Mittwoch, 25. Mai 2022

Rezension: Antonio Scurati - M - Son of the Century

 

Antonio Scurati - M - Son of the Century

Wir betrachten Mussolini und den italienischen Faschismus gerne aus der Perspektive seines Endes, als zur Farce gewordener Wurmfortsatz des ungleich zerstörerischen Nationalsozialismus. Eventuell bleibt der desaströse Griechenlandfeldzug von 1940 in Erinnerung, oder das völlige Versagen der italienischen Armee gegen die Briten in Nordafrika, das den Einsatz des Afrikakorps nötig machte. Das Bild aus deutscher Perspektive ist das eines inkompetenten, operettenhaften Staates. Vergessen wird darüber gerne, welche Anziehungskraft das faschistische Italien einmal hatte, und welch stilbildende Wirkung es besaß - gerade auch auf Hitler, aber auch auf viele andere rechte Regime jener Epoche. Es gab eine Zeit, in der Mussolini und sein Faschismus den Weg nach vorne zu weisen schienen, eine Zeit, in der sich Mussolini ohne allzuviel Lächerlichkeit als "Sohn des Jahrhunderts" inszenieren konnte. Von dieser Phase zwischen 1919 und 1925, als der Faschismus erstmals die Macht errang und absicherte, handelt dieses Buch von Antonio Scurati, das gerade nicht umsonst Wellen schlägt - nicht nur wegen seines Inhalts, sondern auch wegen seiner Form.

Beworben wird "M - Son of the Century", das nun in englischer Übersetzung vorliegt, als Roman. Zwar handelt es sich sicherlich nicht um ein klassisches Sachbuch, aber auch die Einschätzung als Roman kann ich so nicht teilen. Viel eher würde ich es als Collage bezeichnen, aber auch diese Einordnung zeigt nur die Einzigartigkeit von Scuratis Projekt auf. Der Wesenskern des Buches ist, dass es aus der Perspektive des Faschismus selbst erzählt wird. Protagonist der Geschichte ist Benito Mussolini selbst, wenngleich auch andere Personen schlaglichtartig ins Zentrum der Erzählung gerückt werden, und wir Lesenden sind entsprechend nahe bei ihm.

Für den italienischen Diktator funktioniert dies auch wesentlich besser, denn anders als Hitler ist er trotz allem erkennbar ein Mensch. Er bleibt begreifbar, wenn er sich aus dem Regierungspalast schleicht um im Hotel mit seiner Affäre Champagner zu schlürfen und die Nacht durchzuvögeln, oder wenn er in vulgärsten Ausdrücken vor sich hin flucht. Das macht ihn sicherlich nicht sympathisch, aber das ist auch nicht Scuratis Ziel. Ich kann mir nur nicht vorstellen, wie ein ähnliches Buchprojekt für Hitler aussehen sollte. Bei der Vorstellung alleine kräuseln sich die Zehennägel.

Wie gesagt handelt es sich aber auch keinen Roman; weder existiert ein klassisches Narrativ, noch gibt es so etwas wie direkte Rede. Stattdessen sprechen die Quellen, indem wir Auszüge aus Reden, Zeitungsartikeln, von Flugblättern und Parlamentssitzungen bekommen, während Scurati sie alle in eine übergeordnete Erzählung packt. So beschreibt Scurati etwa die Stimmung auf einer Versammlung Schwarzhemden, dringt in ihre Mentalität ein, bevor er uns Mussolinis Stimme über seine Rede hören lässt, um dann eine Art inneren Monologs Mussolinis zu schreiben, indem er das Geschehnis aus dessen Sicht reflektiert. Fiktion, sicherlich, aber eine metikulös in den Quellen und der Erforschung des Diktators grundierte.

Der Reiz dieses Vorgehens liegt darin, dass Scurati keine Deutung der Geschehnisse vornimmt, sondern den Aufstieg des Faschismus in dessen eigener Sprache, seinen eigenen Prämissen und seinen eigenen Deutungen schildert. Die Wertung, Einordnung und Analyse wird komplett den Lesenden überlassen, Scurati selbst nimmt sich als Autor praktisch völlig zurück. Das ist natürlich auch nur ein literarisches Stilmittel, aber es funktioniert hervorragend. Ich will den eigentlichen Inhalt des Werkes, die Geschichte, die hier erzählt wird, deswegen im Folgenden nun auch selbst einordnen. Die bisherige Erläuterung sollte deutlich gemacht haben, dass jede dieser Wertungen und Vergleiche meine eigene ist und nicht von Scurati stammt.

Die Geschichte beginnt mit dem eigentlichen Vater des italienischen Faschismus', dem Dichter Gabriele d'Annunzio, und der aus der Rückschau bizarren Obsession der italienischen Rechten mit der Hafenstadt Fiume (heute Rijeka, Kroatien). D'Annunzio erfand die faschistische Uniform, er erfand den faschistischen Geist, und der gab der Bewegung mit dem Kampf um Fiume den ersten Bezugspunkt. Er hatte, ebenso wie Mussolini (der darüber mit den Sozialisten brach) den Eintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg betrieben, unter anderem, um eben diese Stadt zu erobern (und den Rest der Adria, aber man wurde nach dem Desaster von Caporetto etwas bescheidener). Die faschistische Bewegung, die Mussolini seine neue Heimat bot, inszenierte sich dabei als eine moderne Bewegung, die dezidiert weder eine Partei war noch ein Programm besaß. Ausschlaggebend war allein die Handlung.

Damit setzte sie sich ebenso dezidiert wie bewusst von den Sozialisten ab, die praktisch die Definition von Programm und Partei waren. Wie später der Nationalsozialismus ist der Anti-Sozialismus ein wesentlicher ideologischer Pfeiler der neuen Bewegung. Aber während D'Annunzio sein Abenteuer in Fiume startet - aus dem sich Mussolini wohlweislich heraushält und das in einer krachenden Niederlage der Frühfaschisten enden wird - schlägt in Italien die Stunde der Sozialisten. Sie sind es, die angesichts der furchtbaren Lage die Kraft von morgen zu sein scheinen, nicht die Fachisten.

Darin sind die Sozialisten ein Spiegelbild der SPD. Über Jahrzehnte nährten sie die Hoffnung auf Revolution, schafften ein eigenes Milieu und übernahmen lokal, dann regional Verantwortung. Der nächste große Schritt ist die Machtübernahme im ganzen Land und dann, endlich, die Umsetzung lang gehegter Forderungen: fairere wirtschaftliche Verhältnisse, Gleichberechtigung aller Menschen, Abschaffung der Lohnsklaverei auf dem Land; das Übliche. Das Mittel: demokratische Wahlen. Rhetorisch allerdings schwingen die italienischen Sozialisten wie ihre deutschen Genoss*innen die Rede von der Revolution, selbstverständlich, ohne je danach zu handeln ("Die Revolution kommt, aber nicht heute. Erleichterung. Sie kommt bestimmt morgen.").

Die dritte politische Macht in der italienischen Triade sind die Liberalen. Scurati benutzt den Begriff in etwas ungewohnter Manier; er fasst darunter sämtliche Kräfte, die im alten republikanischen System funktionierten, von klassischen Unternehmervertretern zu den Parteien der Landbesitzern über die christlichen Populisten. Sie hatten das Land in wechselnden Koalitionen regiert und fürchteten nichts mehr als einen Verlust ihrer Pfrüne durch die Sozialisten.

Die Stimmung 1920 war giftig. Die Enttäuschung über die angesichts der hohen Kriegsverluste enttäuschenden Gebietsgewinne in Versailles, wo Fiume nicht gewonnen werden konnte, mündete in der Rede vom "vittoria mutilate", dem "verstümmelten Frieden", der Dolchstoßlegende Italiens. Die Arbeiter wollten nichts weniger, als erneut in gewalttätige militärische Abenteuer gezogen werden; sie verlangten nach greifbaren Früchten für ihre Opfer. Die Arditi dagegen, das italienische Äquivalent der deutschen Sturmtruppen, arbeitslos, nichts als Gewalt gewöhnt und von der Gesellschaft nicht mit der Bewunderung und dem Respekt begegnet, den sie zu verdienen glaubten, hassten eben diese Arbeiter mit Inbrunst. Die Vorlage, auf der Hitler seine SA gründen wird, ist offensichtlich.

Die Wahlen von 1920 ergaben eine klare Ablehnung der Faschisten. Sie gewannen kein einziges Mandat, nicht einmal ihr berühmtester Vertreter, Mussolini. Der erklärte die Wahl für irrelevant und behauptete, er habe sie eh nie ernstgenommen, aber wen glaubte er, überzeugen zu können? Das Ergebnis war ein Triumph der Sozialisten, die in den Regionen und im Parlament deutlich stärkste Kraft wurden. Und dann passierte: nichts. Die Massen standen bereit, und die sozialistischen Führer zögerten. Sie wollten keine Revolution, sie hofften auf Zusammenarbeit mit den liberalen Kräften im Parlament. Es war eine vergebliche Hoffnung.

Stattdessen eskalierte der Konflikt. Die Landbesitzer und Unternehmen versuchten, die alte Ordnung mit Gewalt zu erhalten und unterdrückten die Arbeiter. Diese reagierten mit einem Generalstreik - und riesiger Enttäuschung über ihre Parteiführung. Während die sozialistischen Parlamentarier von Ruhe und Ordnung sprachen und sich in Parlamentsdebatten übten, verübten die frustrierten Landarbeiter willkürliche Akte von Gewalt auf dem flachen Land. Für die Liberalen war das die Bestätigung, dass die Sozialisten den Umsturz, die Revolution planten.

Damit schlug die Stunde der Faschisten, die ohnehin nur allzugerne Straßenschlachten gegen politische Gegner schlugen. Sie inszenierten sich als Garanten der Ordnung, während sie in Wahrheit die Gewalt anheizen. Dabei verbreiteten sie den Mythos einer ehrlichen, ritterlichen und defensiven Gewalt, die sich gegen die ungeordnete, revolutionäre Gewalt der Sozialisten richte. In Wahrheit steckte hinter diesem Mythos aber die unausgesprochene, wenngleich wohl verstandene Garantie, dass sich diese Gewalt nicht gegen die Bourgoisie richten würde. Dies erlaubte ein Bündnis mit den liberalen Kräften - und vor allem ein Bündnis mit der Polizei und der Armee. Die Folge war ein Massaker an den Sozialisten, das der Niederschlagung der Revolution in Deutschland in nichts nachstand.

Nicht einmal ein halbes Jahr nach ihrem elektoralen Triumph standen die Sozialisten vor dem Untergang. Dergestalt mit einer Existenzbedrohung ausgesetzt, taten die Sozialisten, was Linke immer am besten können: sie spalteten sich. Wie auch in Deutschland und vielen anderen Ländern wurde eine kommunistische Partei gegründet, die sich eng mit Moskau verband - deren Revolution für die Kommunisten so inspirierend wie für die Liberalen erschreckend war. Und weil nichts schöner als eine Spaltung ist, spalteten sich auch die Sozialisten noch einmal; um der Ironie die Krone aufzusetzen, nannte sich die neueste Abspaltung "Sozialistische Einheitspartei".

Das gleichzeitige Scheitern d'Annunzios und der mit ihm affiliierten Personen in Fiume indessen hatte Mussolinis Stellung in der faschistischen Bewegung - man verstand sich ja explizit nicht als Partei - gestärkt. Er versuchte, durch ein politisches Hasardeursspiel neue Handlungsspielräume zu gewinnen und schlug einen Friedensschluss mit den Sozialisten vor. Diese 180°-Wende war nur möglich, weil Mussolini es stets abgelehnt hatte, sich an irgendein Programm zu binden oder den Faschismus als Partei zu organisieren. Als dieses Manöver fehlschlug, vollzog er sofort eine weitere 180°-Wende und verkündete die Notwendigkeit, eine faschistische Partei zu gründen, mit klarer Hierarchie und Programm - mit ihm an der Spitze (und als Programm). Damit befriedete Mussolini den inneren Kampf der Faschisten, die sich untereinander zu bekämpfen begonnen hatten (sehr zum Vergnügen der Liberalen) und gab der Gewalt eine neue, produktivere Richtung: nach außen.

Damit hatten sich die politischen Verhältnisse auf den Kopf gestellt. Die vorherige Hinnahme der faschistischen Gewalt durch den liberalen Staat, solange sich diese gegen die Sozialisten richtete, hatte zwar die Linke als politischen Faktor quasi enthauptet. Sie hatte nun aber gleichzeitig auch jede Möglichkeit eben dieses liberalen Staates entfernt, sich gegen die faschistische Gewalt zu erwehren. Als die Liberalen versuchten, im Parlament ein antifaschistisches Bündnis gegen die wachsende Gefahr zu organisieren, verweigerten sich neben signifikanter Anteile der katholischen Populisten ausgerechnet die Sozialisten. Das war einerseits verständlich, denn die Liberalen arbeiteten gleichzeitig mit den Faschisten zusammen, um die Macht der Landarbeiter, die diese in der sozialistischen Hochphase 1919 erlangt hatten, wieder zu brechen, es war aber andererseits auch bemerkenswert kurzsichtig. Die Liberalen waren sicherlich der politische Gegner der Sozialisten; die Faschisten aber waren eine tödliche Bedrohung.

Die Liberalen vollzogen nun ihrerseits eine Kehrtwende. Sie nutzten massive ökonomische Gewalt gegen die Landbevölkerung, um diese zu brechen, indem sie die Regionen praktisch aushungerten. Die Faschisten verbündeten sich mit den Landbesitzern und schlugen die verzweifelten Proteste der Hungernden mit landlosen Streikbrechern und Arditi nieder; der Staat schaute dem gewalttätigen Treiben zu und schützt die faschistischen Schlägertruppen. Gleichzeitig betrieb Mussolini immer noch die Rhetorik von "defensiver Gewalt". Dieses rhetorische Doppelspiel erlaubte es den Liberalen, sich mit Faschisten zu verbünden, ohne schlechtes Gewissen zu bekommen. Politisch war diese Vernichtung der sozialistischen Basis enorm erfolgreich. Von den Liberalen ausgehungert und von den Sozialisten nicht geschützt, wandte sich die Landbevölkerung, die noch 1919 den Sozialisten die Schlüssel zum Königreich auf dem Tablett serviert hatte, den Faschisten zu.

Die einzigen, die einer Regentschaft Mussolinis nun noch im Weg standen, waren die Liberalen. Diese taten ihm denselben Gefallen wie zuvor die Sozialisten: der liberale Staat beging Selbstmord durch einen internen Fraktionskampf. Alle Parteien wollten an die Macht, und sie alle glaubten, sich dazu Mussolinis bedienen zu können, dessen Arditi das Land in Terror versetzten - ein Terror, aus dem nur Mossilini es befreien zu können schien. Es war dasselbe Stockholm-Syndrom, das zehn Jahre später auch die deutsche Mittelschicht ergreifen würde. Mussolini indessen belog sie alle, nahm all ihre Angebote für Ministerien an. Sein Machtmittel, neben diesen Lügen, war die Drohung mit Gewalt beim gleichzeitigen Versprechen, eben diese Gewalt zu beenden. Die Liberalen schluckten diese Ambivalenz.

Im Herbst 1922 war es endlich soweit: das Land stand kurz vor einer Eruption der Gewalt. In allen Regionen machten sich Schwarzhemden ostentativ bereit für einen Marsch auf Rom, während Mussolini verkündete, keinen solchen zu planen, aber die einzige Rettung vor einem solchen zu sein. Putin wäre stolz auf diese kognitive Dissonanz gewesen. Am Ende knickte der liberale Staat ein; anstatt einen Ministerposten bot der König Mussolini das Premierministerium an. Die seit Tagen durchnässten, ausgehungerten und kranken Arditi durften eine erbarmungswürdige Parade durch Rom abhalten, die ihnen so peinlich war, dass sie mit eingezogenem Schwanz die Stadt wieder verlassen, die ihnen hinterherlachte. Es schien, als wäre die Rechnung der Liberalen aufgegangen und Mussolini eingehegt, als habe er die radikale Basis entmannt und befriedet.

Die Farce des "Marsch auf Rom" war jedoch als Propandagelegenheit viel zu gut, als dass Mussolini sie sich entgehen lassen würde. Im Nachhinein monumentalisierte er sie und baute sie zu der Legende auf, die ein Jahr später einen Münchner Lokalhetzer namens Adolf Hitler zu der Idee bringen würde, in einem "Marsch auf Berlin" die Republik zu vereinen. Genauso wie in München zeigte sich auch in Italien, dass es eine Sache war, wehrlose Sozialisten zu ermorden und eine ganz andere, dem Staat zu begegnen. Die Arditi verstanden die Machtverhältnisse nur eingeschränkt; in Bologna erlebten sie ein letztes Debakel, als sie auszogen, um die Sozialisten auf dem Land zu ermorden und von der Polizei gestoppt wurden. Eine Salve genügte, und die Arditi brachen, flüchten in Konfusion und wurden von den Sozialisten gestellt und ihrerseits ermordet.

Mussolini hatte keine solchen Illusionen. Er wusste, dass von Krieg sprechen und Krieg führen zwei unterschiedliche Dinge waren und die faschistischen Schlägertruppen keinen Tag echten Krieg überleben werden würden. Er unternahm etwas, das man aus deutscher Perspektive als eine Art "Gleichschaltung" ohne Reichstagsbrand sehen könnte: Wie Hitler 1934 mit der SA musste er die Gewalt der Arditi einhegen und seine politischen Gegner kaltstellen. Zu diesem Zweck organisierte er die Arditi als Hilfspolizei des Staates (aus dessen Budget sie nun auch ausgerüstet wurden, zumindest ein wenig - das Geld ging komplett für Uniformen drauf, was angesichts der Unkontrollierbarkeit der Schlägertruppen wahrscheinlich auch besser so war) und hetzte sie ein letztes Mal auf die Sozialisten. Nun offiziell als staatliches Hilfsorgan drangen die Arditi in die sozialistischen Hochburgen vor und ermordeten jeden, der sich ihnen in den Weg stellte. Wo ernsthafte Gegenwehr drohte, halfen Polizei und/oder Militär aus.

Angesichts dieser Gewaltdrohung übten sich die Liberalen in derselben Selbstgleichschaltung wie ihre deutschen Pendants ein Jahrzehnt später und stimmten für Mussolinis nächstes großes Projekt: eine Wahlrechtsreform. Diese würde den Faschisten, die bisher kaum 10% der Abgeordneten stellten, eine satte Mehrheit bringen; gleichzeitig gab sie aber auch den liberalen Führungsfiguren sichere Mandate. Das reichte. Auch die Ausbreitung der Kontrolle auf immer mehr Bereiche wurde abgenickt. Ein neues Parlament ebnete dazu den Weg.

Doch die innenpolitische Energie erlahmte nach diesen ersten Maßnahmen, und die Arditi waren unruhig. Sie wollten Köpfe brechen, keine Gesetze verabschieden. In dieser Situation inszenierte Mussolini die Korfu-Krise mit Griechenland, um so die Energie nach außen zu lenken. Das gelang hervorragend; Italien wurde von einem nationalistischen Fieber ergriffen, und man jubelte den Marinesoldaten zu, die die kleine Mittelmeerinsel besetzen sollten. Es ist etwas merkwürdig, wie diese Episode schnell wieder aus dem Narrativ fällt; der innenpolitische, machtpolitisch orientierte Fokus des Buches schlägt hier vermutlich durch. Auch die Washingtoner Flottenkonferenz oder Rapallo finden praktisch keine Erwähnung.

Anders als in Nazi-Deutschland 1934 war Mussolinis Macht aber bei weitem nicht absolut. Er war Premierminister von des Königs Gnaden, und seine eigene Fraktion konnte ihn jederzeit absetzen. Er war als Duce des Faschismus nicht annähernd so unersetzlich für die Bewegung wie Hitler für den Nationalsozialismus; der alternde d'Annunzio etwa stand als potenzieller Anführer genauso zur Verfügung wie diverse interne Frenemies. Bereits 1924 geriet das Regime in eine schwere Krise. Die nicht nachlassende Gewalt der Arditi diente dem sozialistischen Frontmann Giacomo Matteotti als Mittel, die faschistische Gewaltherrschaft ständig im Parlament anzuprangern; die Zeitungen schrieben negative Artikel über die Gewalt. Noch konnte Mussolini sich rhetorisch distanzieren, aber ewig funktionierte dieser Trick nicht, und die Arditi akezptierten es nicht, für ihre Morde verhaftet und vor Gericht gestellt zu werden und forderten eine Generalamnestie.

Die Situation eskalierte, als Amerigo Dumini am hellichten Tag und auf offener Straße Metteoti ermordete. Die offene Gewalt war nicht mehr zu ignorieren und führte zur größten Krise des Regimes ("100 schreckliche Tage"). Im Parlament wurden Mussolinis Befugnisse eingeschränkt, die Zeitungen druckten Rücktrittsforderungen. Doch der König hatte Angst vor der eigenen Courage und bestätigte Mussolini, der mit dem instinkt des Schlägers zum Gegenschlag der Faschisten ausholte; die Liberalen stimmen für die italienische Version des Ermächtigungsgesetzes, mit einer Begründung, die ungefähr so gut war wie "aber er hat Autobahnen gebaut".

Als ob das Schicksal den Italienern etwas mitzuteilen hätte, verschärfte sich die Krise abermals: hatte Mussolini bisher behauptet, nichts mit Matteottis Verschwinden zu tun zu haben und ihn finden zu wollen, wurde nun seine Leiche entdeckt. Scharfe Kritik in der Presse, Demonstrationen vor allem der verbliebenen Sozialisten, Niederlagen im Parlament; gleichzeitig zunehmende Gewalt - das Regime befand sich in einer scheinbar tödlichen Abwärtsspirale. Alles, was es brauchte, war eine einzige Person, die bereit war, Mussolini und seine Getreuen vor dem Verfassungsgericht anzuklagen.

Genau das gab es nicht. Erneut bewies Mussolini den richtigen Instinkt. Matteotti hätte den Mut gehabt, doch seit seiner Ermordung war allen Parlamentariern das Hemd näher als der Rock. Mussolini roch Schwäche. Und er war ein grandioser Schauspieler. Er trat für das Parlament und fragte theatralisch, ob jemand ihn anklagen wolle. Als sich niemand meldete, klagte er sich selbst an - und sprach sich frei. Am Ende seiner Rede war er Diktator Italiens.

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