Donnerstag, 29. Februar 2024

Christian Lindner führt Faktenchecks gegen Gewalt in der Klimakrise durch, um das SPD-Parteiprogramm zu retten - Vermischtes 29.02.2024

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Fundstücke

1) Das Zeitalter der bösen Überraschungen

Die Klimakrise ist durch zwei wesentliche Entwicklungen greifbar geworden: Erstens, die globale Durchschnittstemperatur lag erstmals für ein ganzes Jahr über dem kritischen Wert von 1,5 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau, ein Schlüsselziel des Pariser Klimaabkommens. Zweitens deutet eine Studie darauf hin, dass ein Zusammenbruch der großräumigen Meeresströmungen im Atlantik, einschließlich des Golfstroms, bevorstehen könnte, was drastische Klimaveränderungen in Europa zur Folge hätte. Diese Entdeckungen sind alarmierend, vor allem angesichts der Häufung extremer Wetterereignisse im Jahr 2023 und der Rekorderwärmung der Weltmeere. Die möglichen zusätzlichen Antriebe der globalen Temperaturerhöhung und die Bedrohung durch den Kollaps der Nordatlantischen Zirkulation (AMOC) signalisieren eine dringende Notwendigkeit für politisches Handeln und unterstreichen die unmittelbare und ernsthafte Bedrohung durch die Klimakrise. (Lars Fischer, Spektrum)

Das ist für mich einer der Gründe, warum der Vorwurf der "Hysterie" seitens der Gegner von Klimaschutzmaßnahmen nicht trägt. Die Szenarien der Konsequenzen eines Verfehlens des 1,5-Grad-Ziels sind mit großer Unsicherheit behaftet, aber diese Unsicherheit geht in beide Richtungen. Es kann sein, dass wir weniger schlimme Folgen zu spüren bekommen werden - es kann aber auch sein, dass es wesentlich schlimmer wird. Die Kaskadeneffekte einerseits und die ständige Veränderung der komplexen Variablen durch den Klimawandel selbst andererseits belasten das Ganze mit einer riesigen Unsicherheit. Es ist aber gerade diese Unsicherheit, die es völlig unverantwortlich macht, nicht gegen die Klimakrise vorzugehen.

2) Schluss mit Faktenchecks

Der Artikel fordert einen radikalen Wandel im Umgang mit der rechtsextremen AfD und im journalistischen Selbstverständnis angesichts deren steigender Beliebtheit, besonders in Ostdeutschland. Der Autor kritisiert die ineffektive Reaktion der deutschen Medien und Zivilgesellschaft auf die AfD, die oft als eine direkte Gefahr für die Demokratie dargestellt wird, und schlägt vor, neue Strategien zu entwickeln, um die Verbreitung extremistischen Gedankenguts einzudämmen. Es wird betont, dass ein einfaches Verbot der AfD das Problem nicht lösen würde. Stattdessen sollten Faktenchecks und emotionale Ansprachen genutzt werden, um die Bevölkerung wirksamer zu erreichen. Der Artikel kritisiert auch die Praxis, der AfD Plattformen in Talkshows zu bieten, und appelliert an die Medien, nicht auf reißerische Schlagzeilen zu reagieren und stattdessen proaktiv für die Wahrheit zu werben. Die Dringlichkeit eines Umdenkens wird hervorgehoben, um die demokratischen Werte vor den Landtagswahlen 2024 zu verteidigen. (Thomas Laschyk, taz)

Zu Laschyks Thesen siehe auch hier. Mich überrascht das überhaupt nicht. Spätestens seit 2016 ist offenkundig, dass Faktenchecks - die ihre Hochzeit in der Obama-Ära erlebt haben - keinerlei nützliche Effekte haben. Ich predige das auch immer meinen Schüler*innen, wenn wir in Deutsch Erörtern und Argumentieren: Fakten sind irrelevant und überzeugen niemanden. Das liegt nicht daran, dass Fakten per se schlecht wären, sondern dass wir sie einerseits sehr selektiv wahrnehmen und andererseits völlig unterschiedlich interpretieren. Zuletzt steht oft genug auch der Bezug zum eigenen Erleben in Frage. Was nützt etwa das Fakt der BIP-Entwicklung oder des Fallens der Energiepreise, wenn das eigene Empfinden und der Diskurs der Umwelt in die entgegengesetzte Richtung laufen? Was nützen Fakten zur Integration von Zugewanderten, wenn man die Leute einfach nicht dahaben will? Was nützen Fakten zur Kriminalitätsrate junger Zugewanderter, wenn man die Debatte für grundlegend rassistisch hält? Man sieht auch an den "Faktenchecks" selbst, wie hoffnungslos diese im Sumpf der Meinungen und Interpretationen untergehen. Oft genug versuchen die Faktencheckenden, irgendetwas zu finden, um ihre Objektivität zu belegen, was dann zu dem Eindruck führt, dass alle die Unwahrheit sagen (erneut, die Obama-Ära verglichen mit Trump sagt einem dazu alles, was man wissen muss).

3) Die Tragik des Christian Lindner

Die FDP unter Christian Lindner erlebt einen dramatischen Niedergang in der Wählergunst, bedingt durch die Zugehörigkeit zu einer unbeliebten Ampel-Koalition und internen Spannungen. Seit ihrem Regierungseintritt hat die Partei in Umfragen und Wahlen erheblich an Stimmen verloren, zuletzt in Berlin mit nur knapp über drei Prozent. Bundesweit liegt die FDP in Umfragen unter der Fünf-Prozent-Hürde, was ihr den Wiedereinzug in den Bundestag gefährden könnte. Dies stellt eine bedeutende Herausforderung für Lindner dar, der die Partei einst nach einem Ausscheiden aus dem Parlament 2013 erfolgreich wiederbelebt hatte. Trotz Bemühungen, eigene Themen wie das Heizungsgesetz und das Lieferkettengesetz zu setzen, findet die FDP bei den Wählern keine Anerkennung für ihre politische Arbeit. Ihre Oppositionsrolle innerhalb der Regierung und die kulturelle Distanz zu den Koalitionspartnern, insbesondere den Grünen, verschärfen die Krise. Die Liberalen sehen sich in einem Dilemma: Sie sind Teil der Regierung, nehmen aber gleichzeitig eine oppositionelle Haltung ein, was die Partei in eine Zwickmühle bringt und ihre Glaubwürdigkeit untergräbt. Für die FDP gibt es derzeit keine einfache Lösung aus dieser Situation. Ein Austritt aus der Koalition wäre riskant und könnte der AfD in die Hände spielen. Lindner und die FDP stehen vor der Aufgabe, den aktuellen Trend umzukehren und auf eine positive Entwicklung zu hoffen, die die Partei aus ihrer misslichen Lage befreit. (Severin Weiland, Spiegel)

Ich halte die Analyse, dass die FDP gleichzeitig Regierung und Opposition sein will, für Spot-On. Aber ich bezweifle, dass das nur an den Bündnispartnern liegt (wenngleich das offensichtlich auch eine Rolle spielt). Denn die FDP hatte das exakt gleiche Problem auch 2009 bis 2013. Und da hat sie mit ihren bürgerlichen Wunschpartnern koaliert. Das Problem ist tatsächlich kulturell. Die Partei ist nicht bereit für die Kompromisse der Regierungsarbeit. Man sollte auch vorsichtig mit allen Erklärungen sein, die SPD und Grüne nicht bedenken. Es ist ja nicht eben so, als wäre die FDP für die beiden eine Liebesheirat. Warum aber schlucken die Grünen die Kröte und die FDP nicht? Und warum ignorieren diese Analysen völlig beharrlich einerseits, dass die SPD auch massiv Stimmen verloren hat, und andererseits, dass die Partei trotzdem geschlossen hinter Koalition und Kanzler steht? Mir scheint da eine gewisse Realitätsverweigerung reinzuspielen.

4) Die Grünen, ein Hort der Stabilität und Vernunft

Der Artikel thematisiert die schwierige Lage der Grünen in der aktuellen politischen Landschaft Deutschlands, konfrontiert mit einer Welle von Aggressionen und absurd erscheinenden Vorwürfen. Sie werden für verschiedenste gesellschaftliche und politische Missstände verantwortlich gemacht, von der Erfindung des Klimawandels bis hin zu dem Versuch, die deutsche Sprache und Kultur grundlegend zu verändern. Diese Vorwürfe spiegeln eine zunehmende Feindseligkeit wider, die sich nicht nur in der digitalen Welt abspielt, sondern auch in physischen Auseinandersetzungen und Angriffen auf Grünen-Politiker manifestiert. Die Grünen, einst als progressiver und umweltbewusster Akteur in der deutschen Politik gefeiert, sehen sich nun als Hauptziel von Hass und Hetze. Diese Entwicklung wird als besorgniserregend dargestellt, insbesondere im Hinblick auf die Bedrohung der demokratischen Diskussionskultur. Der Artikel hebt hervor, dass die Grünen trotz ihrer teils utopischen Vorstellungen und Fehler in der Vergangenheit eine Partei sind, die lernfähig ist und sich den realpolitischen Gegebenheiten anzupassen vermag. Ihre Bereitschaft, frühere Positionen zu überdenken und sich neuen Herausforderungen zu stellen, wie beispielsweise in der Außen- und Sicherheitspolitik nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine, wird als Zeichen ihrer politischen Reife und Verantwortung interpretiert. Im Kontrast dazu wird die AfD als Partei beschrieben, die grundlegende Werte und Vereinbarungen der deutschen Republik in Frage stellt. Der Artikel argumentiert, dass die Grünen, trotz aller Kritik und Herausforderungen, als eine stabilisierende und vernünftige Kraft in der deutschen Politik gesehen werden können, insbesondere im Vergleich zu den disruptiven und demokratiefeindlichen Tendenzen anderer politischer Kräfte. (Claus Christian Malzahn, Welt)

Es ist gut, dass gerade in der Welt ein solcher Artikel erscheint, denn das darf durchaus einmal gesagt werden. Bei aller Beknacktheit vieler Grünen-Positionen kann man zumindest der Führungsspitze kaum absprechen, aus Verantwortungsgefühl einerseits zu handeln und andererseits mit bemerkenswerter Nonchalance grüne Kernpositionen zu ignorieren. Das gilt natürlich nicht für alle Bereiche - ich darf etwa an die Laufzeitverlängerung der drei Kernkraftwerke erinnern oder die jetztige Obstinenz in der Migrationsdebatte -, aber insgesamt geht die Partei überraschend geräuschlos zentrale Kompromisse ein, eine Geräuschlosigkeit, die in markantem Kontrast zu der ständigen Blockadehaltung der FDP steht (siehe Fundstück 4).

Ich will die Gelegenheit auch nutzen, die aktuelle Gewalt gegen die Partei zu thematisieren. Zwar ist auch die SPD Opfer der zunehmenden rechten Gewalt, aber hauptsächlich richtet sich diese gegen die Grünen. Die Rolle der überbordenen Anti-Grünen-Rhetorik gerade seitens demokratischer Parteien dürfte dabei keine unwesentliche Rolle spielen. Wenig überraschend ist Thüringen ein Epizentrum dieser massiven Zunahme an Gewalt, die viel zu wenig thematisiert wird. Hier wäre dringend ein Schulterschluss aller demokratischer Parteien geboten. Die maßlose Rhetorik gießt jedenfalls Öl ins Feuer.

5) Der Weg ins Unheil für die Sozialdemokratie

Olaf Scholz verfolgte als Finanzminister das Ziel, das Vorurteil zu widerlegen, die SPD könne nicht mit Geld umgehen. Mit einer Politik der Finanzsolidität wollte er das Vertrauen in die Sozialdemokratie stärken. Als Bundeskanzler kehrte Scholz zu einer Politik der "milden sozialdemokratischen Selbstverleugnung" zurück, trotz rhetorischer Bezüge auf eine mutige Investitionspolitik. Die FDP setzte sich mit ihrer Interpretation des Ukraine-Kriegs als "Rückkehr zur Normalität" durch, was zu einem der schärfsten Sparkurse seit Jahren führte. Ökonomen und internationale Medien kritisierten diese Politik als wirtschaftspolitisch unklug, und es scheint unwahrscheinlich, dass diese Strategie der SPD langfristig bei Wahlen nützen wird. Eine Studie zeigt, dass Sozialdemokraten durch konservative Finanzpolitik nicht bei konservativen Wählern gewinnen und ihre Kernwählerschaft demobilisieren. "Austerität von links" schadet den Wahlaussichten von Sozialdemokraten und wird bei Wahlen wahrscheinlich bestraft. Die SPD befindet sich in einer strategischen Krise, die sich auch im nächsten Wahlkampf fortsetzen dürfte. In Großbritannien hat Labour trotz eines Umfragevorsprungs keine klare Reformagenda, aus Furcht, Wähler zu verlieren. Ein führender liberaler Journalist kritisiert diese Zurückhaltung und fordert eine radikalere Politik für öffentliche Investitionen und die Reduzierung regionaler Ungleichheit. Wenn Liberale Sozialdemokraten daran erinnern müssen, was linke Politik bedeutet, steht es schlecht um die Sozialdemokratie. (Robert Pausch, ZEIT)

Ich stimme Pauschs Kritik natürlich inhaltlich erst einmal zu; ob sich darin der eine große Grund für den Niedergang der SPD in den Umfragen finden lässt, weiß ich allerdings nicht. Es ist ja beinahe schon nostalgisch-schön, endlich mal wieder einen "die SPD geht kaputt weil sie nicht meine Politik umsetzt"-Artikel zu lesen, die Dinger sind in den letzten Jahren über die ganzen "die AfD ist stark, weil meine Politikpräferenzen nicht umgesetzt werden"-Artikel etwas außer Mode geraten. Ich gebe Pausch völlig Recht damit, dass die SPD wenig mit konservativer Finanzpolitik gewinnen kann. Ich sage das seit vielen Jahren.

Resterampe

a) Jepp.

b) Jeez.

c) "Früher war besser" stimmt einfach nie, sondern ist Nostalgie, jedes einzelne Mal.

d) Biberach und die Grünen: »Das war der Moment, an dem es wirklich, wirklich brenzlig war«. Wer Hass sät, wird Hass ernten. Das kriegt man davon, wenn man Feindbilder schafft. Die AfD hat wenigstens die Ausrede, dass sie das will. Wie sieht es bei der CDU? Siehe auch bei der Welt.

e) Özdemirs Tierschutzgesetz kommt zur richtigen Zeit. Eine Kolumne in der Welt (!).

f) Nato: Mehrheit der Bevölkerung unterstützt 2-Prozent-Ziel. Ach Leute, solche Umfragen sind völlig wumpe, wie oft muss man das noch durchbuchstabieren? Fragt die Leute, was sie bereit sind, für das 2%-Ziel aufzugeben. Dann reden wir weiter.

g) Es ist Zeit für eine enge deutsch-polnische Kooperation. Unbedingt, aber das ist angesichts der polnischen Idiosynkratien nicht eben leicht.

h) The Bait and Switch of Amazon Prime Video Pretending Its Movies Are Free. Enshittification is real.

i) Das Verkehrsministerium scheint echt ein ganz schön korrupter Laden zu sein, und wie so oft geht das lange zurück - auf die Union. Aber das ist auch so eine Magie mit dieser Partei: an der bleibt so was nicht hängen, an der FDP dagegen schon. Eine der vielen Unfairheiten des politischen Spiels.

j) Not everything is racist. Jepp. In dem Zusammenhang instruktiv: Republicans and racism.

k) Does deterrence work?

l) Doch schneller: Schopper spricht sich für G9-Rückkehr zum übernächsten Schuljahr aus. Called it :)

m) Studie: Die meisten Lehrkräfte nutzen ihren Dienst-Laptop kaum – weil die Schul-IT nicht vernünftig funktioniert. Leider hat das auch andere Gründe. Aber das Nicht-Funktionieren ist natürlich ein wichtiger.

n) Christian Lindner: FDP-Chef gegen Erhöhung der Verteidigungsausgaben. Ist halt alles Zahlenmassage. Klar haben wir aktuell dank Sondervermögen das 2%-Ziel erreicht, aber Lindner weiß natürlich so gut wie alle anderen, dass das perspektivisch nichts hilft. Aber da eine arbiträre Zahl eingehalten werden muss (plus eine weitere mit den 2%), ist die Zahl das wichtige, nicht die Substanz dahinter.

o) Auditing the rich really pays off. Schau mal, man braucht gar keine Steuererhöhungen wenn man die richtig eintreibt, die technisch gesehen gezahlt werden müssten. Ich wette, dann könnte man sogar senken.

p) Leistungsfähige Sozialsysteme brauchen eine starke Wirtschaft – und umgekehrt.

q) Mobbing bleibt ein Riesenproblem.

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