Dienstag, 7. Juni 2022

Beobachtungen aus der Zweitkorrektur

 

Eine der schönsten alljährlich wiederkehrenden Pflichten von Lehrkräften ist die Korrektur der Abiturprüfungen. Die Ironie, die aus diesen Zeilen trieft, wird hoffentlich deutlich; nach der Aufsicht dieser Prüfungen ist ihre Korrektur vermutlich die unangenehmste Pflicht für Lehrkräfte überhaupt, zumindest für mich. Ich habe dabei dieses Jahr (und auch in den vergangenen) einige Beobachtungen gemacht, die die ich hier teilen möchte und die mich ärgern. Ich stehe quasi in der Tradition von Bob Blume (Spiegel-Bestsellerliste, ich komme...!), auch wenn ich die zehn Dinge vermutlich nicht voll bekomme.

Einführung für Anfänger*innen

Für diejenigen, die das Prozedere des Abiturs hier in Baden-Württemberg nicht kennen (ich nehme an: fast alle), hier kurz die Basics. Die Schüler*innen (und/oder in manchen Fächern die Lehrkräfte) bekommen eine Auswahl an Aufgaben, aus der sie eine bestimmte Menge auswählen dürfen beziehungsweise müssen. Die Lehrkräfte wissen vorher üblicherweise nicht, was genau aus den Pflichtthemen drankommen wird; in jedem Fall wird nicht alles, was Thema ist, auch aktiv abgefragt. Das ist für die Schüler*innen eher nachteilig, weil die Abituraufgaben ins Detail zu gehen pflegen, weswegen viel gelernter Stoff "umsonst" gelernt wurde. Für das Lernziel ist das natürlich durchaus so beabsichtigt; schließlich sollen mehr Fähigkeiten als bloßes auswendig Lernen abgeprüft werden.

In Deutsch sind das am allgemeinbildenden Gymnasium drei Aufgaben, die durch das Kultusministerium aus sechs potenziellen Aufgabenformaten ausgewählt werden. Es werde vier Pflichtlektüren gelesen, von denen zwei im einen und zwei im anderen Aufgabenformat abgeprüft werden (was bedeutet, dass man alle vier kennen muss). Die zweite Aufgabe ist entweder eine Gedichtinterpretation oder ein Gedichtvergleich (meist, aber nicht immer, ein Vergleich) oder eine Kurzgeschichteninterpretation. Und die letzte Aufgabe ist eine Texterörterung mit Schwerpunkt entweder auf der Erörtertung oder der Analyse oder ein Kommentar. In Deutsch am beruflichen Gymnasium sind das vier Aufgaben; die ersten beiden weitgehend identisch mit dem allgemeinbildenden Gymnasium, die dritte Texterörterung in den beiden genannten Varianten und die vierte der Essay.

In Geschichte stehen am allgemeinbildenden Gymnasium entweder die Entwicklung der Moderne (weitgehend 19. Jahrhundert) oder das geteilte Deutschland un der Kalte Krieg im Abitur auf dem Tablett. Am beruflichen Gymnasium, wo das Fach mit Gemeinschaftskunde kombiniert ist, sind es Weimar/Nationalsozialismus, Kalter Krieg/geteiltes Deutschland, politische Partizipation und Sicherheitspolitik/Außenpolitik. Ab dem Abitur 2024 sollen diese Themen in der Prüfung miteinander verknüpft sein, was ganz neue Herausforderungen für die Schüler*innen bereitstellen wird.

Warum ich das alles erkläre wird gleich deutlich werden, aber vorher brauchen wir noch Kontext zum Korrekturverfahren. Die Abiturarbeiten werden von den jeweiligen Fachlehrkräften erstkorrigiert, dann anonymisiert und an eine (ebenfalls anonyme) Zweitkorrekturschule weitergeleitet, wo sie dann zweitkorrigiert werden. Weichen die Noten von Erst- und Zweitkorrektur zu weit voneinander ab, gibt es zudem eine ebenfalls anonyme Drittkorrektur. Es ist ein sehr aufwändiger und sehr sorgfältig durchgeführter Prozess, was nicht unerheblich zur Belastung der Schulverwaltung, Schulleitung und beteiligten Lehrkräfte beiträgt.

Nachdem wir die Basics aus dem Weg geräumt haben, können wir nun zu meinen Ärgernissen kommen.

Themenwahl

Die Möglicheit, aus verschiedenen Themen wählen zu können, gehört zentral zur Natur des Abiturs. Dadurch wird garantiert, dass ein möglichst breiter Teil des Bildungsplans prüfungsrelevant ist, dass unterschiedliche Interessen und Fähigkeiten gleichermaßen zum Zuge kommen und dass das Abitur eine ALLGEMEINE Hochschulreife ist. In der Theorie. Die Umsetzung führt zu Problemen. Die Bildungspläne sind notorisch zu voll, so dass alleine das Unterrichten des prüfungsrelevanten Stoffes "Mut zur Lücke" erfordert, was angesichts dessen, dass die Lehrkraft keinerlei Einfluss auf die Aufgabenstellungen hat, immer eine Wette auf Kosten der Schüler*innen ist.

Allzu häufig wählen Lehrkräfte daher einen Weg, den ich stark ablehne: sie unterrichten manche Themen nicht oder nur sehr oberflächlich und legen den Schüler*innen dringend nahe, bestimmte Themen in der Prüfung nicht zu nehmen. Es gibt wenig Dinge, die mich so wütend auf Kolleg*innen machen wie das. Ich finde es ein absolutes Unding. Woher weiß ich, dass die Leute das machen? Einerseits, weil genügend Kolleg*innen es offen zugeben. Aber bei der anonymisierten Zweitkorrektur gibt es ebenfalls klare Anzeichen.

Einige Beispiele von diesem Jahr. In Geschichte hatte ich eine Zweitkorrektur mit insgesamt elf Aufgabensätzen. Alle elf wählten die erste Teilaufgabe. Nun kann es natürlich sein, dass alle elf Schüler*innen zufällig ein Faible für den Nationalsozialismus und die Weimarer Republik hatten. Wahrscheinlich ist das aber nicht. Dasselbe Spiel in Deutsch, wo von 14 Arbeiten immerhin zwei nicht dieselbe Aufgabe wählten. Bei fünf verfügbaren Aufgaben ist das kein Zufall.

In Deutsch betrifft das in der Mehrzahl der Fälle die Literaturaufgabe. Sie ist die "lernbarste" und damit berechenbarste der Aufgaben (in den letzten Jahren wurde deswegen in gleich zwei Reformschritten der Versuch unternommen, diese Aufgabe schwerer zu machen, was auch gelungen ist). Da die Lektüren gleichzeitig die größte Unterrichtszeit verbrauchen, ist das nur nachvollziehbar. Ich habe schon diverse Male von Kolleg*innen gehört (Vorsicht, anekdotische Evidenz) dass sie die Schüler*innen NUR die Lektüren vorbereiten.

Das Problem ist dabei einfach, dass den Schüler*innen damit aktiv Chancen genommen werden. Zwar sind die Lektüren durchaus die breitenwirksamste Aufgabe; irgendwie kriegen alle da was hin. Es macht also, wenn man Dinge ausschließt, Sinn, nicht die Lektüren auszuschließen, sondern Kurzgeschichte oder Erörterung (die unberechenbarsten Formate). Aber es nimmt den Schüler*innen die Möglichkeit, ein Abitur mit ihren eigenen Schwerpunktfähigkeiten zu schreiben, einmal davon abgesehen, dass das Thema dann meist auch nicht richtig unterrichtet wird und die Kompetenzen deswegen komplett fehlen.

Mich macht das bei der Korrektur immer total wütend. Ich halte es für unprofessionell und unfair gegenüber den Schüler*innen.

Methodische Schwächen

Eine weitere Sache, die mich wahnsinnig ärgert, ist, wenn offenkundig eine Klasse methodisch nicht richtig unterrichtet wurde. Das mache ich daran fest, dass ein ganzer Satz Aufgaben denselben Fehler hat. Ein Beispiel: ich hatte in der Zweitkorrektur einen Satz Kommentare. Alle diese Kommentare waren gleich aufgebaut - gleich falsch. Die Qualität innerhalb dieses falschen Aufbaus schwankte stark, aber diesen falschen Aufbau hatten sie alle. Die einzige Erklärung dafür ist, dass es dem Kurs so beigebracht wurde.

Das stellt mich als zweitkorrigierende Lehrkraft vor in Dilemma. Entweder ich sehe über diesen Fehler hinweg, was ich eigentlich nicht darf und was gegenüber all denjenigen, die es richtig gemacht haben, unfair ist. Oder ich strafe einen kompletten Kurs ab und benote ihr Abitur schlecht, weil ihre Lehrkraft sie nicht richtig unterrichtet hat. Für mich ist das eine wahnsinnig unangenehme Situation.

Und das passiert leider immer wieder, gerne auch in Verbindung mit dem gerade erläuterten Themenwahl-Problem. Man kriegt dann einen Kurs, in dem fast alle dieselbe Aufgabe haben - sehr wahrscheinlich von der Lehrkraft entsprechend instruiert - und dann ist es auch noch falsch. Es läge nahe anzunehmen, dass das der Lehrkraft Probleme verursacht. Aber weit gefehlt.

Fehlende Feedback-Schleife

Der Abiturprozess ist anonymisiert. Das ist einerseits gut, weil es eine maximale Objektivität bei der Korrektur erlaubt. Ich korrigiere Nummern - einen Aufsatz von Schüler*in 004 aus Schule 793, um zwei erfundene Beispiele zu nennen - so dass persönliche Vorlieben nicht hineinspielen können. Treten sie bei der Erstkorrektur auf, werden Zweit- und Drittkorrektur sie fast sicher eliminieren. In diesem Sinne ist das System absolut vorbildlich und funktioniert auch sehr gut. Ich merke jedes Jahr aufs Neue, dass meine natürliche Neigung, "meinen" Schüler*innen entgegenzukommen und sie nachsichtig und zu ihrem Vorteil zu korrigieren bei Zweitkorrekturen völlig fehlt. Das sind Nummern, und so behandelt man sie auch. Ohne zwei bis drei Jahre vorhergehenden Unterricht und ihre Gesichter vor Augen fehlt jeder emotionale Bezug. Das ist beabsichtigt.

Ein Problem ist diese Anonymität, weil sie keinerlei Rückmeldungen erlaubt. Ich erfahre zwar als Lehrer, welche Noten Zweit- und gegebenenfalls Drittkorrektur ergeben haben (die Schüler*innen erfahren nicht einmal das, sie bekommen nur die Endnote, ohne irgendeine Begründung), aber als Zweitkorrektor erfahre ich gar nichts. Ich erfahre nicht, ob es eine Drittkorrektur gab, was am Ende herauskam, nichts. Ich korrigiere in ein Vakuum hinein.

Das ist blöd, denn wenn ich bei der Korrektur etwas falsch mache, werde ich das nie erfahren. Als Erstkorrektor sehe ich zwar vielleicht, dass die Noten der Zweitkorrektur abwichen und kann aus der Drittkorrektur Rückschlüsse ziehen, ob ich oder die Zweitkorrektur falsch lagen. Aber was der Grund war, was gegebenenfalls meine Schuld war, das weiß ich nicht. Ich kann also im nächsten Jahrgang nichts verbessern. Das ist extrem unbefriedigend und im Falle der oben genannten Probleme doppelt blöd, weil die Kolleg*innen nie eine Rückmeldung darüber bekommen werden, dass sie Fehler in der Unterrichtsplanung machen.

Aufgabenstellungen

Wegen der unter "Themenwahl" schon besprochenen Fülle des Bildungsplans und "Mut zur Lücke" gilt, dass diejenigen Teile des Bildungsplans, die nicht in der Prüfung vorkommen, häufig gar nicht unterrichtet werden (oder pro forma auf die Zeit nach den Klausuren geschoben werden, in denen Anwesenheit und Aufmerksamkeit eher mies sind). Das hat jetzt nicht direkt mit der Zweitkorrektur, sehr wohl aber mit dem Abiturprozess generell zu tun.

Offiziell verlangt der Bildungsplan, alle Teile gleichermaßen zu unterrichten, ob abiturrelevant oder nicht. Aber das ist völlig illusorisch, und jeder weiß es. Ich war letzthin in einer Fortbildung, wo deswegen richtig miese Stimmung war, weil die Fortbilder*innen natürlich auf der Gleichwertigkeit aller Inhalte bestehen mussten, während die Lehrkräfte entgeistert fragten, wie das gehen solle - und keine brauchbaren Antworten erhielten und auch nicht erhalten konnten.

Das ist vor allem deswegen ärgerlich, weil diese Inhalte natürlich nicht die übliche hochkulturelle Schiene betreffen (über die ich mich ja bereits hier ausgiebig beklagt habe), sondern "weiche" Themen. Wenn also die Politik mal wieder verkündet, dass man jetzt auch moderne Inhalte wie Filmanalyse oder gesellschaftlich relevante Dinge wie Demokratiebildung im Bildungsplan verankert hätte, ist das schon wahr. Nur, die werden üblicherweise nicht unterrichtet, weil sie zu dem Teil des Bildungsplans gehören, der zuverlässig bis zum Ende des Schuljahrs aufgeschoben wird, wo dann wegen Aufsichten, Exkursionen und Feiertagen eh ständig was ausfällt und dann kommt man nicht mehr dazu. Schade, aber nächstes Jahr bestimmt!

Welche Inhalte im Abitur abgeprüft werden, ist im Vornherein festgelegt. So weiß ich zum Beispiel, dass die Geschichte der EU im schriftlichen Abitur nicht abgeprüft wird. Wie ausführlich also mache ich sie im Unterricht? Dinge, die gar nicht im Bildungsplan sind, die ich aber gerne machen würde - die Balkankriege der 1990er etwa oder die Agenda2010 - würden immer auf Kosten der Abiturvorbereitung gehen. Das zwingt mich als Lehrkraft ständig dazu, eine Abwägung zwischen Prüfungsvorbereitung und damit den alles entscheidenden Noten einerseits und sinnvollen, interessanten Lerngegenständen andererseits zu treffen, für die es aber effektiv keine Note gibt. Das ist, gelinde gesagt, scheiße.

Es wäre leichter zu ertragen, wenn nicht innerhalb der Themen auch noch eine Monothematik vorherrschen würde. Es ist ja nicht so, als würde je die "Goldenen Zwanziger" oder die NS-Wirtschaftspolitik Gegenstand einer Prüfung wäre. Ich kann den Schüler*innen bereits im Vornherein die Themenbereiche nennen, die sehr wahrscheinlich drankommen werden, weil sie jedes verdammte Jahr drankommen. Nur als Beispiel für Weimar: Revolution, Krisenjahr 1923, Scheitern/Präsidialkabinette. Mit einer Außenseiterchance für die Außenpolitik Weimars. In den anderen Bereichen sieht es ähnlich aus, in Deutsch genauso.

Das hilft den Schüler*innen zwar, was ihre Noten angeht. Aber für ihr Wissen, für ihre Fähigkeiten und für ihre Interessen wie auch für die Möglichkeit, den Unterricht zu individualisieren und von Kenntnisschwerpunkten der Lehrkraft zu profitieren ist es furchtbar.

Fazit

Das alles sind Dinge, die mich am Abiturprozess massiv stören und die weitgehend bei meiner diesjährigen Zweitkorrektur aufgekommen sind. Das ist bei weitem keine abschließende Kritik an dem Prozess, und wir sind noch gar nicht bei den grundlegenden Problemen (wie sinnvoll ist unsere Prüfungskultur überhaupt?). Aber ich hoffe, dass es für Nicht-Lehrkräfte verständlich und interessant war und freue mich, wenn es Anstoß für eine Diskussion ist.

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