Freitag, 25. November 2022

Rezension: Peter Doyle - Percy. A Story of 1918

 

Peter Doyle - Percy. A Story of 1918

Die Erfahrung des Ersten Weltkriegs fasziniert Menschen bis heute, weil sie, in den Worten Dan Carlins, die Extreme der menschlichen Existenz so eindrücklich untermalt. Werke wie "Im Westen nichts Neues" oder "In Stahlgewittern", aber auch Dramen wie "Journey's End" oder (neuerdings) "1917" beschäftigen sich mit der Thematik. Das Jahr 1918 hat immer einen besonderen Stellenwert in diesen Erzählungen, weil Tode in diesem Jahr die besondere zusätzliche Dramatik haben, kurz vor Ende dieses sinnlosen Gemetzels stattgefunden zu haben. Der profilierte Weltkriegs-Historiker Peter Doyle, mit dem ich über "Im Westen nichts Neues" im Speziellen und Erster-Weltkriegs-Narrative im Allgemeinen auch einen Podcast aufgenommen habe, hat auf Basis von Briefen und anderen Dokumenten ein Einzelschicksal jener letzten Monate rekonstruiert, das von Tim Godden mit liebenswerten Illustrationen angereichert wurde.

Die Geschichte befasst sich mit dem titelgebenden Percy Edwards, einem walisischen Minenarbeiter, der im März 1918 (nach seinem 18. Geburtstag) seinen Einberufungsbefehl erhält und im Frühsommer zur Grundausbildung geschickt wird. Von dort geht es im Spätsommer nach Frankreich, wo er bereits nach kurzer Zeit im September schwer verwundet wird und einige Tage später an den Folgen seiner Verwundung stirbt. Sein Schicksal ist repräsentativ für so viele weitere in diesem Krieg, und Doyle gibt sich redlich Mühe, Percy sowohl als Individuum zur Geltung kommen zu lassen als auch eine gewisse Allgemeingültigkeit zu erzielen.

Doyle nutzt Percys Biografie auch, um gleichsam ein Sittengemälde der damaligen Zeit in Großbritannien entstehen zu lassen. Das Setting einer walisischen Kohlestadt ist distinktiv. Nicht nur die Verwendung zahlreicher walistischer Einsprengsel in die Dialoge (die trotzdem immer problemlos verständlich bleiben) und der absurde Nationalstolz, den die Jungen auf den roten Drachen auf ihrem Ärmel empfinden, sondern auch die subtilen Differenzen zu anderen Teilen Großbritanniens kommen in der Schilderung gut zur Geltung.

Das Highlight für mich allerdings ist die Darstellung der sozialen Schicht und der Alltagsumstände. Die Edwards sind eine Familie von Bergleuten, die in langer Tradition in den Minen arbeiten. Ein Teil der Familie - die älteren Brüder Percys - arbeiten inzwischen in den Tongruben, die auch keinen besseren Alltag bieten, aber immerhin an der Oberfläche liegen. Percy wächst in einer Realität des allgegenwärtigen Kohleschmutzes auf, der sich in alle Kleider legt, die Haut angreift, die Lungen zerstört und die Häuser und Luft verschmutzt.

Trotzdem empfinden die Bergleute einen großen Stolz auf ihre knochenbrechende, anstrengende Arbeit unter Tage (sie brechen die Kohle mit Spitzhacken von Hand!), und Percy wünscht sich nichts mehr, als ein Vorarbeiter wie sein Vater zu werden (der mit 53 Jahren praktisch nicht mehr arbeitsfähig und von Lungenkrankheit gezeichnet ist). Die hohe Sterblichkeit in und durch die Bergarbeit wird wie ein Ehrenabzeichen vor sich hergetragen, die mangelhafte Ernährung und schlechte Gesundheitsversorgung als Lebensrealität akzeptiert. Percy ist wie seine Freunde unternährt, chronisch krank und kleinwüchsig - ein allgegenwärtiges Schicksal der Arbeiterschicht Großbritanniens. In Europa lebte mit Ausnahme des Zarenreichs fast niemand so schlecht wie die Arbeiter auf den Inseln.

Der Krieg kommt, als Percy 14 ist. Zu Beginn ist es vor allem ein Abenteuer, das man live in den Zeitungen verfolgen kann. Doch mit jedem Monat kommen mehr und mehr Todesmeldungen in die Stadt, und bald weicht die Freiwilligkeit des Dienstes in der Armee der Wehrpflicht. 1916 werden seine beiden älteren Brüder eingezogen und kommen an die Somme, wo sie an der Schlacht teilnehmen. Beide überleben, einer von ihnen nur verkrüppelt, und stellen Vorbilder für den jungen Percy dar. Diese Abschnitte zeigen gut die Ambivalenz des patriotischen Stolzes einerseits und der Furcht vor dem, was kommen würde, andererseits.

Dieselbe Schicksalsergebenheit aber, die Percy und seine Freunde und Familie stets in die Minen trieb, greift auch den drohenden Einsatz im Krieg: Wenn er 18 ist, wird er Soldat, und er wird sich bewähren, wie seine Brüder. Seine Eltern fürchten den Tag der Einberufung, aber sie wissen, dass er kommen wird. Percy indessen bekommt vom Krieg ansonsten nicht viel mit. Seit der 13 ist, arbeitet er im Bergwerk, und seine Beziehung zu seiner Freundin Kitty nimmt den Großteil seiner restlichen Aufmerksamkeit in Anspruch (Doyle webt hier ein schönes Leitmotiv mit Percys Leuchtzifferuhr, die ihm half, in der Nacht zu Kitty zu radeln und die ihm auch in den Nächten an der Front Zuversicht und Trost spendet).

Kitty ihrerseits ist eine Haushaltshilfe, und wer je eine Folge "Downton Abbey" gesehen hat kann sich vorstellen, was ihr Alltag "downstairs" ist. Lange Arbeitszeiten, miserable Bezahlung und fast völlige Entrechtung stellen das Gegenstück zu der Ausbeutung der Bergleute unter Tage dar. Kitty wird keine Möglichkeit haben, Percy während seiner Ausbildung zu besuchen, obwohl diese kaum drei Stunden weg ist. Sie sieht ihn bei der Verabschiedung zur Ausbildung zum letzten Mal (es ist übrigens auch Kitty, die alle Briefe Percys aufbewahrte, aus denen Doyle das Narrativ spinnt.

In der Ausbildung wird aus Percy ein Soldat gemacht. Die stereotypen Elemente dieser Erzählungen kommen hier voll zum Tragen: Ein harter Unteroffizier, der sich jeglichen Gefühlen gegenüber den Kindern verschließt, die als Männer zu behandeln er die Aufgabe hat. Hartes Training. Drill. Essen von grausiger Qualität. Ständiges Putzen der Ausrüstung und Uniform. Aber auch, und hier bekommen wir wieder das spezifisch Britische an der Geschichte zu sehen, der Versuch, die körperlich unterentwickelten Jungen in ihrer dreimonatigen Ausbildung irgendwie halbwegs fit für den Einsatz an der Front zu bekommen.

Doyle geht auch auf die Details von Ausrüstung und Alltag ein, etwa wie unkomfortabel der Uniformstoff ist oder dass die Rekruten viele ihrer Ausrüstungsstücke wie die ledernen Patronentaschen überhaupt erst mühsam in Form klopfen müssen. Dazu leben die Soldaten auch im vierten Kriegsjahr überwiegend in Zelten, die im englischen Regen keine sonderlich angenehme Unterkunft bieten.

Nach den drei Monaten der Ausbildung geht es nach Frankreich, wo eine neue, praxisnähere Ausbildung von zwei Wochen beginnt, ehe es zur Front geht - in die Gegend, in der bereits Percys Brüder kämpften. Bei einem "trench raid", einem Überfall von deutschen Truppen auf den Graben der Waliser, wird er von Artilleriefeuer verwundet und ins Lazarett gebracht. Die Verwundungen sind zu schwer, und mit letzter Kraft schreibt er einen nichtssagenden, gezwungen optimistischen Brief an Kitty. Das Buch endet mit der trockenen Nachricht seines kommandierenden Offiziers an die Familie, der sie bedauernd vom Tod ihres Sohnes am 26. September 1918 unterrichtet - nur kurz vor dem Tod des fiktiven Paul Bäumers, und genauso sinnlos, wenngleich wesentlich jugendlich-naiver.

Doyles Erzählung entfaltet ihre größte Kraft, wo sie die sozialen Umstände und die Mentalität der Menschen um 1918 skizziert. Mein größter Kritikpunkt ist, dass Doyle die typisch britisch-patriotische Sicht nie abwerfen kann. Beherzte Soldaten, die das Herz am richtigen Fleck haben und mit stoischer Gelassenheit "for King and Country" in den Krieg ziehen; die ebenso stoische Erduldung des Krieges durch die Zivilbevölkerung - alles trägt eine gewisse Patina, in der man das alljährliche rituelle Tragen von Mohnblüten um den 11. November herum wetterleuchten sehen kann. Das aber nimmt nur wenig von der Kraft des Bandes, der sich flüssig und schnell liest und den ich einschlägig Interessierten gerne empfehle.

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