Dienstag, 10. Mai 2022

Proletarische Wirtschaftspolitik an Schulen ruiniert maskentragende russische Windräder im Multiversum - Vermischtes 10.05.2022

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.

Fundstücke

1) Schulen, Corona und das hohle Hauptargument

Politisch bleibt der Ruf nach einer Öffnung der Schulen geknüpft an eine Behauptung ohne Schlussfolgerung. Die Behauptung heißt: Die Jugend ist uns so wichtig, darf nicht leiden und muss deshalb in Präsenz. An die Behauptung angeschlossen ist dann der fehlende Schutz der Minderheit vulnerabler Gruppen. Aber nun kommt‘s: Die Behauptung kann nur im Paket funktionieren. Ich kann nicht sagen, dass die jungen Leute wichtig sind (was ja die Präsenz rechtfertigt), ohne Veränderungen durchzuführen. Ich muss also zwangsläufig für Luftfilter sorgen. Ich muss zwangsläufig die Bildungspläne entschlacken. Ich muss zwangsläufig Freiräume für den sozialen Austausch bieten. Das alles ist zwangsläufig. Denn wenn die Behauptung zuträfe, muss eine Handlung folgen. Folgt die Handlung nicht, kann die Behauptung nicht stimmen. Dann ist sie ein hohles Argument, eine Aussage ohne wert. Solche wertlose Aussagen sind politisch wertvoll, da sie nichts kosten. Die Aussage: Die Kinder und Jugendlichen müssen in Präsenz unterrichtet werden, weil sie so wichtig sind suggeriert, dass die Wichtigkeit schon Begründung für die Handlung ist. In Wirklichkeit ist sie aber Teil der Behauptung. Die Schlussfolgerung ist also: Wenn man der Meinung ist, dass die Mehrheit der jungen Menschen die letzten zwei Jahren gelitten hat und dass dies bedeute, dass schulische Präsenz notwendig ist, auch wenn vulnerable Gruppen sich dann selbst schützen müssen, dann bedeutet das zwangsläufig auch eine schulpolitische Veränderung der Bildungspläne, der Freiräume und der sozialen Unterstützung. Alles andere sind hohle Phrasen. (Bob Blume)

Bob hat absolut Recht. Nicht, dass die Forderung, die Schüler*innen und ihre Belange in den Mittelpunkt zu stellen, irgendwie falsch wäre, aber es ist halt eine reine Nebelkerze. Die wirklichen Probleme sind viel tiefgreifender, wie ich in der Rezension seines Buches "10 Dinge die ich an der Schule hasse" ja auch besprochen habe. Ich will hier zwei Aspekte besonders betonen. Das wäre zum Einen die Forderung und geradezu Sakralisierung der Präsenz, als ob die Lerngewinne hier zwingend automatisch besonders hoch seien (sind sie aus vielerlei von Bob im Buch auch diskutierten Gründen nicht). Und zum anderen die Geschichte mit den Luftfiltern, weil sie die Prioritäten wie unter dem Brennglas besonders deutlich zeigt. Wie auch bei anderen Fragen der Ausstattung sind die Interessen der Schüler*innen nämlich sehr, sehr weit hinten auf der Prioritätenleiste. Ganz sicher weit hinter denen der Erwachsenen, die darüber entscheiden.

2) The toxic politics of bad economic news

In dancing a jig about President Biden's misfortune, Republicans run the risk of misreading that interaction and looking like they're actively cheering on further bad news. [...] We apparently just lived through three months, from January through March, in which the American economy got smaller overall. Yet consumer spending grew 0.7 percent during that quarter. At the individual level, most Americans weren't behaving as if they were in the early stages of a recession. [...] Regardless, the numbers released on Thursday morning simply don't reflect or explain a lived experience of pain on the part of Americans, which makes the good cheer from the right seem especially foolish. Of course it's not quite as bad as members of the opposition party rejoicing at actual economic hardship. Still, fist pumping about bad news, even when it's mostly an abstraction, isn't politically wise. [...] But without those underlying bad experiences? Republicans may well end up looking like they're giving each other high-fives over phantoms — and hoping for greater pain to advance their own political fortunes. (Damon Linker)

Linker hat völlig Recht, wenn er es als "toxic politics" beschreibt, dass es für die Republicans gute Neuigkeiten sind, wenn es dem Land schlecht geht. Und ich schreibe hier bewusst Republicans, weil die Democrats das nicht tun. In der Rezession 2009 unternahm die GOP alles, um die Lage schlimmer zu machen (und gab das auch offen zu, Stichwort "one-term president"), während in der Rezession von 2020 die Democrats wesentlich interessierter als die regierenden Republicans waren, der Bevölkerung zu helfen. Dass das funktioniert, hat schreckliche Konsequenzen.

Völlig wirklichkeitsfremd dagegen ist die Vorstellung, dass die reale wirtschaftliche Lage irgendwie dazu führen würde, dass das nicht aufgeht. Partisans gonna believe. Wie viel mehr Studien und Anschauungsmaterial als 2020/21 braucht man denn dafür? Von einem Tag auf den anderen beschlossen signifikante Anteile der republikanischen Wählendenschaft, dass die Wirtschaft nicht total toll laufe, sondern dass es stattdessen ganz schrecklich sei - nur basierend auf dem Wahlergebnis. Diese Wahrnehmung ist übrigens völlig überparteilich, dasselbe passiert auch, wenn Democrats Wahlen verlieren. Nur ist der Effekt, wie so häufig, auf der Rechten wesentlich stärker. Erneut, das ist alles ausgiebig empirisch erforscht wurden. Wie man da immer noch solche Luftschlösser bauen kann, erschließt sich mir nicht. Die Herausforderung für die Democrats ist es, die eigenen Wählendenschaft an die Urnen zu kriegen. Und ich wette dollars to doughnuts, dass sie damit im November scheitern werden.

3) The pretend proletariat

Downward mobility seems to be changing labor activism in more intuitively receptive sectors, too. The New York Times reported on Wednesday that college-educated workers played key roles in successful organization drives at Amazon, Starbucks, and the sporting-goods retailer REI. You can find support for Turchin's overproduction thesis in the quotes from college and even master's graduates who expected to work as salaried professionals in prestigious fields,  but found themselves earning hourly wages and wearing company uniforms.  [...] More important, though, the prominence of college graduates in the new school of labor activism could make it difficult to find the sort of broad coalition that Democrats enjoyed during the heyday of organized labor. The somewhat incongruous enthusiasm of highly credentialed editorial assistants, graduate students, and non-profit employees might signal a restoration of class consciousness — or just alienate potential allies. Like the presidential campaigns of Bernie Sanders, the version of organized labor that's become fashionable recently risks becoming a kind of role-playing rather than a genuine working class movement. [...] Not simply organic resistance from the lower strata of American life, the new unionism is also a protest of surplus elites against an increasingly ossified power structure. That doesn't mean it's doomed — if Turchin is right, the revolt of the elites can be even more disruptive than the demands of the genuinely poor or exploited. If they want to be successful, though, the new faces of organized labor need to prove they're more than dilettantes in proletarian drag. (Samuel Goldman, The Week)

Die aktuelle bescheidene Revitalisierung der Gewerkschaftsidee in den USA ist grundsätzlich sehr begrüßenswert, aber Goldmans Skepsis hier ("pretend proletariat", brillanter Begriff) ist eine spannende und willkommene Ergänzung. Wenn es tatsächlich so ist, dass da hauptsächlich Wannabe-White-Collar-Worker dahinterstecken, sind das keine guten Nachrichten. Denn das bedeutete, dass die langsame Abwanderung der (weißen) Blue-Collar-Schicht zur politischen Rechten ungebremst weiterginge. Das ist insofern schlecht, als dass diese Leute ja nicht gerade zufrieden mit ihrer Situation sind (verständlicherweise), aber dass sie eben die Schuld dafür vor bei Menschen anderer Abstammung und Hautfarbe suchen statt in der Unterdrückung durch das Kapital. All das macht aber, besonders wenn man die gesellschaftlich-progressive Ausrichtung der Democrats bedenkt, mit der viele in dieser Schicht nichts anzufangen wissen, leider sehr viel Sinn. Das amerikanische Zwei-Parteien-System erlaubt in diesem Nullsummenspiel leider keine anderen Auswege, anders als in Deutschland, wo mehrere demokratische Ausweichmöglichkeiten zur Wahl stehen.

4) Woher die Brutalität russischer Soldaten kommt

Woher kommen Russlands Soldaten, die in der Ukraine Gräueltaten begehen? Sie kommen aus einer Gesellschaft, in der Gewalt die Norm ist und wo Empathie fast körperlichen Schmerz verursacht. Wo man wenn kein Vergewaltiger dann Opfer ist. Diese Gewalt kommt aus dem Elend, dem Neid und Hass, aus dem Zusammenbruch der Industrie und der Wirtschaft, aus dem Fehlen sozialer Institutionen und funktionierender Demokratie. Aus einer Zeit des Anfangs, der kein Neubeginn war, sondern aus dem verwesten Staatskörper der „Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“ das Kapital der Freiheit und das Kapital der Korruption schlug, ohne beides voneinander zu trennen. Die Gewalt kommt aus einer Zeit, in der man Babys auf dem Schwarzmarkt billig kaufen konnte, in der alkoholkranke Mütter ein Neugeborenes für eine Flasche Wodka an Bettler verkauften. Diese Babys starben schnell, aber es war einfach, ein neues zu kaufen. [...] Eine Gesellschaft, die durch die sowjetischen Selektionsprozesse verstümmelt und in den Neunzigern an den Rand gedrängt wurde, findet sich im riesigen schwarzen Loch von Putins heutigem Russland wieder, wo die Simulation von allem – Demokratie, Gesetzen, Verwaltung, Wirtschaft, sozialen Einrichtungen und dem Staat selbst – zum Prinzip der Verwaltung geworden ist. Manchmal scheint es, als habe sich eine dünne Schicht von Denkern, Analytikern und Aktivisten gebildet durch reine Nachlässigkeit der Behörden und einen peinlichen Zufall, trotz aller widrigen Umstände. Nicht alle fingen an, zu trinken, zu schlagen, zu metzeln, einige begannen, zuvor verbotene Literatur zu lesen, die Vergangenheit zu überdenken und sogar über die Zukunft nachzudenken. Kein Wunder, dass die russische Regierung den Neunzigerjahren, als das Land dem Westen wehrlos in die Hände fiel, die Schuld an der überzogenen Freiheit gibt. Aber alle Fehler wurden abgerechnet, die Freiheit wurde endgültig unterdrückt, die denkenden Menschen aus dem Land vertrieben, in Gefängnissen isoliert, eingeschüchtert. Manche versuchen noch, den Mund aufzumachen, aber das wird die Menge ihnen nicht verzeihen. (Irina Rastorgujewa, FAZ)

Das komplette FAZ-Essay ist sehr eindringlich und unbedingt in seiner Gänze lesenswert. Ich bin kein Experte für russische Geschichte, schon gar nicht für die seit 1991, weswegen ich immer wieder aufs Neue davon überrascht bin, wie schrecklich die Zustände in dem Land waren und sind und in was für ein Loch es seither gefallen ist. Das muss unbedingt traumatisch wirken, und zwar auf eine ganze Gesellschaft. Das scheint mir deutlich unterdiskutiert, während stattdessen immer wieder Blödsinn von Ostpolitik (hier im Podcast diskutiert) bis russische Seele es in die Talkshows schafft. Falls jemand ein gutes Buch zu der Zeit hat, wäre ich über Tipps in den Kommentaren auch dankbar.

5) Zeitenwende auf Grün

Aber bei einem Thema blieben die Grünen, die mal der parlamentarische Arm der Friedensbewegung waren, ihren alten Glaubenssätzen treu: Das Zweiprozentziel der NATO wollen sie nicht im Grundgesetz verankern. Sie hatten es schon im Wahlprogramm abgelehnt, das freilich noch in einem ganz anderen außenpolitischen Umfeld entstand. [...] Das viel zu lange ignorierte Zweiprozentziel ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Deutschland seine Bevölkerung, seine Verbündeten und seine Interessen künftig besser schützen kann. Der Maßstab sollte nicht wieder deutsches Wunschdenken sein, sondern die internationale Realität. (Nikolaus Busse, FAZ)

Himmel Arsch und Zwirn, lasst endlich eure Finger vom Grundgesetz! Diese Manie, ständig alle politischen Entscheidungen zu juristischen Fundamenten zu machen, ist echt nicht auszuhalten. Ich bin ja für das 2%-Ziel, aber so eine Marke gehört nicht in die Verfassung. Warum sollte man die Deutschen des Jahres 2067 an das 2%-Ziel binden wollen?! So ein himmelschreiender Unfug. Das ist eine politische Entscheidung, und sie berührt das Königsrecht des Parlaments, nämlich über den Haushalt zu entscheiden. Dieser antidemokratische Impuls sollte echt mal unter Kontrolle gebracht werden. Auf Wiedervorlage, sobald wir das nächste Mal über diese beknackte "Schuldenbremse" diskutieren. - Im Übrigen würde analog auch eine Verankerung irgendwelcher Klimaausgabenziele nicht ins Grundgesetz gehören. So granulare politische Entscheidungen sind genau das, politische Entscheidungen. Sie müssen der Revision unterworfen bleiben. Die Grünen fordern ja auch nicht, dass die Forderung, 2% der Fläche für Windenergie zu nutzen, ins Grundgesetz gehört. Was ein Unfug wäre das auch!

6) Doctor Strange. Das Multiversum erzählen

Die Erzählung des Multiversums ist derart als Prozess einer retrospektiven Serialisierung aufzufassen, die Kathleen Loock und Frank Kelleter auch als „rekursive Progression“ beschrieben haben: Was quantenphysikalisch wie animationstechnisch als Verästelungen des Multiversums in je spezifischen Gegenwarten dargestellt wird, sind im Wesentlichen Weitererzählungen von bereits abgeschlossenem und separiertem Material – etwa wenn im neusten Spider-Man-Film simultan eine Fortsetzung aller drei Spider-Man-Filmreihen hergestellt wird. Es handelt sich um einen diskursiven Wiedereingriff, der nicht nur mögliche diegetische Zukünfte mit bereits etablierten Vergangenheiten zu koordinieren hat, sondern die bereits etablierten Vergangenheiten mit dem nun eigens installierten Regelsystem – nämlich, dass alle möglichen diegetischen Zukünfte denkbar sind – selbst aktualisiert. [...] Die Bedrohung einer ursprünglichen Erzählrealität ist deshalb als Motor einer Serialitätspolitik zu denken, welche zweierlei Selbststabilisierungen vornimmt: Einerseits wird ein eigenes ästhetisches Regelwerk etabliert und andererseits simultan die eigene Geschichtlichkeit retrospektiv neu veredelt. Damit gestaltet sich das Marvel Cinematic Universe nur in der Theorie zum Marvel Cinematic Multiverse um, dient das suggerierte multilineare Wachstum doch der Herstellung einer invertierten Linearisierung, die in erster Linie auf Selbsterhalt abzielt. Das Marvel Cinematic Multiverse bildet damit den Höhepunkt eines seriellen Selbstbewusstseins, welches Plot, Franchise und Ästhetik nurmehr autoreferenziell verknüpft. Das erzählte Multiversum konstituiert folglich ein Serialisierungsinstrument sondergleichen, welches im Borges’schen Irrgarten paralleler Welten und Zukünfte eine Parabel auf den Kapitalismus zu verbergen sucht. (Vera Thomann, Geschichte der Gegenwart)

Ich halte diesen vieldiskutierten Beitrag zum Marvel-Multiversum für viel zu weitreichend; die Erzählstrukturen bleiben schließlich ziemlich generisch, und die Idee, dass man sich an ein Universum halten müsse, ist recht neu. Genauer gesagt: Bis zur Begründung des MCU 2008 war die Vorstellung, dass man über verschiedene mediale Plattformen und eine mittlerweile anderthalb Jahrzehnte reichende Filmreihe eine kontinuierliche, in sich schlüssige Geschichte erzählen könnte, Fantasie von Comicfans. Außerhalb Marvels glaubte niemand an die Umsetzbarkeit, und die Schwierigkeit des Unterfangens zeigt sich, trotz allen wirtschaftlichen Erfolgs des MCU, gerade im Scheitern aller anderen Mitbewerber, etwas Ähnliches auf die Beine zu stellen, vom DCU zum Monsterverse. Andererseits sind die Marvel-Filme in sich selbst unglaublich generisch; sie folgen eigentlich alle einer hundsgewöhnlichen Drei-Akt-Struktur. Was die Marvel-Filme hervorhob, war ihre handwerklich einfach saubere und hervorragende Machart. Wenn das in zunehmendem Maße wegfällt, das Gewicht der eigenen Mythologie erdrückend wird und sich zudem der Zeitgeist wandelt (was alles am Horizont wetterleuchtet), dann wird das MCU zusammenbrechen, und mit ihm auch das multidimensionale Erzählen.

7) Freiwillig Maske tragen? Die Ängstlichsten nehmen den Rest in Schutzhaft

Die gebremste Aufhebung verlagert die Maskenpflicht auf undurchsichtige Weise von der gesetzlichen in die persönliche Sphäre: Tragt gefälligst Verantwortung, wenn der Staat sich zurückzieht! [...] Die obrigkeitliche Abwägung der persönlichen Freiheitsrechte gegen eine kollektive Gesundheitsgefährdung ist aber gar nicht vorbei. Der Gesetzgeber vom zögerlichen Parlament über den nicht gerade freiheitsaffinen Gesundheitsminister bis herunter zum Ordnungsamt und zur örtlichen Polizei haben sich bloß offiziell und mit durchaus guten Gründen von der Gängelung zurückgezogen, so notwendig sie in der Frühphase der Pandemie auch erschien. Ein gesetzliches Ende des Maskenzwangs bedeutet dann aber auch Ende – Punkt. Die Freiwilligkeit des Tragens steht dem nicht entgegen; niemand müsste an sie erinnern. [...] Unter Berufung auf ungreifbar über uns schwebende Verhängnisse wie die Klimaerwärmung oder die Corona-Drohung lassen sich zahllose Alltagshandlungen ins moralische Zwielicht setzen, die der Staat sich nicht zu verbieten traut. Wer einmal erlebt hat, wie ein Bekannter, der selbst gerade dem Airbus entstiegen ist, jedwede Flugreise entrüstet als bösen CO2-Fußabdruck anderer schmäht, weiß genau, zu welcher Doppelmoral das führen kann. [...] Wie beim Maskenzwang geraten wir mehr oder weniger unmerklich in ein Moralregime hinein, das wie beim traditionellen Christentum mit Sünde und schlechtem Gewissen arbeitet, gerade wo es gar kein gesetzliches Verbot gibt. [...] In einer freiheitlichen Gesellschaft jedoch muss es eine Selbstverständlichkeit bleiben, dass man tun darf, was die Gesetze einem (noch) nicht verbieten: Fleisch essen, in Urlaub fliegen und ohne Maske im Konzert sitzen. (Dirk Schümer)

Dieser Artikel ist so unglaublich bezeichnend für den Kubicki-Liberalismus. Es ist eine Selbstentlarvung. Es ging nie um Freiheit, sondern immer um die Durchsetzung der eigenen Präferenzen. Es reicht nicht, dass keine Maskenpflicht mehr besteht; andere müssen auch keine Maske tragen dürfen, weil sie die eigene Empfindsamkeit beschädigen könnten. Was Schümer hier im Endeffekt fordert, sind Triggerwarnings, und weil die Warnung alleine nicht reicht, auch noch gleich das Verbot. Und das ist der Punkt, an dem diese selbsternannten liberalen Freiheitskämpfer immer landen werden: das Verbot abweichender Meinungen und die Durchsetzung ihrer eigenen Hegemonialitität. Gemäß dem Motto: Nein, nein, die Freiheit, in der alle machen, was ICH will! Dass sie es selbst sind, die alle mit ihren moralisierenden Forderungen unter ihr eigenes Moralregime stellen, kommt ihnen gar nicht in den Sinn, und es zeigt sich im letzten hier zitierten Satz wieder einmal, worum es geht: ich will, ich will, ich will. Und das steht absolut über allen anderen und wird dann "liberal" genannt. Das ist die gleiche intellektuelle Armseligkeit, in der 1989 der Sozialismus gefeiert wurde.

8) The only way for Democrats to ride the abortion tiger to victory in November

But what about expressed support for abortion rights in general? It's certainly true that when Americans are asked by pollsters whether they are pro-choice, around 60 percent say yes and have done so for quite a long time. But it's also the case that when they are asked whether abortion should be permitted in the first, second, and third trimesters, the results are far more conflicted. Support for abortion rights comes in at around 61 percent during the first three months of pregnancy, but it falls to around 35 percent during the second three months, and then falls again, all the way down to 20 percent support, during the final three months prior to birth. This shift has been picked up in Gallup polls from 1996 down to 2018, and it's also present in a more recent survey from a year ago. It's also the case that most Americans support exceptions (for rape, incest, and the life of the mother) all the way through pregnancy. But the American default comes nowhere near support for a blanket right to terminate a pregnancy on demand. [...] The same might be said of the decision by Rep Tim Ryan, the Democrat who will be facing Republican J.D. Vance in the Ohio Senate race this November, to come out this week on Fox News favoring no restrictions on abortion through 40 weeks of pregnancy. Vance lost little time in labeling that "a barbaric position anywhere in the world," including in European nations, which "typically don't allow abortion after 12 weeks." (Vance is right about abortion policy in Europe.) It's quite a feat to make Vance sound like a paragon of moderation and reasonableness, but Ryan has managed to accomplish it. (Beto O'Rourke, the Democrat challenging Republican Gov. Greg Abbott in Texas, appears eager to do something similar in his own race.) (Damon Linker, The Week)

Ich halte diese Einschätzung für korrekt. Alle Umfragen zu dem Thema zeigen zwar deutliche Mehrheiten für die grundsätzliche Legalität der Abtreibung, aber sie zeigen ebenso deutliche Mehrheiten für Einschränkungen. Wir können dasselbe überall in Europa auch beachten, wo die Abtreibungsgesetze ironischerweise überwiegend härter sind als in den USA. Tatsächlich ist es absurd, dass die Democrats es Leuten wie JD Vance ermöglichen, als die moderatere Wahl darzustehen - und man muss sagen, zurecht, denn diese Positionen sind einfach nicht mehrheitsfähig. Vertrau immer auf die Democrats, sich selbst in den Fuß zu schießen, ihre Fähigkeit dazu ist praktisch unendlich.

9) How Oslo Learned to Fight Climate Change

Through an annual process known as climate budgeting, every department in the city identifies specific policies and actions to reduce its emissions. All of these separate interventions, with their impacts regularly quantified and monitored, are aimed at reducing the city’s greenhouse-gas emissions ninety-five per cent from their 2009 levels by 2030. It’s one of the world’s most audacious climate targets; at the same time, in its speed and scale, it accurately reflects the level of emissions reduction we need if we’re to prevent the most dire consequences of climate change. Look at Oslo, and you can begin to see what life will look like in a city that’s serious about its obligations to the future. The shifts are subtle but pervasive, affecting everything from cemeteries, parking, and waste management to zoning, public transportation, and school lunch. Rather than waiting for a single miraculous solution, Oslo’s approach encourages a dispersed, positive shift. [...] Oslo’s Climate Agency has found that approximately seventy per cent of the city’s residents consider the climate goals important and embrace them; in the last local election, the Green Party has nearly doubled its representation on the city council. Despite considerable grumbling over parking policies, many people also seem to enjoy how the city now has fewer cars. “Just a few years ago, some streets were packed with cars,” Vice-Mayor Stav said. “Change is always a bit scary, you know, so it’s understandable, but then people see the result, and they’re O.K. It’s actually nice.” (Nick Romeo, New York Magazine)

Jede Stadt, die solche Maßnahmen umsetzt, wird zu einem wesentlich lebenswerteren Raum, in dem es sich gesünder und besser lebt als vorher. Ob Barcelona mit seinen vom Autoverkehr abgeschnitten Blocks, ob Amsterdam mit seiner Fahrradinfrastruktur, ob Oslo mit seinen Parks - nicht nur hilft es bei der Bekämpfung des Klimawandels, es macht auch noch alles besser! Es ist die verdammte Auto-Ideologie in Deutschland, die ähnliche Umbauten bisher verhindert. In Berlin wird mit aller Macht ein Autobahnausbau quer durch die Stadt (!) gepeitscht, und auch in Städten wie Stuttgart, ohnehin eine der hässlichsten Metropolen der Republik, wird hauptsächlich diskutiert, wie man die endlosen Blechlawinen besser durch die verstopften Straßen kriegt, anstatt endlich Alternativen aufzubauen. Dabei sind es gerade die Städte, wo wegen der großen Bevölkerungskonzentration besonders umfassende und weitreichende Lösungen gefunden werden können. Zum Haareraufen.

10) Deutschland errichtet deutlich weniger Windräder

Weil auch alte Anlagen stillgelegt wurden, lagg der Nettozuwachs bei der installierten Leistung bei 355 Megawatt, hieß es unter Berufung auf Zahlen der Fachagentur Windenergie. Spitzenreiter waren Nordrhein-Westfalen mit 26 neuen Windrädern und Schleswig-Holstein mit 25. Im flächenmäßig größten Land Bayern, das die bundesweit strengsten Regeln zum Abstand von Windrädern zur Wohnbebauung hat, ging überhaupt kein neues Windrad ans Netz. [...] Bestehende, pauschale Abstandsregelungen müssten abgeräumt werden, sagte der Präsident des Bundesverbands Windenergie, Hermann Albers. Der Schutz der Bürgerinnen und Bürger im direkten Umfeld von Windenergieanlagen sei bereits durch umfangreiche Regelungen im Bundesimmissionsschutzgesetz gegeben. Unter anderem in Bayern kommt der Ausbau der Windenergie deshalb bislang nur sehr schleppend voran – beziehungsweise in den ersten drei Monaten dieses Jahres gar nicht. In dem Bundesland gilt die umstrittene 10H-Abstandsregel für Windräder. Sie sieht bisher den zehnfachen Abstand der Windradhöhe zur nächsten Bebauung vor. [...] Die Bundesregierung will den Ausbau der erneuerbaren Energien mit einem umfassenden Maßnahmenpaket beschleunigen. So will Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck (Grüne) erreichen, dass künftig zwei Prozent der Landesfläche in Deutschland für Windenergie ausgewiesen werden. Das wird bisher in den allermeisten Ländern bei Weitem nicht erreicht. (dpa, SpiegelOnline)

Wo wir gerade schon beim Kampf gegen den Klimawandel sind, so ist dieses spezielle Armutszeugnis auch etwas, das man der völlig verfehlten Politik der letzten 20 Jahre (und damit auch hauptverantwortlich Angela Merkel) vor die Füße legen kann. Wie kann es sein, dass dieser überbordende NIMBYismus verhindert, dass weitere Windräder aufgestellt werden, ja, dass die Kapazität teilweise sogar rückläufig ist? Besonders krass ist und bleibt natürlich Bayern, wo die CSU aktive Sabotage betrieben hat und sich stattdessen Putin an den Hals warf - mit den bekannten desaströsen Folgen. Dieses grandiose Plakat der Grünen zeigt ziemlich deutlich die Zusammenhänge. Es gibt schlicht keinen Grund, nicht massiv die Erneuerbaren auszubauen. Das wurde 20 Jahre lang bewusst verhindert - "verschlafen" ist hier ein völlig unzulässiger Euphemismus. Zeit, endlich gegenzusteuern.

Resterampe

a) Trump gab den Befehl, unbewaffnete Demonstrierende zu erschießen, und das interessiert keine Sau. Aber klar, Hillarys eMails waren total wichtig.

b) Ja, Hans-Werner Sinn lag auch krass daneben, aber natürlich gibt es da keinerlei Selbstreflexion.

c) Oh cool, Trump wollte auch Mexiko bombardieren ("quietely", also geheim und illegal), aber sein Verteidigungsminister hielt ihn ab. Aber nie vergessen, Hillary hatte Mails.

d) Ulrike Guérot ist echt so abgespacet. Krass, wie sich diese Leute selbst radikalisieren und abschießen. Und auch hier natürlich: erst gegen Masken, dann gegen Impfen, dann gegen die Ukraine.

e) Der Gouverneur von Texas will öffentliche Schulen, der GOP-Chair von Idaho Verhütungsmittel verbieten, weil die Republicans sind überhaupt keine radikale Partei.

f) Völlig unerklärlich, warum die Digitalisierung an Schulen nicht so recht vorwärts kommt.

g) Kulturpessimismus liegt falsch, immer.

h) Gregor Gysis moralische Bankrotterklärung.

i) Die Jungle World war jetzt auch nicht der Ort wo ich eine klare Kritik der Zögerlichkeit der Bundesregierung erwartet hätte.

j) Diesem zwei Jahre alten Artikel "Warum ich kein Antifa bin" kann ich nur (aus aktuellem Anlass) von Herzen zustimmen.

k) Dieser Artikel setzt das Lend-Lease-Abkommen in historischen Kontext und fragt, wie viel Analogie für den Ukrainekrieg erhellend ist (spoiler: wenig).

l) Eine neue Studie aus Cambridge belegt einmal mehr, dass es im Umgang mit radikalen Parteien nicht hilft und eher schadet, deren Themen zu besetzen zu versuchen. Wird natürlich niemand in der CDU abhalten, aber hey.

m) Eine Betrachtung der Gründe für die Inflation in den USA.

n) Warum es die Depublikationspflicht immer noch gibt, erschließt sich mir auch nicht. Es ist eine wahnsinnige Sauerei.

o) Meine ausführliche und über alle Zweifel erhabene Analyse zur Landtagswahl in Schleswig-Holstein.

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