Dienstag, 17. Mai 2022

Rezension: Michael Seemann - Die Macht der Plattformen. Politik im Zeitalter der Internetgiganten

 

Michael Seemann - Die Macht der Plattformen. Politik im Zeitalter der Internetgiganten

Wer erinnert sich noch an Napster? Ich bin ehrlich gesagt zu jung dafür. Ich hatte damals noch keinen eigenen Internetanschluss; meine ersten illegalen MP3-Downloads liefen bereits über eMule (Gratulation, wem das noch was sagt). Aber für einen kurzen Zeitraum von knapp zwei Jahren sah es so aus, als würde die MP3-Tauschbörse Napster die Musikindustrie revolutionieren oder gar völlig zerstören. Es war eine Plattform, die wie aus dem Nichts eine Milliardenindustrie anging und eine ungemeine Marktmacht erlangte. Dann schlug die Musikindustrie zurück, klagte Napster in Grund und Boden und beseitigte sie. Für Michael Seemann ist die Geschichte von Napster gewissermaßen prototypisch für die Entwicklung von Plattformen. Da diese heute unser Leben zu guten Teilen mitbestimmten, macht es absolut Sinn, sich mit diesen zu beschäftigen. Und Seemanns Buch ist dafür ein sehr guter Startpunkt. Anhand Napster als narrativem roten Faden erklärt Seemann, was Plattformen überhaupt sind und wie sie funktionieren. Der Aufbau des Buches arbeitet sich dabei von außen nach innen, ist schön didaktisch und verständlich aufgebaut, aber generell anspruchsvoll: Seemann entwirft eine Theorie von dem, was Plattformen sind, und wie sie funktionieren, die für seine gesamte Argumentation zentral ist. Eingekocht könnte man seine Definition folgendermaßen auf ein Zitat herunterbrechen: "Plattformen vereinfachen unerwartete Interaktionsselektion, indem sie mittels Standardisierung auf der einen und algorithmischer Vorauswahl auf der anderen Seite die eigentlichen Selektionen vorbereiten."

Plattformen werden von Seemann als Schnittstelle verstanden. Diese Schnittstelle ist notwendigerweise sehr technischer Natur, weswegen er einige Grundlagen schaffen muss. In diesem Teil des Buches erklärt er komprimiert die zentralen Abläufe von IP-Potokollen, ASCII-Code und Ähnlichem. Das ist ziemlich fordernd, vor allem, wenn man wie ich von diesem ganzen Kram so gut wie nichts versteht (mich überfordert ja meistens schon die Wordpressinstallation hier). Der Vorteil ist, dass die Theorie so eine Grundlage schafft, auf der Seemann die Plattformen überhaupt diskutieren kann. Das mag merkwürdig klingen, aber wer ihm folgt stellt schnell fest, dass die bisherige Debatte an genau diesem Mangel an Theorie krankt, weil überhaupt nicht verstanden wird, mit was man es eigentlich zu tun hat.

Letztlich betrachtet Seemann die Plattformen aus einem Luhmann'schen Blickwinkel als eigenständige Systeme mit eigenen Regeln. Neben dem soziologischen Großmeister der Systemtheorie bedient er sich, vielleicht etwas überraschend, auch bei Carl Schmitt. Der Wegbereiter der NS-Juristerei eignet sich aber immer wieder, wenn man bösartige Systeme erklären will. Seemann umgeht das schier totgerittene Schmitt-Zitat von der Souveränität des Ausnahmezustands und springt stattdessen zu seiner Theorie der Landnahme: ein Nationalstaat wird effektiv zu einem solchen, weil er Territorium in Besitz nimmt und absolute Kontrolle darüber ausübt.

Das tun Plattformen natürlich nicht. Sie existieren im digitalen Raum, der quasi per Definition endlos ist. Hier gibt es kein (ebenso per Definition) endliches Land zu besetzen. Stattdessen geht es um etwas, das Seemann "Graphen" nennt und das grob als Beziehungsmuster bezeichnet werden könnte; er redet hier von "Graphnahme" (analog zu Carl Schmitts Landnahme): "Staaten beherrschen Territorien und organisieren Menschen darauf über den Zugriff auf ihre Körper. Plattformen hingegen beherrschen Graphen und organisieren Menschen über den Zugriff auf ihre Verbindungen."

Soweit, so einleuchtend. Aber warum nutzen Menschen überhaupt Plattformen? Dies liegt laut Seemann einerseits an der geschickten Verbindung von Zwang und Freiwilligkeit als Grundprinzip. Zwar ist die Nutzung einer Plattform in der Theorie komplett freiwillig; niemand kann mich zwingen, bei Amazon einzukaufen oder WhatsApp zu benutzen. Aber gleichzeitig ist der Verzicht auf die Plattformnutzung mit so hohen Opportunitätskosten verbunden, dass sich für mich die Nicht-Nutzung häufig nicht als gangbare Alternative darstellt. Wenn alle meine Bekannten über WhatsApp kommunizieren, ich aber nicht, ist der Verzicht darauf häufig keine ernsthafte Option.

Gleichzeitig bedeutet dies, dass Plattformen vor allem durch Größe funktionieren. Ein Messengerdienst oder ein Soziales Netzwerk, auf dem nur 0,5% der Bevölkerung vertreten sind, ist nutzlos. Die Graphnahme einer neuen Plattform muss daher darauf angelegt sein, schnell Größe zu erreichen. Erfolgreiche Plattformen suchen sich daher einen Graphen, der bisher unerschlossen ist oder der bisher unzureichend konsolidiert ist (so dass ein Integrationsangriff gestartet werden kann). Amazons ursprüngliche Konzentration auf den Online-Buchhandel und die von dort ausgehende Erweiterung ist ein Beispiel; Napsters Graphnahme der Musikcommunity eine andere (bereits vergleichsweise wenige Nutzende garantieren einen annähernd vollständigen MP3-Katalog); Facebooks ursprüngliche Konzentration auf Studierende (das Netzwerk war bis 2010 technisch gesehen nur für Studierende offen!) eine dritte.

Andererseits liegt der Vorteil von Plattformen für die Nutzenden, der sie überhaupt erst in die Arme der Plattformen treibt, dass diese effizientes Handeln durch eine (algorithmische) Vorauswahl ermöglichen. Google funktioniert, weil es Suchergebnisse vorsortiert. Eine Suchmaschine, die das nicht tut, ist nutzlos. Facebook funktioniert unter anderem deswegen so gut, weil es den Nutzenden Kontakte vorschlägt, die diese kennen könnten - auf eine geradezu angstseinflößend effektive Art und Weise. Diese Vorauswahl bedeutet aber gleichzeitig einen Machtgewinn für die Plattform: wenn Google seine Suchergebnisse filtert, kann es Dinge verschweigen oder zahlenden Kunden Priorität geben.

Diese Vorauswahl ist meist technisch gesehen optional. Aber die Plattformen sorgen durch Nudging und Opt-out-Regelungen dafür, dass sie die bequemste und auch letztlich beste Option für die Nutzenden ist, so dass diese erstens kaum auffallen und zweitens schon allein aus Phlegmatismus üblicherweise nicht angetastet werden. Auf diese Art und Weise haben große Plattformen sich riesige Nutzendenstämme herausgebildet, die ihnen gewaltige Macht gegeben haben. Diese Macht ist titelgebend für das Buch und wird von Seemann weiter untersucht.

Er postuliert, dass die Plattformen durch ihre schiere Macht und Größe selbst politische Akteure sind. Er unterscheidet drei Felder, auf denen sie aktiv sind, indem er Plattformpolitik als Netzinnenpolitik, Netzaußenpolitik und Netzsicherheitspolitik definiert.

Netzinnenpolitik ist für ihn die interne Regulierung der Plattformen. Die Nutzungsbedingungen von Facebook etwa fallen darunter, Moderationsregeln von Twitter, Rückgabebedingungen von Amazon; die Netzinnenpolitik ist sozusagen das, womit die Nutzenden in ihrer täglichen Nutzungspraxis in Berührung kommen. Die Plattformen würden am liebsten nur Netzinnenpolitik betreiben; sie ist ihr eigentliches Kerngeschäft, und hier fangen sie auch alle an. Essenziell ist aber die Kontrolle, die sie ausüben. Das ist im Übrigen auch, was Napster vor Gericht das Genick brach: die Plattformen wissen grundsätzlich, was ihre Nutzenden treiben und haben Einsicht und, vor allem, Kontrolle darüber. Napster wurde nachgewiesen, dass sie wussten, was die Nutzenden austauschten, und dass sie es hätten unterbinden können (logisch, denn Napster wollte das ja monetarisieren). Dieses Wissen und die daraus resultierende Verantwortung (an der Stelle bitte passendes Spiderman-Zitat einfügen) sind für die Netzinnenpolitik zentral.

Von Anfang an war auch die Netzsicherheitspolitik dabei. Sie erklärt sich eigentlich von selbst: die Plattformen müssen sich gegen Attacken schützen - und ihre Nutzenden auch. Sonst könnten sie nicht existieren. Das ist ein digitaler Rüstungswettlauf. Die Netzaußenpolitik ist demgegenüber wesentlich jünger. Auf sie haben die Plattformen überhaupt keine Lust, aber sie ist zunehmend notwendig geworden. Plattformen stehen in einem Spannungsverhältnis zu Regierungen und müssen entsprechend mit diesen interagieren (und gegebenenfalls auch mit anderen Plattformen, aber Regierungen stehen hier im Zentrum). Regierungen versuchen, die Plattformen zu regulieren, und die Plattformen versuchen, diese Regulierung in ihrem Sinne zu gestalten.

Ich schreibe hier bewusst nicht "Regulierung verhindern", denn Regulierung ist im Interesse der Plattformen. Seemann beschäftigt sich mit diesem "Regulierungsparadox" ziemlich ausführlich. Je regulierter die Plattformen sind, desto schwieriger ist es für potenzielle Konkurrenten, in den Markt einzudringen. Die Datenschutzverordnung der EU etwa ist zwar ein katastrophales Bürokratiemonster, das uns unter anderem die nervigen Cookie-Pop-Ups beschert hat, aber die vielen kleinteiligen Regelungen erfordern für die Plattformen eine kleine Armee von Anwält*innen und anderen Expert*innen, die die Markteintrittshürde deutlich anheben. Regulierung, die die Macht der Plattformen beschränken sollte, hat so den paradoxen Effekt, diese Macht zu steigern. Das Leistungsschutzrecht etwa stärkte Google und schwächte es nicht.

Für Plattformen ergeben sich dadurch Anreize, aus denen Seemann eine Art Lebenszyklus ableitet. Einer initialen Graphnahme folgt eine (oftmals lange) Wachstumsphase, in der die Plattformen um jeden Preis wachsen möchten. Diese Phase ist die, in der die User-Erfahrung die beste ist. Wenn das Wachstum ein Plateau erreicht, nehmen die Ausbeutungseffekte überhand: die Plattformbetreibenden versuchen, so viel Macht wie möglich anzusammeln und so viel Geld wie möglich aus dem System zu ziehen. Das System wird geschlossener, die Usererfahrung schlechter. Dieser Phase schließt sich der Niedergang an, in dem die ursprünglichen Betreibenden oft bereits abgesprungen sind. Die Plattform wird nun nur noch gemolken, aber nicht mehr weiterentwickelt. Ironischerweise verbessert sich die Usererfahrung dadurch häufig wieder, einfach weil niemand mehr sie aktiv verschlechtert. Im Endstadium existieren Plattformen vor sich hin, ohne gewartet zu werden. Ich durfte zu meiner Überraschung erfahren, dass MySpace immer noch existiert.

Dieser Zyklus ist, verbunden mit den Auswirkungen der Netzpolitik, ein sehr negativer. Die Interessen von Plattformbetreibenden sind durch diese Dynamiken derart gelagert, dass die eigene Plattform geradezu zwangsläufig eine Art Selbstzerstörungsmechanismus eingebaut hat und die Machtentwicklung für allerlei andere negative Effekte sorgt. Dies führt Seemann darauf zurück, dass die Plattformdynamik und das Internet mit seinen Möglichkeiten durch die Pfadabhängigkeit der umgebenden Systeme (Luhmann lässt grüßen) in ein System gezwungen werden, das ihrer Arbeitsweise nicht vollständig entspricht: der Gewinnlogik des Kapitalismus.

Als alternatives Positivbeispiel führt Seemann die Wikipedia auf. Auch sie zeichnet sich durch exponentielles Wachstum und eine erfolgreiche Graphnahme aus und wirkte ungeheuer disruptiv auf einen vorher bestehenden Markt (Enzyklopädien), aber sie wurde nie monetarisiert und die Macht ist auch heute noch, allen Problemen mit dem Moderator*innensystem zum Trotz, recht dezentral unter den Nutzenden selbst verteilt. Seemanns These ist, dass Plattformen nicht zwingend immer innerhalb dieser Logik operieren müssten.

Trotz allem bleibt er sehr pessimistisch. Im Abschluss des Buches stellt er einige Thesen für die Zukunft der Plattformen auf, die besonders im Hinblick auf die Demokratie sehr besorgt stimmen dürften: er postuliert eine generelle Unvereinbarkeit der Plattformen mit demokratischen Nationalstaaten und prophezeit, dass letztere durch die Macht der Plattformen letztlich ausgehöhlt und zerstört würden. Erst, wenn die beschriebenen Dynamiken durchbrochen werden können, sieht er eine Chance, dieser Destruktivität der Plattformen Einhalt zu gebieten.

Ingesamt kann ich das Buch sehr empfehlen. Die theoretischen Konstrukte, die darin aufgestellt werden, sind für das Verständnis von Plattformen elementar, ganz egal, ob man seine Schlussfolgerungen teilt oder nicht. Der analytische Rahmen, den Seemann aufspannt, ist über alle Zweifel erhaben.

 

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