Donnerstag, 28. Dezember 2023

Bürgerliche Radikale projizieren Bilder von Kreuzfahrten auf Huthi-Schiffe - Vermischtes 28.12.2023

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Fundstücke

1) »Für bürgerliche Kreise sind Kulturkampfthemen die Einstiegsdroge in den Rechtspopulismus« (Interview mit Jan-Werner Müller)

Ein Drittel der Wählerinnen und Wähler hat 2023 bei europäischen Wahlen für Rechtspopulisten gestimmt, so der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller. Der Erfolg von Geert Wilders in den Niederlanden und die Identifikation der Wählerschaft mit rechtspopulistischen Parteien zeigen sich nach Ansicht Müllers vor allem dann, wenn diese Parteien erst einmal Fuß gefasst haben. In den Niederlanden kopierten viele Parteien vor der Wahl die Rhetorik von Wilders, ohne ihn auszuschließen, doch nach der Wahl distanzierten sie sich davon. Müller betont, dass bürgerliche Parteien klare Kriterien für Koalitionen mit Populisten kommunizieren sollten. Rechtspopulisten sind laut Müller ideologisch flexibel, und ihre Anti-EU-Haltung hat sich gewandelt. Er sieht die aktuelle innere Aushöhlung der EU durch Regierungschef Viktor Orbán als gefährlicher an als die Phase, in der EU-Austritte gefordert wurden. In Polen konnte die Opposition erfolgreich klare Ideen für die Zukunft formulieren und sich auf gemeinsame Ziele einigen. Müller warnt davor, radikale Positionen zu normalisieren, und betont die Wichtigkeit, mit Rechtspopulisten zu reden, ohne ihre Rhetorik zu übernehmen. (Nadia Pantel, Spiegel)

Was mich an der ganzen Debatte wirklich langsam nervt ist die Unklarheit bezüglich dieses Agenda-Settings. Ich lese ständig Artikel von Leuten, die felsenfest überzeugt sind, dass das Übernehmen rechter Diskurse der Haupttreiber von deren Erfolg ist, und ich lese ständig Artikel von Leuten, die felsenfest davon überzeugt sind, dass das Nicht-Übernehmen dieser Diskurse der Haupttreiber des Erfolgs ist. Vielleicht gibt es irgendwo eine Synthese zwischen den Positionen, aber finden kann ich sie nicht. Solange bleibt das letztlich ständig der Rorschach-Test, über den ich bereits geschrieben habe: die AfD ist wegen dem stark, von dem ich bereits vorher überzeugt war. Nützlich ist das nicht besonders.

Noch einmal wichtig scheint mir hier der Aspekt des Interviews, in dem Müller darauf eingeht, wie schwierig die Demokratie zurückzugewinnen ist, wenn die Rechtsradikalen einmal an der Macht waren. Polen ist gerade das beste Beispiel dafür; wir hatten das Thema hier ja schon öfter. In Ungarn ist es so tiefgreifend, dass die Wahlen selbst mittlerweile kaum mehr demokratisch sind. Und in den USA machen sich die Republicans bekanntlich gerade bereit, die Demokratie im Fall ihres Sieges abzuschaffen. Das halte ich für das größte Problem, und das geht bei uns auch schon los: In Pirna gewann die AfD die Oberbürgermeisterwahl. Der Sieger erklärt, er werde alle Mitarbeitenden "auf Loyalität prüfen". Das ist ziemlich unverhohlen eine Umgestaltung des öffentlichen Dienstes nach Parteizugehörigkeit, ein absolutes No-Go in einer Demokratie.

2) Children Risk Their Lives Building America’s Roofs

Junge Migranten, oft unter 18 Jahren, arbeiten in den USA illegal auf Baustellen, insbesondere als Dachdecker, obwohl Bundesgesetze dies verbieten. Die Kinder, als "ruferitos" bekannt, teilen Videos in sozialen Medien, in denen sie ihre gefährlichen Arbeiten zeigen. Die New York Times sprach mit über 100 minderjährigen Dachdeckern in fast zwei Dutzend Bundesstaaten. Diese Kinder, die oft allein über die südliche Grenze in die USA kommen, arbeiten unter gefährlichen Bedingungen und werden oft unterbezahlt. Die meisten von ihnen finden Beschäftigung in der Bau- und Dachdeckerbranche, da diese Jobs besser bezahlt sind als andere, die für sie verfügbar sind. Trotz Bemühungen der Regierung, Kinderarbeit zu bekämpfen, wächst diese Arbeitskraft weiter, da immer mehr Kinder ankommen und nach Möglichkeiten suchen, sich selbst zu unterstützen und ihren Familien aus der Armut zu helfen. (, New York Times)

Das sind absolut erschütternde Berichte. Kinderarbeit ist in den USA eh ein völlig anderes Thema als hier in Deutschland, wo sehr harte Schutzbestimmungen gelten. Es passt ins Bild, dass die Republicans in den letzten Jahren die Legalisierung von Kinderarbeit auf ihre Agenda gepackt haben. In den "roten" Staaten ist das auch schon weit fortgeschritten, und die erwartbaren Ergebnisse kann man hier sehen. Ausbeutung der verwundbarsten Mitglieder der Gesellschaft. Wie man zentrale Errungenschaften des zivilisatorischen Fortschritts der letzten 200 Jahre dermaßen zurückdrehen kann ist mir unbegreiflich. Wenn wir uns nicht mal mehr da einig sind... Und ja, mir ist klar, dass hier teilweise auch krass in den illegalen Bereich hineingearbeitet wird. Aber das ist ja auch eine Frage der Strukturen, einerseits Prävention zu betreiben und andererseits nachhaltig dagegen vorzugehen, und beides ist hier offensichtlich nicht der Fall. Die größte Leerstelle in dem Artikel ist für mich auch der scheinbare Mangel an Konsequenzen für die Auftraggebenden.

3) Das projizierte Feindbild

Der Artikel berichtet über eine Stadtratssitzung in Oakland, Kalifornien, bei der über tausend Bürger anwesend waren, um eine Resolution zu diskutieren und zu verabschieden, die Israels militärische Reaktion auf das Massaker der Hamas vom 7. Oktober verurteilt. Die Teilnehmer, viele davon Aktivisten aus verschiedenen Bewegungen, projizierten ihre Anliegen auf Israel. Die Resolution, letztendlich unter dem Druck der Aktivisten angenommen, setzte die Handlungen der Hamas-Terrororganisation mit denen Israels gleich. Der Artikel hebt die Weigerung hervor, das Hamas-Massaker zu verurteilen, und den wachsenden Trend der Dämonisierung Israels in verschiedenen Foren. Die verzerrten Ansichten der Aktivisten beinhalten die Leugnung oder Rechtfertigung antisemitischer Gewalt und die Darstellung Israels als kolonialistischer, apartheidähnlicher Staat. Der Autor betont die verzerrte Wahrnehmung Israels als Symbol des Bösen und die eschatologische Dimension im globalen anti-israelischen Sentiment. Der Artikel deutet darauf hin, dass dieser Hass gegen Israel in historischem Antisemitismus verwurzelt ist und eine moderne Manifestation nach dem Holocaust darstellt. (Philipp Lenhard, taz)

Ich teile die Analyse Lenhards, dass es sich vor allem um Projektion handelt, völlig. Die meisten Leute haben vom Nahostkonflikt eh viel zu wenig Ahnung für irgendwas anderes. Für mich sind das residuale Überreste der Kalter-Krieg-Logik, wie sie sich auch beim Ukrainekrieg immer wieder Bahn brechen. Der unterschwellig-dumpfe Antiamerikanismus befördert die Vorstellung, dass die USA irgendwie böse sind, und das wird per Proxy auf die jeweiligen Seiten übertragen. Sind die USA böse, sind ihre Gegner oft genug wenn nicht gut so doch zumindest irgendwie im Recht oder sonstwie mit Samthandschuhen anzufassen. Dieser Antiamerikanismus wird dann direkt weiterprojiziert. Wer gegen Amerika kämpft (was auch noch die attraktive Underdog-Rolle beinhaltet) ist dann immer irgendwo im Recht. Im Fall Israels verbindet sich das dann noch mit allerlei anderen Elementen. Man sieht das finde ich auch gut in den 70er Jahren, als plötzlich die PLO gut gefunden und Palästinensertücher getragen wurden. Gleiches Ding, genauso substanzarm.

4) Luxus-Lobbyismus mit Karibik-Kreuzfahrt und Mallorca-Treffen // Skandal um Top-Beamtin größer als gedacht

Der Artikel berichtet über Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki, der auf einer Luxus-Kreuzfahrt in der Karibik als Talk-Gast auftrat und dabei über politische Themen sprach. Die Einladung erfolgte von der Firma der Moderatorin Sabine Christiansen, die Lobbyforen organisiert. Kubicki erhielt die Kosten für die achttägige Kreuzfahrt plus Flüge erstattet. Der Artikel stellt die Frage, ob Kubickis Redeauftritt mit dem Abgeordnetengesetz vereinbar ist, da bezahlte Vorträge zu mandatsbezogenen Themen eigentlich verboten sind. Kubicki argumentiert, er sei als Buchautor eingeladen worden. Die Bundestagsverwaltung soll den Fall prüfen. Zudem wird die Frage nach der Angemessenheit der Kostenübernahme für die Luxus-Kreuzfahrt und die Beteiligung von Kubickis Frau aufgeworfen. Der Artikel betont, dass Kubicki das Vertrauen in die Integrität des Bundestags erschüttert habe und Transparenz zeigen sollte. , Lobbycontrol)

Ein ZDF-Bericht enthüllt, dass Gerda Hofmann, eine leitende Beamtin des Bundesfinanzministeriums, auf Veranstaltungen für Steuervermeidung spricht, um Hochvermögenden zu helfen. Dieser Vortrag war nur einer von vielen, den sie seit 2009 regelmäßig abhielt. Hofmann tritt auf Informationsveranstaltungen und Seminaren zu Steuerthemen auf, auch vor Vermögensverwaltern von Superreichen. Ein Beispiel ist ihre Teilnahme an der Jahrestagung "Betreuung privater Vermögen 2014". Die Recherchen zeigen, dass sie bei vielen dieser Veranstaltungen "nicht in dienstlicher Eigenschaft" spricht. Das Bundesbeamtengesetz erlaubt Beamten des Bundes Nebentätigkeiten, solange sie nicht zu viel Zeit beanspruchen. Hofmann darf bis zu etwa 40.000 Euro zusätzlich pro Jahr verdienen. Die Enthüllung wirft die Frage auf, welche Verhaltensregeln für Staatsdiener gelten sollten. Der Fall wird im Finanzausschuss des Bundestags behandelt, und es werden mögliche dienstrechtliche Konsequenzen geprüft. Lobbycontrol fordert schärfere Regeln für Ministerialbeamte, um Interessenkonflikte zu verhindern. (Oliver Klein/Jan Schneider, ZDF)

Siehe zu dem Thema auch den Spiegel. Grundsätzlich sind Nebenerwerbe für Parlamentarier*innen ja nicht so das Problem. Kubicki hat meines Wissens nach eine Anwaltskanzlei, natürlich nimmt der weiter Aufträge an, und dass Leute ihn engagieren um seine Connections und Einfluss zu nutzen ist sonnenklar. Stressig finde ich das Ganze eigentlich eher aus der umgekehrten Richtung: Leute wie Kubicki (mir fiele beispielsweise auch noch Gauweiler oder seinerzeit Wolfgang Clement ein) betreiben das Abgeordnenamt eher als Hobby. Man wird den Eindruck nicht los, dass sie das Parlament quasi als Werbeplattform für ihr persönliches Branding nutzen.

Viel stressiger finde ich die Geschichte mit den Beamt*innen aus dem Finanzministerium. Mir ist völlig unklar, wieso das legal ist. Für Wald-und-Wiesenbeamt*innen gelten geradezu absurd harte Regeln (ich darf kein Geschenk annehmen, das teurer als 10€ ist!), während die zehntausende jährlich zum Schaden des Staates nebenbei erwirtschaften. Was soll das denn?! Die Leute sind Beamte, weil der Staat sie versorgt, und dafür haben sie eine besondere Dienst- und Treuepflicht.

Auffällig ist übrigens auch die mediale Schlagseite. Die ÖRR werden ja gerne für ihre Einseitigkeit kritisiert, aber es ist auffällig, dass die Berichte über DIESE Korruption aus FDP-Kreisen es nicht auf den Titel der BILD schaffen. Mir ist unklar, warum das weniger schlimm sein soll als den Schwager einzustellen. Deswegen sage ich immer wieder, dass unser Mediensystem eigentlich im Aggregat ganz gut funktioniert.

5) USA bilden Militärkoalition gegen Huthi-Angriffe im Roten Meer

Die USA verstärken ihre Zusammenarbeit mit anderen Ländern im Roten Meer, um Handelsschiffe vor den Angriffen der vom Iran unterstützten Huthi-Rebellen zu schützen. Die Sicherheitsinitiative "Operation Prosperity Guardian" umfasst Länder wie das Vereinigte Königreich, Bahrain, Kanada, Frankreich, Italien, die Niederlande, Norwegen, die Seychellen und Spanien. Ziel ist eine verbesserte Kooperation zwischen den Seestreitkräften, um die Sicherheit von Handelsschiffen zu gewährleisten. Gleichzeitig berichtet das US-Militär von erneuten Angriffen der Huthi-Rebellen auf zwei Schiffe im südlichen Roten Meer. Die Rebellen attackieren Schiffe, um sie an der Durchfahrt nach Israel zu hindern. US-Verteidigungsminister Lloyd Austin betonte die Bedeutung einer internationalen Zusammenarbeit, um die freie Schifffahrt zu gewährleisten und die Huthi-Angriffe zu stoppen. Etwa zehn Prozent des Welt­han­dels verlaufen durch das Rote Meer. (FAZ)

Die Geschehnisse im Roten Meer sind ein tolles Beispiel einerseits für die Abhängigkeit der Bundesrepublik von ihren großen NATO-Partnern und andererseits für das Collective-Action-Problem. Als "Exportweltmeister" und unzweifelhaft hochgradig vom Welthandel abhängige Nation können wir selbst elementarste Grundbedingungen des freien Welthandels nicht (mit-)garantieren. Wir sind auf dem Feld letztlich Trittbretfahrer und profitieren von dem Gemeinschaftsgut "Freiheit der Meere", das vorrangig die USA bereitstellen. Wir haben in letzter Zeit immer wieder das Südchinesische Meer als Paradebeispiel, wo genau das in Frage steht und die Bundesrepublik nicht auch nur das geringste tun kann; mit dem Roten Meer kommt nun noch ein zweites Feld hinzu.

Resterampe

a) Ich bin sicher, Stefan Pietsch ist ob dieser Kriminalität zutiefst empört und fordert härteste Strafen.

b) Die Schuldenbremse als "permanentes Misstrauensvotum". Ariane und ich argumentieren ja schon lange in die Richtung, dass die demokrateiverachtend ist.

c) Andreas Püttmann kritisiert das neue CDU-Programm. Ein positiver Artikel hier in der Welt. Ein weiterer Verriss in der ZEIT.

d)

e) Dieser Bericht über jemand von der Letzten Generation enthält meinen absoluten Favoriten: „Warum gehst Du nicht in die Politik?“, fragte ich. An den Grünen könne man sehen, wie Macht korrumpiere: „Und bis ich gewählt werde“, sagte sie, „ist es schon zu spät“. Diese Haltung finde ich so zum Kotzen.

f) Auch das im Übrigen haben Ariane und ich prophezeit.

g) Selbst Lindner wackelt: er will "kleine Reform" der Schuldenbremse. Nur noch Demokratiefeinde, wohin man auch schaut...

h) Kritik am BVerfG-Urteil von Mark Schieritz. Auf der einen Seite teile ich die inhaltliche Kritik durchaus, auf der anderen Seite bleibe ich dabei, dass die Schuld bei der Politik liegt.

i) Was in Jura-Lehrbüchern abgeht ist teils schon echt krass.

j) Klimaterrorismus ist da. Allerdings von rechts.

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