermajority nicht genutzt und stattdessen mit sich selbst Kompromisse geschlossen; jetzt tun sie so, als hätten sie sie noch. So oder so kann man sich immer darauf verlassen, dass die Democrats sich selbst im Weg stehen, hab ich das Gefühl. Mir ist einfach unklar, wie BBB immer noch nicht verabschiedet sein kann. Als ob sie nicht in fünf Monaten ihre haardünne Mehrheit über die Ohren gezogen bekommen werden. Selbst die Manchin-Siema-Version ist besser als alles andere, was diese Leute in den nächsten zwei Jahren kriegen können. Unbegreiflich.
5) Elise Stefanik’s Crocodile Tears Over the Buffalo Massacre
Stefanik is an important bellwether showing where the Republican Party is heading. She is, along with Ohio senatorial candidate J.D. Vance, a prime example of opportunistic extremism. [...] A religion is strong when it can compel deference and obedience not just from true believers but also from skeptics. Contemporary Trumpism (which now includes strains of white nationalism and QAnon-style conspiracy theories) can be divided into two broad camps: There is the faction of faithful fanatics (such as Marjorie Taylor Greene, Lauren Boebert, Paul Gosar, and Madison Cawthorn) who are sincerely committed to militant bigotry. There is also an emerging body of Republicans who echo all the themes of Trumpism but seem, based on their earlier history of more moderate politics, to be motivated merely by a lust for the main chance and the opportunity to rise to power on a wave of intolerance. Opportunists like Stefanik and Vance are more important than the fanatics because they show that Trumpism is increasingly hegemonic in the GOP—a creed that commands the devotion even of unbelievers. (Jeet Heer, The Nation)
Extreme Bewegungen können immer nur gewinnen, wenn die moderate Mitte der jeweiligen Richtung sie lässt. Kein Hitler ohne Zustimmung von Zentrum, DNP und DNVP. Kein Mussolini ohne Mitarbeit der Volkspartei. Kein Trump ohne Schützenhilfe des Parteiestablishments. Ich habe seinerzeit darüber geschrieben, dass Le Pen 2017 auch deswegen nicht gewonnen hat, weil das konservative Establishment, allen voran Fillion, sich ihr verweigert hat. Auch 2022 liefen die Konservativen nicht geschlossen zu ihr über. Solange das so bleibt, kann sie nicht siegen. Genauso bleibt die AfD irrelevant, solange die CDU nicht mir ihr koaliert.
6) How Hollywood and the Media Fueled the Political Rise of J.D. Vance
Members of New York’s smart set gathered on a warm Thursday evening in the early summer of 2016 at the ornately wallpapered apartment of two Yale Law School professors in the elegant Ansonia building on Manhattan’s Upper West Side to toast a Marine Corps veteran, venture capitalist and first-time author named J.D. Vance. They were celebrating Mr. Vance’s new memoir, “Hillbilly Elegy,” which chronicled his working-class upbringing in southwestern Ohio and an ascent that brought him to Yale, where his mentors included Amy Chua, one of the party’s hosts. Mr. Vance seemed modest, self-effacing and a bit of a fish out of water among guests drawn from the worlds of publishing and journalism, a half-dozen attendees later recalled. “It was almost stupid how disarmed the people were by that,” said one of them, the novelist Joshua Cohen. [...] “The reason ‘Hillbilly Elegy’ was such a high-octane book was academics, professors, cultural arbitrators — liberals — embraced it as explaining a forgotten part of America,” said Douglas Brinkley, a professor of history at Rice University who once introduced Mr. Vance at an event. “They wouldn’t have touched Vance with a 10-foot pole if they thought he was part of this Trump, xenophobic, bigot-fueled zeitgeist.” [...] “Though ‘Hillbilly Elegy’ was read widely across the political spectrum, my impression was that the book helped liberals to understand the causes of what had happened to them in the election of 2016,” said Adrian Zackheim, the publisher of several Penguin Random House imprints, including Sentinel, which focuses on conservative books. [...] “Where would Vance be if it hadn’t been for mainstream publishing and book promotion, if it hadn’t been for Ron Howard — an important person in show business who identifies as liberal — and Glenn Close and Netflix?” Mr. Rich asked. “Where would Trump be without NBC Universal, Mark Burnett, the whole showbiz world?” (Marc Trazy, New York Times)
Ich habe das von Anfang an prophezeit. Bereits 2016 war völlig absehbar, wohin die Reise von JD Vance gehen würde, und ich habe nie diesen Hype um "Hillbilly Eligy" mitgemacht. Das Ganze war von Anfang an eine Selbstbeweihräucherung der medialen Elite, eine Fingerübung in diesem furchtbaren Genre, wo die mit dem metaphorischen Tropenhut ausgerüstet die Provinz besucht, um dann im Duktus intellektueller Überlegenheit zu verkünden, dass man bei den Eingeborenen profunde Erkenntnisse gewonnen hat, die die eigenen peers nicht teilen, bis sie nicht dieselbe Expedition in unbekannte mittelwestliche Diner unternehmen. "Der mit dem Wolf tanzt", Appalachen-Edition, quasi.
Zu dieser Maschinerie gehören immer zwei. Die Expeditionsteilnehmenden auf der einen Seite, und diejenigen, die die Rolle des Pferdeflüsterers und Eingeborenenerklärers spielen andererseits. Das ganze ist eine Aufmerksamkeitsmaschine, und dass Vance eine Agenda hat und sich dafür problemlos mit den Rechten ins Bett legen wird war einfach offensichtlich (ungefähr genauso offensichtlich wie dass Fridays for Future irgendwann bei "Kapitalismuskritik" landet, bedauerlicherweise). Told you.
7) "Der Kapitalismus kannibalisiert seine eigenen Grundlagen" (Interview mit Nancy Fraser)
ZEIT ONLINE: In Ihren Benjamin-Lectures planen Sie dies in Bezug auf die Verbindungen von Klasse, Gender und Race zu tun. Sie schlagen vor, feministische und antirassistische Bewegungen auch als Arbeiterbewegungen zu begreifen. Das ist bemerkenswert, weil Antirassismus und Feminismus in gegenwärtigen Debatten oft als das Gegenteil materieller Verteilungskämpfe gesehen werden: als Formen des Aktivismus, die sich auf die Veränderung von Sprache und symbolischer Repräsentation konzentrieren.
Fraser: Dieser Ansatz entstand, nachdem ich W.E.B. Du Bois' 1935 publiziertes Meisterwerk Black Reconstruction lehrte. Das Buch ist eine brillante Analyse der US-amerikanischen Sklaverei und des Kampfes um ihre Abschaffung, des Bürgerkriegs sowie der Reconstruction und schließlich der darauffolgenden "Konterrevolution" der Besitzenden, die die Weiße Vorherrschaft im Süden wiederherstellte. Das Werk kreist dabei stets um die Frage der Arbeit und geht über gängige Definitionen hinaus. Du Bois interpretiert etwa den Abolitionismus, die Bewegung zur Befreiung der Sklaven, als eine Arbeiterbewegung. [...]
ZEIT ONLINE: Welche ist das?
Fraser: Neben der enteigneten und ausgebeuteten Arbeit gibt es noch die Sorge- und Reproduktionsarbeit, die vor allem von Frauen geleistet wird, weshalb die dritte große Arbeiterinnenbewegung der Feminismus ist. Der Kapitalismus beruht auch auf dem, was man Hausarbeit nennen könnte. Wobei diese Tätigkeiten nicht nur im häuslichen Bereich stattfinden, sondern ebenso im öffentlichen und sozialstaatlichen Bereich, in Schulen, Kindertagesstätten oder Altenheimen. Manchmal sogar im privatwirtschaftlichen Rahmen. Doch ganz gleich, wo sie stattfindet: Sie wird in der Regel kaum wertgeschätzt und unterbezahlt, insofern sie überhaupt entlohnt wird. Zusammen mit der enteigneten und ausgebeuteten Arbeit, mit denen sie eng verwoben ist, bildet die Hausarbeit einen weiteren "Grundstein" kapitalistischer Wirtschaft. Kurzum: Es sind also am Ende nicht nur zwei, sondern drei miteinander verschränkte Dimensionen der Arbeit, auf denen das System beruht und die – wie schon Du Bois sah – nicht einzeln, sondern nur zusammen befreit werden können. (Nils Markwardt, ZEIT)
Ich teile Frasers Kritik, dass der klassische Arbeiterbegriff wesentlich zu sehr auf eine sehr bestimmte Schicht von männlichen, weißen (Fach-)Arbeitern verengt wird, völlig. Ich weiß nicht ob ich bereit bin, ihn gar so weit zu definieren wie sie es tut; nicht, weil ihre Anliegen nicht gerechtfertigt wären, sondern schlicht, weil zu breit gefasste Begriffe irgendwann jede definitorische Kraft verlieren. Wenn ich irgendwann alle unterdrückten Gruppen irgendwie unter "Arbeiter" fasse, hat der Begriff einfach keine erklärende Kraft mehr. Und gerade bei der Sklaverei bin ich unsicher, inwieweit dieses Zusammenwerfen Sinn macht, weil sich die Arbeiterbewegung ja immer als Lohnarbeiterbewegung definiert hat - und eben gerade nicht als Sklaven. Aber da gibt es sicher Leute, die kompetenter urteilen können als ich.
8) Cannabis erlauben oder Alkohol verbieten?
Cannabis kann also erheblich schaden, daran besteht kein Zweifel. Und doch: Alkohol tut es eben auch. Der Unmut über die Aussagen der Drogenbeauftragten kommt auch daher, dass viele Leute den unterschiedlichen staatlichen Umgang mit beiden Drogen sehen, aber nicht verstehen. Sie haben Fragen, aber auf ihre Fragen bekommen sie keine wirklichen Antworten. [...] Es ist deshalb eine Sensation und ein Wagnis, dass die Ampelregierung im Jahr 2021 in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt hat, „die kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften“ einzuführen. Dieser Schritt bricht mit einer fast hundert Jahre alten weit verbreiteten Auffassung über den richtigen Umgang mit Cannabis. Eine Substanz, die lange als geradezu böse gegolten hat, soll nun erlaubt werden. Das erregt viele Gemüter. Dabei wäre doch der umgekehrte Schluss naheliegend: Auch wenn das Cannabis-Verbot damals aus den falschen Gründen erlassen wurde, so wissen wir doch heute, wie sehr Cannabis gerade jungen Menschen schaden kann. Es sollte also nicht erlaubt werden, zu kiffen. Vielmehr könnte Alkohol endlich seinen richtigen gesellschaftlichen Platz erhalten, nämlich ebenfalls verboten werden. [...] Es gibt niemanden, der das fordert. Noch nicht einmal in der bundesweiten Präventionskampagne „Aktionswoche Alkohol“, die gerade läuft. Denn Prohibition ist kein Mittel gegen eine populäre Droge. Verbote funktionieren nicht – oder nur mit ganz erheblicher, unverhältnismäßiger staatlicher Kontrolle. [...] Im kommenden Jahr soll ein Gesetzentwurf ins Parlament kommen. Er wird vielleicht weitreichendere Folgen haben, als es sich manch einer heute vorstellen kann und will. Die Hannoveraner Neurologin und Psychiaterin Kirsten Müller-Vahl jedenfalls kann es. Sie beschäftigt sich in ihrer Forschung schon lange mit Cannabis. Wenn man in einigen Jahren sehe, dass der neue Weg bei Cannabis funktioniere, sagt sie, könne das auch ein Modell für andere legale Drogen sein, etwa für Alkohol. Dann würden Bier oder Schnaps aus dem Supermarkt verschwinden und nur noch in lizenzierten Geschäften erhältlich sein. (Wibke Becker, FAZ)
Ich bin sofort dafür, Alkohol zu verbieten, aber das ist wohl eine Minderheitenmeinung. /Ironie aus. Becker hat allerdings in zwei Dingen völlig Recht: einerseits ist die Ungleichbehandlung der beiden Rauschmittel einzig aus einer langen Traditionslinie zu erklären, die sie im Artikel hervorragend herausarbeitet, und die nichts mit irgendwelchen logischen Argumenten bezüglich Gefährlichkeit oder sonst etwas zu tun hat, und andererseits, dass mittel- bis langfristig der Alkoholkonsum tatsächlich immer weiter randständig werden könnte. Ich prognostiziere - und beobachte - diese Entwicklung bereits seit Langem. Der Alkoholkonsum nimmt beständig, wenngleich sehr langsam, ab. Auffällig ist aber vor allem, dass er aus immer mehr sozialen Settings verbannt wird. Am Arbeitsplatz ist er mittlerweile indiskutabel, das war vor 30 Jahren noch nicht so. In der Öffentlichkeit, abgesehen von Bars und anderen speziell designierten Orten, für die ehrenwerte Gesellschaft ebenfalls. Und so weiter. Der Normenwandel ist langsam, aber sehr deutlich sichtbar. Dasselbe gilt auch für Zigaretten. Eine Entwicklung, die ich nur begrüßen kann.
Ein luxuriöser Wohnturm sollte das Image der schwäbischen Kleinstadt Fellbach aufpolieren. Doch das Projekt ging schief. [...] Der Bau im Osten der baden-württembergischen Stadt Fellbach sollte mal weit über die Grenzen des Bundeslandes hinaus für Aufsehen sorgen. Der frühere Oberbürgermeister Christoph Palm (CDU) wollte mit dem Turm das Image Fellbachs aufpolieren – wenn das überhaupt möglich ist. Die Stadt mit 44.000 Einwohnern liegt zwar im Speckgürtel Stuttgarts und gehört, gemessen an den Wohnkosten, zu den zwanzig teuersten und auch reichsten Städten Deutschlands. Städtebaulich ist Fellbach aber ein Sanierungsfall, eigentlich bleibt nur die Flucht in die Degustationsräume der Prädikatsweingüter der Winzer Rainer Schnaitmann, Matthias Aldinger oder Markus Heid. [...] Immerhin versuchten die neuen Investoren, die den Tower für 15 Millionen Euro gekauft hatten, den Konstruktionsfehler des Projekts zu beheben: Sie begannen die großzügigen Luxusappartements in kleinere, preiswertere Mietwohnungen umzuwandeln. Die Wohnungen in den oberen Etagen mit einem Quadratmeterpreis von 7000 Euro hatte schon Warbanoff nicht verkaufen können. In eine Betonwüste zwischen der früheren Bundesstraße, einem McDrive und Möbelmärkten zieht niemand, der sich eine Luxuswohnung leisten kann, und sei der Ausblick auf die Weinberge im Remstal noch so schön. [...] Der frühere Oberbürgermeister habe eben eine Schwäche für Großprojekte gehabt. „Man muss es nicht wollen, aber derzeit wird man den Verdacht nicht los, dass der Bau auch scheitern könnte.“ Es wäre vernünftiger gewesen, die Stadt hätte an der Stelle selbst Wohnungen gebaut und Gewerbe angesiedelt, sagt Raß. Aber als die Baugenehmigung erteilt wurde, ging es um etwas anderes in Fellbach: den Traum von Manhattan im Remstal. (Rüdiger Soldt, FAZ)
Als gebürtiger Fellbacher interessiert mich das Desaster um den ehemaligen GEWA-Tower natürlich besonders. Das Ding sieht man bereits aus den Nachbarstädten, und es ist seit Jahren eine Bauruine. Ich erinnere mich noch, dass ich beim Bau damals gecheckt habe, was die Wohnungen kosten sollten, das war absurd (aus heutiger Perspektive natürlich ein Schnäppchen, wo wir bei Absurditäten sind). Kein Wunder, dass das nicht verkauft wurde; und das, wo es direkt neben dem McDonalds, einem MediaMarkt, Toom, Rewe und Poco sowie eingebettet von Sozialwohnungen direkt an der B14 liegt. Ein Mysterium.
Es ist aber auch der gleiche Vorgang wie bei Stuttgart21. Irgendwelche CDU-Lokalgrößen - Ministerpräsidenten hier, Bürgermeister da - wollen sich mit irgendwelchen steingewordenen Phallussymbolen verewigen. Da werden alle Regeln gebeugt und riesige Summen rausgeschmissen, nur um ein Projekt auf die Beine zu stellen, mit dem man endlich, endlich als modernes Zentrum anerkannt werden kann. Und dann geht alles nach hinten los. Da würde man sich mal die schwäbische Hausfrau wünschen, die den Buben auf die Finger klopft. Wo ist sie, wenn man sie mal braucht?
"Wir werden das große Abenteuer der nuklearen Energie in Frankreich fortschreiben", hatte Macron gesagt. Angesichts der hohen Kosten und des Restrisikos scheint sein Vorhaben tatsächlich abenteuerlich: Mehrere Dutzend Milliarden Euro werden in das teuerste Bauprojekt seiner Amtszeit fließen und die Energiepolitik des Nachbarlandes auf Jahrzehnte tragen; die Reaktoren sollen teilweise bis zum Ende des Jahrhunderts laufen. [...] Dabei hat das französische Netz gerade akute Probleme: Viele Anlagen stehen wegen gravierendem Rostbefall still, sie müssen für viele Milliarden Euro auf den letzten Sicherheitsstandard gehoben werden. Aktuell läuft laut EDF nur jedes zweite Atomkraftwerk – in einem Wintermonat würde dies für weitreichende Stromausfälle sorgen. Auch der jüngste Neubau von EDF ist ein finanzielles und organisatorisches Desaster: Der Europäische Druckwasserreaktor (EPR) im französischen Flamanville sollte ursprünglich für drei Milliarden Euro errichtet werden, stattdessen liegen die Kosten inzwischen bei rund 20 Milliarden Euro. Er sollte ab 2012 Strom liefern – nun wird er aufgrund großer Sicherheitsbedenken frühestens 2023 ans Netz gehen. "Wir haben daraus gelernt und werden nun schneller sein", versprach Macron. [...] "Alle französischen Präsidenten haben auf Atomkraft gesetzt, um eine patriotische Stärke zu beweisen", sagt die Forscherin. Topçu hat die Strategien der nuklearen Industrie erforscht. In Frankreichs Geschichte sei die Elite stets einhellig atomfreundlich gewesen – sie besuchte mehrheitlich die großen Wirtschafts- und Verwaltungsuniversitäten des Landes, wie die ENA, in der die Vorzüge der Atomkraft ein "ständig wiederholtes Mantra" seien. Weil Macron offenkundig in der Klimapolitik versagt habe, klammere er sich nun an die neuen AKW wie an eine Rettungsboje. "Keine Energieform ist so an autoritäre und einsame Entscheidungen geknüpft wie die nukleare – deshalb passt sie zum zentralistisch regierten Frankreich mit einem allein entscheidenden Präsidenten." (Annika Joeres, ZEIT)
Ich bin echt gespannt, wer am Ende bescheuerter dastehen wird - die Franzosen mit ihrer Vernarrtheit in Atomkraft bei schlechtem Ausbau und keinerlei Idee, wohin mit dem ganzen Mist, oder wir mit unserer Komplettabschaltung bei gleichzeitiger Verweigerung des Ausbaus anderer Energiequellen. Mir scheinen beide Pläne ziemlich bescheuert. Am Festhalten der Nukleartechnik äußert sich immer mehr Kritik, während gleichzeitig aus anderen Ecken sich immer mehr die Rettung aus der Klimakrise davon versprochen wird; ich hab einfach keine Ahnung. Mir fehlt dafür schlicht das technische Wissen. Aber ich bin ziemlich, ziemlich skeptisch. Vielleicht zu unrecht, vielleicht nicht. Wir werden in 20 oder 30 Jahren mehr wissen.
Resterampe
a) Echt nur pervers.
b) Wen die Posse um den Vorsitz des PEN interessiert, findet hier einen schönen Verriss.
c) Die EZB redet von einem "natürlichen Gleichgewichtszins". Damit meint sie das 2%-Ziel. Und das ist völlig arbiträr. Es zeigt aber das ganze Problem der Wirtschaftswissenschaften der letzten 30 Jahre, völlig arbiträre Festlegungen (60% Schuldenquote und 3% Neuverschuldung in Maastricht, 90% Schuldenquote als Obergrenze bei Staaten, etc.) als Naturgesetze zu nehmen.
d) Die großen Entlastungen wegen der steigenden Energiepreise zeigen einmal mehr die politische Unmöglichkeit der CO2-Steuer als alleiniges Werkzeug. Es funktioniert 1A, der Markt regelt über Angebot und Nachfrage - aber das Ergebnis dieser Regelung ist für die Bevölkerung inakzeptabel und politisch toxisch.
e) CEO-Bezüge sind in den letzten 10 Jahren inflationsbereinigt 78% gestiegen. Bestimmt total verdient.
f) Hervorragender Blick von außen auf Habermas, den Ukrainekrieg und die deutsche Mentalität.
g) Die Sicht der Wählenden auf die Grünen ist schon etwas schizophren.
h) Der Steuer- und Regulierungsstaat von seiner schlimmsten Seite.
i) Bürgerliche Radikalisierung am Beispiel.
j) Analog dazu, dass Kritiker*innen der Geflüchtetenpolitik gerne so tun, als wäre von Anfang an eine überragende Mehrheit der Menschen dagegen gewesen (was nicht stimmt), wird gerne so getan, als hätte dieselbe von Anfang an gegen die Coronapolitik existiert. Eine neue Studie zeigt, dass dies nicht so ist und die Regierenden das ursprüngliche Vertrauen der Bevölkerung erst nach und nach verloren.
k) Interessantes Interview zum Kriegsverlauf in der Ukraine.
l) Tellkamp ist echt indiskutabel.
m) Zur Diskussion über die Performance des Verkehrsministeriums aus dem letzten Vermischten.
n) Der Herausgeber der ZEIT, Joffe, hat befreundeten Millionären den Tipp gegeben, dass eine investigative Recherche seines Hauses kommt und warum ist der immer noch im Amt?
o) Zur Zufriedenheit mit Minister*innen hat Jonas Schaible einige gute Gedanken.
p) Mal wieder was zur Nähe zwischen Polizei und Querdenker-Milieu.
q) Ökonomen fordern die Rente mit 70 wegen der Inflation und es ist einfach so ermüdend. Die fordern Rente mit 70 egal für was, wie eine hängengebliebene Schallplatte.
r) Marcel Fratzscher hat was Interessantes zum Thema Staatsfinanzen und Kreditraten.
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