Peter H. Wilson - Iron and Blood. A Military History of the German Speaking Peoples Since 1500 (Hörbuch)
Das Ende der napoleonischen Kriege sah die europäischen Staaten erschöpft und ihre Finanzen zerrüttet. Obwohl die Kriege zahlreiche Defizite in den Militärstrukturen der deutschen Staaten aufgezeigt hatten - vom zahlenmäßig zu geringen Anteil der Artillerie über die zu kurze Reichweite der Glattrohre über die Fehleranfälligkeit der Musketen, von organisatorischen Defiziten gar nicht zu sprechen - gab es wenig Anreiz, diese anzugehen, weil sie einerseits teuer waren und andererseits Reformen erforderten, die von den konservativen Fürsten mit Verve abgelehnt wurden.
Die beginnende Friedensperiode nach 1815 sah eine deutliche Reduktion der Ausgaben für die Armeen in allen deutschen Staaten, allerdings ohne eine entsprechende Reduzierung der Abgabenlast, die durch zahlreiche Sondersteuern im Krieg stark angestiegen war. Die Notwendigkeit des Staates, effizienter zu werden, wurde nicht rückgängig gemacht. Der lange europäische Friede brachte es allerdings mit sich, dass die Armeen hinter der technischen Entwicklung herhinkten und die Reserven schwanden. Das weiter genutzte Milizsystem schien mehr und mehr aus der Zeit gefallen, während die Verknüpfung von Nationalstaat und allgemeiner Wehrpflicht die Fürsten vor Probleme stellte.
In den 1830er Jahren begann eine Zeit neuerlicher Kriege, vor allem für Österreich. Die Armeen zeigten deutliche Defizite, die aber durch eine rapide Annahme von Innovationen ausgeglichen werden konnten. Die Armeen modernisierten sich. Für viele deutsche Staaten waren allerdings die Niederschlagungen der Aufstände von 1848 der erste Einsatz seit Langem. In jenen Zeitraum fällt auch der Krieg gegen Dänemark, der erste gesamtdeutsche Krieg. Von der Nationalversammlung erklärt und weitgehend von Preußen und Österreich geführt, zeigte er ddas strategisches Dilemma der deutschen Staaten im europäischem Gleichgewicht auf: Die Aussicht auf ein (auch militärisch) geeintes Deutschland erschreckte seine Nachbarn, die versuchten, genau das zu verhindern.
Die Ausweitung des Krieges mit Dänemark zu einem gestamteuropäischen Krieg wurde durch die Fürsten, in dem Fall den preußischen König, gegen den Willen der machtlosen Nationalversammlung in klassischer absolutistischer Politik verhindert. Dieses Dilemma beförderte aber ein strategisches Denken, das bis 1945 grundlegend sein sollte: eine Fortführung der frederizianischen Kriegführung. Die Entscheidung im Krieg sollte durch einen möglichst schnellen, harten Schlag direkt zu Beginn fallen, bevor Deutschlands (beziehungsweise Preußens) Feinde sich koordinieren konnten. Diese Grundprämisse sieht Wilson als durchgängiges Leitmotiv und Kern der modernen deutschen Militärgeschichte mit all ihren Folgeproblemen.
Wie üblich verliert er aber Österreich nicht aus dem Blick, das in den 1850er Jahren in Italien Krieg führt und immer noch die vorherrschende deutsche Militärmacht ist. Die Konzentration auf Preußen ist zwar aus der Rückschau verständlich, letztlich aber ahistorisch. Auch war die österreichische Armee der preußischen weder taktisch noch technisch unterlegen, wovon später noch die Rede sein wird.
An der Geschichte der Heeresvorlage in Preußen kommt aber Wilson natürlich nicht vorbei. Er sieht die Schuld für den Konflikt nicht nur beim König und Bismarck, sondern auch bei den Liberalen. Diese hätten letztlich das überfällige Ende des Milizsystems und die Übernahme der Milizen in ein reguläres Heer damit verhindert, was der eigentliche Zweck der Vorlage gewesen sei. Bismarcks Verfassungsbruch tut zwar daraufhin genau das, aber wegen der Begrenzungen seiner Taktik - bei der eine vollständig reguläre Übernahme nicht möglich war - waren die neuen Einheiten wesentlich schlechter als das reguläre Heer. Das grundlegende Problem - die Anpassung der Heeresgröße an die Demografie - blieb zudem ungelöst, weil Bismarck nur eine Einmallösung durchdrückte, die auch nicht wiederholbar war. Die Armee besaß somit einen guten Teil zweitklassiger Truppen, was sich auch auf die Qualität der Reserven niederschlug.
Der Krieg gegen Dänemark 1864 zeigte erneut taktische und ausrüstungstechnische Defizite auf. Der blutige Sturm auf Düppeler Schanzen war eigentlich nur wegen der Schwäche der Artillerie notwendig, die die dänischen Befestigungen nicht nennenswert beschädigen konnte (ein Problem, das im Ersten Weltkrieg in großem Maßstab auftrat). Da aber eine Intervention der anderen Großmächte wie 1848 befürchtet wurde und eine schnelle Entscheidung benötigt wurde, griff man zu einem massierten Bajonettangriff. Dieser war erfolgreich, aber die Militärs zogen daraus die völlig falschen Schlüsse. Anstatt Taktiken gegen Befestigungen zu suchen oder die Nutzlosigkeit der Kavallerie zur Kenntnis zu nehmen, sagen sie sich darin bestätigt, dass mit dem richtigen Geist und viel Hurrah Schlachten zu gewinnen waren. Dazu ignorierte man völlig die Erkenntnisse aus dem zeitgleichen amerikanischen Bürgerkrieg.
Den deutsch-deutschen Bürgerkrieg sieht Wilson ebenfalls als Beleg für seine Thesen. Das preußische Zündnadelgewehr etwa sei bei weitem nicht so gut wie oft behauptet wird. Es hatte zwar einige Vorteile gegenüber den österreichischen Waffen, aber auch Nachteile in der Technik. Zudem ging Preußen mit einer wahnsinnig riskanten Strategie in den Krieg - erneut möglicht schnelle Schläge, für deren Erfolg eine ganze Menge Faktoren zusammenkommen musste -, die vor allem wegen strategischer Fehler der Südstaaten klappte: diese verhielten sich defensiv und erlaubten so, dass Hannover einzeln besiegt werden konnte. Österreichs war gleichzeitig an mehreren anderen Kriegsschauplätzen gebunden und nicht voll einsatzfähfig. Trotz dieser vielen bereits für Preußen zusammenkommenden Faktoren war der Ausgang von Königgrätz letztlich Glück. Der Erfolg im Krieg trat dann vor vor allem deswegen ein, weil Österreich nach der Schlacht von Königgrätz Frieden schloss. Das aber war, wie Preußen 1870 feststellen würde, kein Automatismus. Wilson sieht bereits die entscheidende, bis 1945 ungelöste Schwäche deutscher Militärplanung: eine Verengung auf schnelle, operative Erfolge ohne Plan, was danach kommen würde. Die Fetischisierung der Entscheidungsschlacht stand in keinem Verhältnis zur Realität der Kriegführung und Diplomatie und führte zu einer Geringschätzung der Letzteren, ein Feld, auf dem Österreich wesentlich besser funktionierte.
Das heißt nicht, dass Preußen nicht klare Vorteile gehabt hätte. Der deutsch-französische Krieg zeigte diese Vorteile deutlich auf: die deutsche Mobilisierung war wesentlich schneller und umfassender als die französische, die deutsche Taktik und Ausrüstung waren besser. Das Resultat waren vernichtende Siege über die französische Armee und die Abdankung Napoleon III. Allein, das beendete den Krieg nicht. Die III. Republik erklärte den Volkskrieg und schloss mit Deutschland, dessen Versorgungslinien überdehnt waren und dessen Armee graduell immer mehr in Gefahr geriet - von einer möglichen Intervention anderer Mächte, gegen die es sich nicht abgesichert hatte, ganz zu schweigen - erst Frieden, als eine interne Revolution durch den Aufstand der Kommune drohte. Zudem würde der Rest Europas schnell aufschließen und die technisch-taktische Lücke schließen. Als Nebenaspekt erklärt Wilson, dass der Schrecken der Franktireure in ihrer mentalen Bedeutung überschätzt werde. Er macht dies vor allem daran fest, dass Deutschland trotz aller Erzählungen keinerlei Aufstandsbekämpfungsdoktrin entwickelte und weiterhin davon ausging, ein besetztes Gebiet einfach verwalten zu können (was im Ersten Weltkrieg ja auch weitgehend zutraf).
Nach 1871 begann eine weitere, lange Friedensperiode in Europa. Die Kriegführung verlagerte sich auf Kolonialkriege, wo die Gewalt wesentlich entgrenzterer war. Wilson wendet sich hier aber gegen die These "Von Windhuk nach Auschwitz" und erkennt keine Kontinuität in Richtung Vernichtungskrieg und Holocaust. Die unterschiedlichen Anforderungen und Profile der Kolonialkriege aber bedeuteten auch, dass am Vorabend des Ersten Weltkriegs effektiv zwei Generationen keine Kriegserfahrung hatten - aller Kritik am Militarismus zum Trotz.
Die Politikgeschichte solchermaßen abgearbeitet kehrt Wilson zu den Kosten der Aufrüstung nach den napoleonischen Kriegen zurück. Die vielen deutschen Kleinstaaten taten sich schwer, die durch den technischen Fortschritt rapide steigenden Kosten des Militärs zu decken. Staatliche Budgets explodierten. Er stellt aber fest, dass relativ zum Wachstum von Bevölkerung und Wirtschaft die Militärausgaben deutlich zurückfielen, und das auch gegenüber dem Rest Europas. Die Gelder flossen stattdessen in die Finanzierung des beginnenden Wohlfahrtsstaat und andere Ausgaben für die Bevölkerung. An den Budgets jedenfalls lässt sich ein besonderer deutscher Militarismus (dessen Existenz Wilson grundsätzlich anzweifelt) nicht festmachen.
Die Fürsten versuchten nach 1815, ihre Armeen zu "entnationalisieren" und weiterhin als ihnen persönlich verantwortlich zu halten. Doch der Trend der Zeit lief in die gegenteilige Richtung: die Nationalisierung schritt weiter voran. Dadurch entstand ein Prestigewinn der Armee, der dazu führte, dass das Bürgertum ebenfalls diente und nicht wie früher die Wehrpflicht umging (etwa durch das Stellen von Ersatzleuten, was als gutbürgerliche Alternative galt). Trotzdem blieben Standesgrenzen deutlich daran erkennbar, dass die Bürgerlichen als "Einjährig Freiwillige" dienten, also nur ein Drittel der Zeit ableisteten, und dann Reserveoffiziere wurden. Diese verkürzte Dienstzeit wie der Reserveoffizierstatus kosteten viel Geld und blieben somit als Distinktionsmerkmal erhalten.
Noch deutlicher sichtbar war das bei den professionellen Soldaten, denn der Sold blieb weiterhin absurd niedrig, besonders für Offiziere. Diese zahlten meist effektiv drauf. Das war bewusste Politik, denn so kontrollierte der Adel den Zugang zu Offiziersposten jenseits der immer weiter nivellierten formellen Regelungen. In diesem Vorgehen ist in meinen Augen eine deutliche Parallele zu der Frage nach Diäten für Reichstagsabgeordnete zu sehen, die Wilson aber nicht zieht.
Völlig neu ab der Mitte des 19. Jahrhunderts war der Aufbau von Flotten. Sowohl Österreich als auch Deutschland begannen hier quasi von null an - wie bereits beschrieben hatten sie ihre bisherigen Marinen weitgehend abgerüstet, als die Technik die Möglichkeit von bewaffneten Handelsfahrern nahm - mit dem Aufbau einer Marine. Dies stellte sie vor eine ganze Reihe von Problemen. Das erste war, dass beide Länder nie einen klaren Fokus entwickelten. Der Auftrag der Marine war quasi unklar. Österreich versuchte, mit Italien zu konkurrieren (erfolglos), während Deutschland eine Hochseeflotte baute, um Kohlestationen zu schützen, die es brauchte, weil es eine Hochseeflotte hatte. Zudem bestand die Strategie auf falschen Annahmen, etwa dass eine britische Blockade in Küstennähe stattfinden und deswegen schnell zu einer maritimen Entscheidungsschlacht führen würde.
Doch damit nicht genug. Die Unabsehbarkeit der Entwicklung von neuen Schiffstypen und die zunehmende Rapidität dieses Wandels machten neue Typen schnell obsolet und führten in technologische Sackgassen. Dazu kam, dass die Kosten für die Seerüstung exponentiell stiegen und für die deutschen Staaten, die zwangsläufig Landmächte waren, eine unglaubliche Belastung darstellten. Kaum bekannt ist angesichts der Konzentration auf das Wettrüsten zwischen Deutschland und England um 1900 herum, dass Österreich-Ungarn bis in die 1880er Jahre die führende deutsche Seemacht war.
Eine weitere Entwicklung dieser Zeit war die massive Zunahme der Sanitätsdienste wegen Fortschritten in der Medizin. Verwundete waren früher weitgehend sich selbst und der Anteilnahme ihrer Kameraden - oder dem des Trosses - überlassen gewesen. Doch im 19. Jahrhundert nahm die Zahl des ärztlichen Personals immer mehr zu, wurden Militärkrankenhäuser eingerichtet (die häufig der Nukleus für die ersten großen städtischen Kliniken waren). Natürlich waren diese Vorkehrungen immer noch völlig unzureichend, wie sich spätestens im Ersten Weltkrieg herausstellen sollte. Aber die Chancen der Verwundeten zu überleben stiegen rapide.
Eine Besonderheit stellten die ab den 1880er Jahren eingerichteten Kolonialtruppen ("Schutztruppe") dar. Sie waren werder Teil der Armee noch der Marine, weil beide nichts damit zu tun haben wollten, und blieben damit eine halb private, schlecht kontrollierte Einheit mit extrem hohen Kosten. Die Vernichtungskriegführung gegen Herero und Nama und den Einsatz in der Boxerrebellion streicht Wilson als leider unter den Kolonialmächten nicht herausstechend hervor. Eine weitere Auffälligkeit in der Organisation der Schutztruppe war ihr deutlich erhöhter Anteil an medizinischem Personal; die Tropenkrankheiten forderten einen hohen Tribut.
Nach dieser Betrachtung sei hier noch die Entwicklung der Kriegsstrategien erwähnt, was natürlich vor allem auf Schlieffen und Moltke hinausläuft. Der Generalstab basierte seine Pläne auf einer möglichst rapiden Mobilisierung unter Nutzung der überlegenen deutscher Infrastruktur. Dies hatte schließlich 1871 geklappt, was die Vorlage für eine Wiederholung bot. Die Grundidee war ein schnelles Ausschalten. des Gegners. Bis heute ist unklar, was tatsächlich geplant war - ein Dauerstreit in der Militärwissenschaft, in den sich Wilson kaum einmischt, weil alles so oder so aber hochgradig unrealistisch war. Wilsons Grundkritik, dass der deutsche Generalstab wesentlich zu taktisch dachte, das Grundproblem des deutschen Militärs, kommt hier mit Macht zurück. Selbst wenn der Schlieffen-Plan erfolgreich gewesen wäre, insofern als dass er seine operativen Ziele erreicht hätte, so wäre doch völlig unklar, warum danach der Krieg im Westen hätte vorbei sein sollen. Diese Traumtänzerei der Militärplaner werden wir auch im Zweiten Weltkrieg wieder finden.
Der letzte große Abschnitt ist unter "Demokratisierung" gefasst, worin ich ein Echo von Hedwig Richters These vom Zusammenhang von Demokratie und Nationalsozialismus erkenne, aber auch eine Verklammerung mit der Nachkriegsgeschichte. Es ist etwas gewöhnungsbedürftig, die Zeit von 1914 bis 2021 als eine große Einheit zu betrachten, aber es macht eine ganze Menge Sinn, haben wir hier doch das (langsame) Ende der alten Klassenstruktur und die Mobilisierung der ganzen Bevölkerung - zumindest bis in die späten 1970er Jahre, aber dazu später mehr.
Politikgeschichtlich beschreibt Wilson zuerst den Verlauf des Ersten Weltkriegs mit einem Fokus auf den scheiternden Ablauf des Schlieffenplans. Er streicht das Fehlen von Verbündeten in der deutschen Strategie und die Missachtung der bestehenden heraus, die Deutschlands Chancen von Anfang an schwer beeinträchtigten. Dies liege an der Konzentration auf die operative Ebene, in der irrigen Hoffnung, den Krieg durch eine Entscheidungsschlacht beendne zu können. Auch der Verdun-Mythos wird kurz gestreift (nein, Falkenhayn plante keine Abnutzungsschlacht). Vor allem aber betont Wilson hier die zahlreichen geostrategischen Fehlentscheidungen, vor allem die Erklärung des uneingeschränkten U-Boot-Kriegs.
In einer Abkehr von zahlreichen Klischees steht Wilsons Betonung, dass die Armee effektiv wahnsinnig unprofessionell war. Der Grund dafür liegt in der alten Weisheit der preußischen Militärplaner des 18. Jahrhunderts, dass es drei Jahre Training, brauche, um einen effektiven Soldaten zu formen. Doch bereits die Reservisten, die 1914 mobilisiert wurden, haben viel zu wenig Erfahrung. Selbst die Erfahrung, die sie dem Papier nach haben sollten, würde nicht ausreichen, doch die reale war noch wesentlich unzureichender. Die bald folgenden Wehrpflichtigen hatten überhaupt keine Erfahrung. Hier rächte sich, dass die Armee nie demografisch angepasst worden und viel zu niedrige Prozentsätze der Bevölkerung ausgebildet hatte. Allein, relativ zu den anderen Armeen war das deutsche System trotz allem besser. Man darf nur nicht den Fehler machen, es für objektiv gut zu halten; den eigenen Ansprüchen wurde es hinten und vorne nicht gerecht.
Das alles ist wenig überraschend. Seit 1871 hatte es keine europäischen Kriege mehr gegeben. Letztlich waren die großen Armeen und Mobilisierungspläne immer auch Abschreckungselemente gewesen, ähnlich den heutigen Atomwaffen. Tatsächlich einsetzen wollte man sie eigentlich nicht, und die rapide zunehmende Komplexität mit all ihren Mobilisierungsplänen hatte für eine Insulierung der militärischen Planungen von jeder (zivilen) strategisch-diplomatischen Handlungsweise gesorgt, die sich 1914 fatal auswirken sollte. Es machte sich auch sofort ein massiver Kontrollverlust der zivilen Institutionen bemerkbar, weil man alles Operationelle dem Militär überlassen hatte. Selbst wenn die zivilen Institutionen gewollt hätten, hätten sie nicht kontrollieren oder selbst tun können, was das Militär mit der de-facto-Übernahme der Regierungsgewalt spätestens ab der Ludendorff-Diktatur 1916 leistete (mit bestenfalls mittelmäßigen Ergebnissen, nebenbei bemerkt). Der anfängliche Burgfrieden mit seiner Reichstagsbeteiligung und öffentlicher Debatte wich immer mehr der Militärdiktatur, ohne das Nebeneinander je auflösen zu können.
Ironischerweise findet sich eine komplett gegenteilige Dynamik in Österreich: zu Beginn des Krieges fand hier gerade kein Burgfrieden statt, sondern eine Bestätigung und Verstärkung der Autokratie in einer Art Ruhebefehl des Kaisers. Im Verlauf des Krieges fand dann aber eine langsame Öffnung statt, die allerdings weniger als Demokratisierung und viel eher als Desintegration des österreich-ungarischen Staatsgebildes zu verstehen ist. Wilson betont auch die wahnsinnig schlechte Führung der k.u.k.-Armee, ihre schlechte Organisation und besonders die Rolle Conrad von Hötzendorfs. Österreich verschwindet allerdings bereits 1914 als Faktor und muss seine Kriegsführung effektiv der deutschen Koordination unterordnen.
Allein, eine solche Koordination findet kaum statt, weil Deutschland seine Verbündeten kaum mehr als als Nebengedanken begreift und sich vor allem auf die eigenen operativen Anforderungen beschränkt. Wilson kommt zu dem generellen Schluss, dass keine gute Koordination von Taktik und Strategie stattfindet. Das Militär konzentrierte sich vollständig auf Taktik, ein dauerhaftes Micromanagment bis in die höchsten Ebenen des Generalstabs, ohne dass je klar geworden wäre, welches Ziel eigentlich wie erreicht werden solle. Nirgendwo wird dies deutlicher als in der Vorstellung, dass der Krieg kurz werden würde, ohne dass je klar gemacht worden wäre, warum eine verlorene Schlacht (im Erfolg des Schlieffen-Plans) den Krieg beenden sollte.
Das Ende des Krieges sieht dann die komplette Auflösung der deutschen Armee. Ab Sommer 1918 steigen die Gefangenen- und Deserteurszahlen massiv an. Die Waffenstillstands- und danach Friedensbedingungen erforderten eine weitgehende Abrüstung. Die Paramilitärs - Freikorps und andere - blieben jedoch in Stärke von fast einer halben Million Mann aktiv und wurden von allen Parteien (!) als Unterpfand gegen die Alliierten und Kern einer zukünftigen Armee unterstützt. Abgesehen von diesem Grundkonsens gab es aber große Spannungen. Die Konservativen mochten die Freiwilligenverbände (etwa die Volksmarinedivision) nicht, weil sie sie an den "Volkskrieg" erinnerten, gegen den sie schon 1813 waren und den sie das ganze 19. Jahrhundert lang zu verhindern gesucht hatten (woraus dann ja auch die Schwäche des Mobilisierungsapparats resultierte). Die Linken lehnten die Paramilitärs nach dem Ende der Freiwilligenverbände ab, weil der bestehende Rest der Freikorps rechtsradikal war und spätestens 1920 offen putschte. Dieser innenpolitische Konflikt wurde durch internationalen Druck gelöst: der Versailler Vertrag erzwang ihre weitgehende Auflösung.
Die neue Reichswehr blieb "unpolitisch" und weitgehend ziviler Kontrolle entzogen. Dieses "unpolitisch" wandte sich natürlich nur gegen rechts, nicht gegen links; die Bekämpfung der politischen Linken galt der Armee von Anfang an als zentrale Aufgabe, die sie mit großer Lust und Gewalt durchführte. Generell sah das Militär es als seine Hauptaufgabe, sich die eigene Autonomie zu bewahren und war damit bis zur Machtergreifung auch weitgehend erfolgreich. Wilson beschreibt auch die heimliche Aufrüstung durch die "schwarze Reichswehr", die ein offenes Geheimnis Weimars war. Selbst die SPD akzeptierte diese weitgehend stillschweigend, einfach, weil es keine Alternative zu geben schien. Der Schock der Jahre 1921-1923, als Frankreich und Belgien wiederholt mit ihrem Militär in Westdeutschland ihre Politik durchsetzten, saß tief.
Die Versailler Beschränkungen auf 125.000 Mann (inklusive Marine) machten jegliche Pläne für einen Krieg komplett unrealistisch. Das hielt die Reichswehrführung natürlich nicht davon ab, weiterhin für den Fall eines Krieges Offensiven zu planen. Diese Pläne sahen eine Reichswehr von 300.000 Mann vor. Abgesehen davon, dass die Vorstellung, mit 300.000 Mann im Kriegsfall eine Entscheidung gegen Frankreich zu erzwingen, ganz egal, wie gut ausgebildet und ausgerüstet diese waren (was ohnehin eine dubiose Annahme war) völlig absurd war, erklärten die Reichswehrplaner nie, woher diese Zahl kommen sollte, denn die Reichswehr zählte nie mehr als die Hälfte dieser Größe. Diese unrealistischen Planungen bleiben bis 1945 Merkmal deutscher Stabsarbeit.
In Österreich indessen gab es eine winzige Armee, die wie in Deutschland vor allem dazu diente, linke Aufstände zu unterdrücken. Auch hier wurden freiwillige Verbände einer demokratischeren "Volksarmee" schnell beseitigt. Anders als Deutschland akzeptierte Österreich aber problemlos seinen neuen Status als kleines Land ohne militärische Autonomie und beugte sich damit den neuen Realitäten. Deutschland indessen versuchte zwar, die Beschränkungen von Versailles zu durchbrechen und sich in Revisionismus zu üben, suchte aber wie vor 1914 wieder nicht ausreichend Verbündete, sondern hoffte, den Gordischen Knoten auf operativer Ebene durchschlagen zu können. Es ist das Dauerdilemma der deutschen Politik jener Epoche.
Die Übernahme der Macht durch die Nazis offenbarte eine überraschend konfliktreiche Beziehung. Zwar liebte die Armee die Reformen der Nazis (was sie solide und loyal hinter Hitler brachte), wollte aber weder mit der SA (was sich mit Nacht der Langen Messer 1934 dann auch erledigte) noch der SS etwas zu tun haben (was ein Dauerproblem blieb und mit dem Aufschwung der Waffen-SS ab 1943 in den Vordergrund trat). Aber Hitler entmachtete die in Weimar weitgehend unabhängigen Militärs praktisch vollständig, was diese weitgehend widerstandslos hinnahmen. Die Kriegsplanungen, die in den 1930er Jahren begannen, liefen wieder auf den harten Erstschlag hinaus, ohne Vorstellungen, was danach passieren würde, und ohne ordentliche Strategie und Logistik, um einen mehr als einige Wochen dauernden Konflikt zu stützen.
Die Schweiz in der Zwischenzeit blieb aus ideologischen Gründen bei ihrer weitgehend ineffektiven Milizarmee. Glücklicherweise reichte der erklärte und glaubhafte Wille, auch nach einer militärischen Niederlage (die gegen jeden potenziellen Gegner sicher gewesen wäre) weiterzukämpfen, um von einer Invasion abzuschrecken. Die offiziellen Kriegspläne der Schweiz sahen eine Aufgabe von rund 80% des Territoriums und einen Rückzug in die Berge vor, von denen aus ein Guerillakrieg geführt werden sollte. Was Wilson in diesem Kapitel in meinen Augen allerdings etwas unterschlägt ist die Bedeutung der Schweiz als wirtschaftliche Plattform, die wesentlich mehr zu der Erhaltung der Neutralität beitrug als die Aussicht, Schweizer Guerillas bekämpfen zu müssen. Die Schweiz stellte sich schließlich im Krieg allen Beteiligten zur Verfügung.
In seinen Betrachtungen zur Außenpolitik der Nationalsozialisten findet sich wenig Neues, aber die Betonung selbst eines erfolgreich eroberten Europas als "landlocked" (also ohne Zugang zu den Weltmärkten, was Hitler freilich eingepreist hatte) und der fehlenden Alliierten Deutschlands, wo zusätzlich die Idiosynkrasien des Nationalsozialismus in seiner rassischen Überlegenheitsfantasie voll durchschlugen (darüber hat etwa Mark Mazower geschrieben) In meinen Augen bleibt diese Betrachtung sehr unterkomplex, gerade was Rolle der Wirtschaft angeht (wo der Goldstandard für mich immer noch "Die Ökonomie der Zerstörung" bleibt) - aber das war bei den vorherigen Kapiteln sicher auch so, und hier schlagen nur meine eigenen Präferenzen und Spezialisierungen durch.
Der eigentliche Kriegsverlauf wird nur kurz skizziert. Wilson sieht viel von der Schuld für die anfänglichen Erfolge der Wehrmacht 1939/40 bei den Alliierten; die deutsche Strategie selbst war eigentlich ziemlich hanebüchenen (ich habe genau darüber auch schon vor Jahren auf dem Geschichtsblog geschrieben). Es zeige sich immer wieder Mangel an einer tragfähigen geopolitischen Strategie. Ich halte diese Analyse für falsch, denn Hitler fehlte es nicht an der Analyse oder einer Strategie; perverserweise hatte er wesentlich mehr strategische Überlegungen angestellt, die auch in sich viel schlüssiger waren, als die Planer des Ersten Weltkriegs. Es waren nur Pläne, die auf falschen Annahmen beruhten und völlig unrealistisch waren. Aber Hitler scheiterte nicht daran, zu wenig über Strategie nachgedacht zu haben.
Völlig bei Wilson bin ich aber darin, dass sich die deutsche Militärführung (und zunehemnd eben auch ein an Option armer Hitler) viel zu stark auf Operationelles konzentrierten und darüber hinaus die strategische Ebene zunehmend vernachlässigten. Zusätzlich war die Kriegführung durch Ablenkungen wie die italienischen Probleme, die zunehmend eine Belastung darstellten, behindert. Letztlich aber bleibt die zentrale Erkenntnis, die populären Betrachtungen (und denen nach dem Krieg, aber dazu gleich mehr) diametral entgegensteht: der Krieg war unter keinen Umständen zu gewinnen. Das liegt, wie im Ersten Weltkrieg, an der Natur des Krieges als "Materialschlacht". Die zunehmende Radikalisierung gegen Ende des Krieges verlängerte diesen zwar und vergrößerte das Leid um ein Vielfaches, war aber letztlich nur der logische Endpunkt der intellektuellen Sackgasse, in der deutsche Militärplaner seit dem späteren 19. Jahrhundert feststeckten.
Die Nachkriegszeit sah Milizgründungen in West (die winzigen Bundesgrenzschutz und österreichische B-Polizei) und Ost (die riesige kasernierte Volkspolizei). Die ab 1955/56 gegründeten neuen deutschen Armee waren ab sofort in Bündnisse integriert und verloren ihre Eigenständigkeit, die sich am eindrücklichsten am Fehlen eines Generalstabs ausdrückte. Anders als nach 1919 wurde das aber nicht durch Schatten-Generalstäbe kompensiert. Vielmehr war eine eigenständige Kriegführung einerseits wegen der Notwendigkeit von Bündnisintegration und -koordination nicht mehr denkbar, andererseits aber wegen der Rolle von Atomwaffen in einem zukünftigen Konflikt.
Die Atomstrategie beider Blöcke machte es erforderlich, in völlig neuen Kategorien zu denken. Besonders im Westen zeigte sich eine gewisse Eigenständigkeit der Bundeswehr dann aber darin, dass man die NATO-Strategie, die in den 1950er Jahren einen Rückzug auf den Rhein und eine Bombardierung der sowjetischen Verbände in Westdeutschland vorsah, durch eine ständige Verschiebung der Frontlinie zuerst an Main und Elbe und dann sogar direkt an die deutsch-deutsche Grenze veränderte. Diese Planungen sahen dann (natürlich) auch wieder begrenzte Offensivoperation auf DDR-Gebiet vor und waren glücklicherweise völlig irrelevant. Im Kriegsfall wäre das alles ohnehin sehr wahrscheinlich Makulatur gewesen.
Die NVA hatte demgegenüber in ihrem Bündnis eine viel größere Rolle im Kriegsfall als die Bundeswehr. Ihr Auftrag war eine weitgehend eigenständige Offensive nach Norddeutschland, während die Warschauer-Pakt-Verbände eher den Süden attackiert hätten. Unrealistisch war auch dies, schon allein wegen völlig illusorischer Annahmen darüber, wie weit die Soldaten über nuklear verseuchtes Terrain würden vorrücken können.
Von dort ausgehend gelangen wir zur Auflösung des Warschauer Pakts ab 1990 und der berühmten "Friedensdividende", also der massiven Abrüstung der Bundeswehr von immerhin einer halben Million Mann auf zuerst rund 350.000, dann weit unter die Hälfte dieser Kalter-Kriegs-Stärke. Parallel zu dieser Abrüstung gingen die beginnenden Auslandseinsätze einher. Wilson skizziert kurz die Auseinandersetzung um den rechtlichen Rahmen über die BVerfG-Entscheidungen, die zu der einzigartigen Struktur der Auslandseinsätze über Bundestagsentscheidungen führten (fast alle anderen NATO-Staaten sehen das als Exekutiv-Funktion). Die Bundeswehr entwicklete sich mehr und zur reinen Berufsarmee, wenngleich das Element der Wehrpflichtigenarmee bis 2011 eine zunehmend dysfunktionale Nebenexistenz ausführte. In jüngster Zeit kam die Cyberkriegführung sowie das Gefechtsfeld Weltraum als Betätigungsfeld hinzu, auf denen die Bundeswehr, höflich ausgedrückt, Nachholbedarf hat.
Nach dieser Politikgeschichte geht Wilson auf die Erfahrung des Militärs in der Gesellschaft und die Personalproblematik ein. Schon im Kaiserreich sei diese nicht universal gewesen, was den Klischees der Pickelhaubengesellschaft deutlich ins Gesicht fliegt, und habe über den Verlauf 1871-1914 deutlich abgenommen, weil die Armee nicht proportional mit der Bevölkerung wuchs. Wie in den anderen europäischen Ländern auch wurden die professionelle deutsche und k.u.k.-Armee in den Anfangs-Schlachten des Jahres 1914 praktisch evaporiert und mussten durch Wehrpflichtige aufgefüllt werden, was die allgemeine Qualität deutlich reduzierte und nicht eben dazu angetan war, die Verluste zu beschränken. Am übelsten traf dies Österreich-Ungarn, dessen Armee sich 1914 fast auflöste und mühsam wieder zusammengebaut werden musste, aber nie auch nur ansatzweise an das ohnehin nicht sonderlich hohe Niveau von 1914 heranreichen konnte. Deutschland gelang es bis 1916 vergleichsweise gut, diese Probleme zu kompensieren, danach allerdings immer weniger (erneut: anderen Ländern erging es genauso).
Da es in der Weimarer Republik keine Wehrpflicht gab und der Versailler Vertrag bewusst keinen Austausch der Truppe erlaubte - für Soldaten waren 12 Jahre Dienstzeit, für Offiziere gar 25 Jahre vorgeschrieben -, was Wilson für einen Fehlschluss aus den Jahren der preußischen Reformzeit Anfang des 19. Jahrhunderts hält (Deutschland wurde hier Opfer der eigenen Hardenberg-Propaganda), hatten große Teile der Bevölkerung keinen Kontakt mit der Armee mehr. Die rapide Expansion der Wehrmacht nach 1933 sorgte für massive Personalprobleme, weil das Berufspersonal überhaupt nicht in der Lage war, die Professionalisierung zu gewährleisten. Die Ausbildungszeiten waren zudem zu kurz (drei Jahre wurden von Preußen als Minimum betrachtet, wir erinnern uns), und der Krieg verkürzte diese weiter - ein Problem, das schon im Ersten Weltkrieg bestanden hatte. Die Verluste vor allem ab 1941 sorgten für eine rapide Erschöpfung der Jahrgänge, und ab 1944 musste quasi alles eingezogen werden, was irgendwie laufen konnte. Die Qualität der Wehrmacht sank deswegen über die Jahre deutlich ab.
In diesem Zusammenhang skizziert Wilson auch die deutsche Kriegswirtschaft des Zweiten Weltkriegs. Hier liegt der Fokus vor allem auf der Fehlallokation von Ressourcen. Das beständige infighting des polyzentrischen NS-Staats produzierte massive Ineffizienzen (vor allem im Gegensatz zu der vergleichsweise viel rationaleren Kriegswirtschaft im Ersten Weltkrieg, die natürlich ihre ganz eigenen Probleme hatte). Die Luftwaffe und Marine waren geradezu schwarze Löcher für riesige Geld- und Ressourcenaufwendungen, ohne dass auch nur ansatzweise ein ordentliches Qualitäts- und Quantitätslevel erreicht worden wäre. Besondere Erwähnung findet, völlig zu Recht, die V2, die eine absurde Menge Ressourcen für praktisch keinen Effekt verschlang. Erneut fällt jeglicher Mangel an Fokus und strategischer Zeilvorgabe auf. Dieses Phänomen lässt sich in meinen Augen auch für die Bundeswehr heute beobachten.
Nach dem Krieg war der Enthusiasmus für eine Wehrpflicht eher gering; die Ohnemich-Bewegung war nicht grundlos die erste deutsche Protestbewegung. Die Wehrpflicht ab 1955 wurde aber gesellschaftlich akzeptiert, wenngleich nicht eben gefeiert, und die Armee erreichte ihre Zielstärke von einer halben Million Mann gegen Ende 1960er Jahre. Damals gingen fast alle jungen Männer durch das Sozialisierungsritual der Wehrpflicht; eine Größe, die sich mit den besten Zeiten des Kaiserreichs messen kann. Ab den 1970er Jahren ist dann aber eine massiver Anstieg der Zivildienstleistenden bei einer gleichzeitigen Verkürzung der Wehrpflicht zu beobachten.
Wilson diagnostiziert eine immer größere Abkopplung zwischen den Anforderungen an moderne Kriegsführung mit immer komplexerem Gerät und der Qualität des Personals, dessen Ausbildungszeiten viel zu kurz waren, um effektiv sein zu können (er sieht hier Echos zum Kaiserreich). In den 1990er Jahren erfolgte dann eine Personalreduktion, woraus ein riesiger Überhang an Ausbildern und nutzlosen Wehrdienstleistenden bestand, der Stück für Stück abgebaut werden musste, während gleichzeitig versucht wurde, den Anforderungen der zunehmenden Auslandseinsätze zu genügen, die wesentlich längere Dienstzeiten und Erfahrung beziehungsweise Training erfordern. Wilson skizziert einen regelrechten Realitätsschock durch die Auslandseinsätze vom "aggressiven Campingausflug" zu Beginn des Afghanistaneinsatzes hin zur heutigen Professionalisierung. Gleichzeitig zeigen diese Einsätze aber auch die fehlende Eigenständigkeit und Abhängigkeit von den USA, die etwa 2021 auch Deutschland zum Abzug zwingen.
Es ist natürlich nicht so, als ob diese Paradoxien den Militärs selbst nicht aufgefallen wären. Ein Grundproblem für die Zeit zwischen 1914 und 1945 war, dass die Armee unglaublich konservativ eingestellt war und eine starke ideologische Zielsetzung mitbrachte: die Verhinderung eines Volkskriegs und einer Demokratisierung der Streitkräfte (die gleichwohl ausgerechnet unter den Nazis einsetzte, die den Klassencharakter der Streitkräfte aufhoben, und der in der Bundesrepublik mit dem "Staatsbürger in Uniform" kodifiziert wurde). Daher entstanden Ineffizienzen auch beim Training und eine starke Vorauswahl konservativer Offiziere und Mannschaften, deren Fähigkeit zur Adaption neuer Umstände nicht immer die beste war. Dieser Widerwille gegen die Idee des Volkskriegs blieb auch 1919-1923 erhalten, wo die Reichswehrführung bewusst auf Massenmobilisierungen verzichtete und lieber Träumereien über einen hochgradig trainierten und ausgerüsteten Reichswehrkader hegte. Aus diesen ideologischen Prädispositionen erklärt sich auch das ambivalente Verhältnis zum Nationalsozialismus; weder Angriffs- noch Vernichtungskriegkonzepte waren ein großes Problem für die konservativen Militärs.
Nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte der Wiederaufbau der Bundeswehr und NVA durch solche Offiziere, die sich als politisch unbelastet präsentieren konnten. Dies war vor allem der Fall, wenn sie unrechtmäßig wegen Verwicklungen mit dem 20. Juli in Verdacht geraten waren, was den zusätzlichen Vorteil hatte, dass es unwahr war, denn bis weit in die 1960er Jahre hinein galten die Attentäter den deutschen Militärs als abstoßende Verräter. Die Expertise ehemaliger Wehrmachtsoffiziere wurde zudem von den USA stark nachgefragt, was zu ihrer Rehabiliation beitrug, veraltete aber vor allem angesichts der Rolle von Nuklearwaffen und neuer Technologie sehr schnell. Diesen Männern gelang es aber in dieser Zeit ausgezeichnet, nachhaltig das Bild der "unpolitischen Wehrmacht" zu prägen, das erst in den 1990er Jahren wirklich angegriffen werden wird und bis heute wirkmächtig vor allem in der populären Erinnerung fortbesteht.
Nach der Wiedereinsetzung der Wehrpflicht 1956 war die Idee vom "Staatsbürger in Uniform" der Leitgedanke der Bundeswehr. Ironischerweise dienten in der BRD mehr Männer in der Armee als im Kaiserreich oder jemals davor (die Gesamtzahl war ähnlich wie im Kaiserreich, aber bei etwas geringerer Gesamtbevölkerung). Die Bundeswehr umfasste im Kalten Krieg ca. 500.000 Mann, die im Verteidigungsfall (man beachte hier die Semantik; man sprach nur noch von "Verteidigung") auf ca. 1,3 Millionen anwachsen sollte. Das allerdings sei im Hinblick auf die Erfahrung der Weltkriege eher eine dubiose Annahme, da der Trainingsstand dazu gar nicht ausgereicht hätte. Die mobilisierten Reservisten wären gar nicht in der Lage gewesen, das Bundeswehrgerät effektiv zu bedienen.
Die Erfahrung der DDR beruhte auf einer wesentlich krasseren Militariserung. Die NVA, die prozentual deutlich größer war als die Bundeswehr und eine viel offensivere und bedeutendere Aufgabe im Kriegsfall hatte, war gesellschaftlich wesentlich präsenter und wäre im Kriegsfall durch paramilitärische Organisationen und Reservisten verstärkt worden. Dazu kam eine starke Wehrerziehung in Schule und Jugendorganisationen. Aber auch hier bleibt der tatsächlicher Kampfwert fraglich. Eine eher kuriose Note ist, dass die NVA aus politischen Gründen nie in der Tschechoslowakei oder Polen eingesetzt wurde und deswegen keinerlei Einsatzerfahrung vorweisen kann. Sie war aber unbestreitbar sehr effektiv in der Unterdrückung von Aufständen zuhause.
Österreich dagegen hatte wie in der Zwischenkriegszeit eine winzige Armee. Seine Marine (zwei Patroillenschiffe für die Donau) wurden bis in die 1990er komplett ausgemustert. Theoretisch dient die Armee der Landesverteidigung, ist aber weitgehend ineffektiv. Da Österreich neutral ist, besaß es im Kalten Krieg immer ostentativ einiges Sowjetgerät, war aber effektiv wie auch heute nach Westen orientiert. Die Schweiz blieb ihrem Modell der Milizen treu, fügte aber im Kalten Krieg einen neuen Fokus auf Zivilschutz ein, was zum massiven Bau von Bunkern führte, die im Kriegsfall die Bevölkerung schützen sollten, und die Rolle der Luftraumsicherung betonte. Beide Annahmen sind für die jüngere Zeit ebenfalls sehr fraglich (man bedenke nur die Diskussion in der Schweiz über die Anschaffung neuer Jagdflieger oder die Referenden zur kompletten Abschaffung der Armee).
Gegen Ende geht Wilson auch auf die Problematik der Vergangenheitsbewältigung ein. Auch hier gibt es wenig Neues. Er vertritt die in jüngster Zeit stark in Frage gestellte und veraltete These der gescheiterten Entanzifizierung in den 1940er Jahren und konzentriert sich ansonsten stark auf die Adenauer-Ära, in der der Mythos der sauberen Wehrmacht und eine Schlussstrich-Mentalität gepflegt wurden. Er skizziert dann kurz die bekannten Wellen des Revisionismus: die Auschwitzprozesse in den 1960er Jahren, die Auschwitz-Serie 1979, die Wehrmachtsausstellung 1995. Für all diese Wellen betont er natürlich die Positionierung der Armee, die zuerst mit einer Weißwaschung ihrer Geschichte reagiert, sich dann ab den 1970er Jahren und dem Aufstieg der Friedensbewegung ab den 1970er Jahren weitgehend aus öffentlichen Sphäre zurückzieht.
Generell ist es auffallend, wie absurd erfolgreich die Friedensbewegung darin war, die Rolle der Armee zurückzudrängen (wenngleich ich die Bedeutung, die Wilson dem Doppelbeschluss für den Fall der Regierung Schmidt gibt, für völlig überschätzt halte) und die deutsche Gesellschaft zu "pazifizieren" (was sich in der zunehmenden Gleichberechtigung des Zivildienstes und seinem Anstieg auf beinahe die Hälfte der Wehrpflichtigen ausdrückt).
Abschließend sei noch einmal betont, dass ich trotz der Länge dieser Ausführung natürlich nur die Oberfläche kratzen kann. Ich empfand die Lektüre wegen der Synthese von 500 Jahren Militärgeschichte als sehr befruchtend, selbst wenn natürlich jede*r, der/die als Experte vertiefte Kenntnisse über eines der gestreiften Gebiete hat, zwangsläufig viel zu kritisieren finden wird (wie meine Anmerkungen für die Zeit ab 1914 glaube ich deutlich machen). Eine letzte Bemerkung habe ich noch zum Hörbuch: mir ist völlig unklar, warum Sprecher für Bücher über deutsche Geschichte gewählt werden, die offensichtlich nicht wissen, wie man Deutsch ausspricht. Die Worte sind teilweise schlicht unverständlich. Aber das ist nur ein Detail. Ich spreche eine volle Empfehlung aus!
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