Freitag, 9. Februar 2024

Oral History: Corona, Teil 2

 

Einer der faszinierenden (und ehrlich gesagt auch milde erschreckenden) Bestandteile des Älterwerdens ist die Feststellung, dass der eigene Referenzrahmen von einer jüngeren Generation nicht mehr geteilt wird und diese bei zunehmend mehr Aspekten nicht mehr weiß, wovon man eigentlich spricht. Meine Elterngeneration (spätestens) dürfte ein Leben ohne Elektrizität und fließend Wasser nicht nachvollzogen haben können, während ich selbst mir nicht vorstellen konnte, dass es einmal Familien ohne Farbfernseher gab. Ich habe mich deswegen entschlossen, diese unregelmäßige Artikelserie zu beginnen und über Dinge zu schreiben, die sich in den letzten etwa zehn Jahren radikal geändert haben. Das ist notwendig subjektiv und wird sicher ein bisschen den Tonfall „Opa erzählt vom Krieg“ annehmen, aber ich hoffe, dass es trotzdem interessant ist. Als Referenz: ich bin Jahrgang 1984, und meine prägenden Jahre sind die 1990er und frühen 2000er. Was das bedeutet, werden wir in dieser Serie erkunden. In dieser Folge geht es um die Corona-Pandemie 2020-2023, die einem kollektiven Verdrängungsprozess zum Opfer zu fallen scheint. In dieser Folge betrachten wir Zeit ab dem Herbst 2020. Folge 1 hier

Als dann die Fallzahlen im September wieder wie prognostiziert anstiegen, fanden wieder Schließungen statt. Dieses Mal aber waren sie weit weniger strikt als im Frühjahr, was natürlich niemanden davon abhielt davon zu reden, dass man "wieder in den Lockdown" gehe. Die Schulen schlossen wieder, öffneten dann, schlossen wieder, ohne System, ohne Rhythmus. Die Entscheidungen wurden von den Landkreisen einzeln getroffen, Kriterien im Tagestakt aufgestellt und wieder verworfen, während die Politik den Entwicklungen einerseits und dem sich wandelnden wissenschaftlichen Forschungsstand andererseits hinterherrannte. Das Ergebnis war ein überall greifbarer Vertrauensverlust und eine Erschöpfung mit den Maßnahmen. Noch überwog ersteres; die Querdenker dominierten noch nicht.

Die Debatte war aber mittlerweile von einem Modus des Berichtens über und Unterstützens von Maßnahmen zu einem "Für oder Wider" gewandelt. Abgesehen von Wissenschaftler*innen wie Drosten, die ein zunehmend hoffnungsloses Rückzugsgefecht für wissenschaftliche Betrachtungen führten, setzte ein allgemeines Cherry-Picking ein. Andere Länder mussten für den Beleg der eigenen Position herhalten, ohne dass die dortigen Umstände sonderlich bekannt wären. Man denke nur an die Dauerdebatte zu Schweden, das zu einer Chiffre der Querdenker wurde (und von dem wir bis heute nicht wirklich wissen, ob der Ansatz besser oder schlechter war oder woraus er eigentlich bestand, siehe etwa hier und hier).

Inzwischen waren auch FFP2-Masken weithin verfügbar. Es war grundsätzlich bekannt, wie sich die Infektion verbreitete und welche Maßnahmen dagegen halfen. Dass Masken nicht überragend vor einer Ansteckung schützten, aber das Risiko wesentlich senkten, eine Infektion weiterzugeben, war das erste allgemeine Versagen der gesellschaftlichen Wissenstransfusion. Es ging nicht in die Köpfe der Leute. Masken nicht zu tragen wurde als persönliche Entscheidung betrachtet, wie das Anlegen eines Sicherheitsgurts, und nicht als eine Verantwortung gegenüber den Mitmenschen. Dieser Trend, die Pandemie zu individualisieren und dem blanken Egoismus Vorschub zu leisten, sollte zu einem bestimmenden Merkmal der Pandemie werden.

Auch das Lüften war ein wunder Punkt. An und für sich wurde schnell klar, dass Lüftungssysteme den besten Schutz boten. Nur besaß kaum ein öffentliches Gebäude diese, und auch in vielen Firmen waren sie nicht verbreitet. Besonders auffällig war dies einmal mehr in den Schulen: nirgendwo sonst sitzen so viele Menschen auf so engem Raum in so schlecht belüfteten Räumen. Die Reaktion der Landesregierungen war, zu ständigem Lüften zu ermahnen: alle 10 Minuten sollte gelüftet werden. Im Winter bei stundenlangem Sitzen eine groteske Zumutung. Wenig überraschend wurden solche an und für sich sinnvollen Maßnahmen wenn nur widerstrebend umgesetzt.

In dieser Zeit begann auch der Trend, sich ärztliche Atteste geben zu lassen, keine Maske tragen zu müssen. Viel zu viele Ärzt*innen gaben diese Bescheinigungen freigiebig heraus, manche sogar aus ideologischen Motiven. Zahlreiche Menschen nutzten das medizinische Argument als transparente Ausrede für ihren verantwortungslosen Egoismus und untergruben damit weiter das Vertrauen in die Wirksamkeit der Maßnahmen, die stattdessen immer mehr zu einem identitätspolitischen Marker wurden: das ostentative Nicht-Tragen oder Falsch-Tragen der Maske wurde en vogue.

Unterstützt wurde das durch das zweite große Wissenstransfusionsversagen: Masken unter der Nase zu tragen war ein verbreiteter Anblick und machte die Übung völlig sinnlos. Dieses falsche Tragen war weit verbreitet und nicht totzukriegen. Die Gesellschaft versagte auch völlig darin, einen Konsens darin zu finden, dass dieses Falschtragen verwerflich war, weil das grundsätzliche Missverständnis nicht zu beseitigen war, dass es sich dabei um eine rein persönliche Entscheidung handle.

Inzwischen war auch ein zuverlässiger Corona-Test in Massenproduktion gegangen. Waren im Sommer die Tests noch aufwändig und teuer und auf wenige Testzentren beschränkt, wurden die Tests nun weithin verfügbar. Durch eine massive Überbezahlung wurde es zu einem einträglichen Geschäftsmodell, Tests anzubieten, und überall schossen die Teststationen aus dem Boden. Die Verbreitung von Tests in Supermärkten würde dem 2021 ein langsames Ende bereiten, aber Jens Spahn schaufelte zig Millionen an Subventionen für diese improvisierten Teststationen in den Wirtschaftskreislauf (und verdiente nebenbei an Masken, wie auch andere CDU-Abgeordnete, was dem Vertrauen nicht eben weiterhalf).

Der Herbst 2020 war aber auch aus anderen Gründen frustrierend. Um einen "Lockdown" wie im Frühjahr zu vermeiden und den Bedenken wegen des Föderalismus und exekutiver Machtüberschreitung entgegenzukommen, wurde so viel Entscheidungsmacht wie möglich so weit nach unten wie möglich verlagert. Grenzwerte wurden festgelegt und permanent angepasst, vor allem auf Basis politischer, nicht virologischer Überlegungen. Schulen wurden im einen Landkreis geschlossen und im anderen nicht. Im einen Landkreis gab es eine Testapp, die aber nur in diesem Landkreis akzeptiert wurde (dafür aber einen zweistelligen Millionenbetrag kostete). Zunehmend machte sich Müdigkeit über die Maßnahmen breit, wurden die Konflikte schärfer. Wer die Maßnahmen als rein private, eigenverantwortliche Handlungen begriff, glitt immer mehr ins Lager der Maßnahmengegner*innen ab; die Radikalversion davon waren die Corona-Leugner*innen, die immer mehr Zulauf erhielten und die Gefahr der Pandemie komplett abstritten. Die Einigkeit der Bevölkerung aus dem Frühjahr 2020, als der Lockdown und die Maßnahmen von allen getragen wurden, evaporierte.

Doch es gab auch gute Nachrichten. Im Frühjahr 2021 wurde bekannt, dass ein Impfstoff entwickelt worden war. Dieses Wunder ist bis heute nicht hinreichend anerkannt. Die drastisch beschleunigten Zulassungsprozesse und die Unterstützung der Forschungslabore stellen ein Musterbeispiel der Zusammenarbeit von Staat und freier Wirtschaft dar. Die Impfstoffe gingen zuerst an medizinisches Personal und ältere Menschen in Risikogruppen, wurden aber schnell auf Gruppen ausgeweitet, die ebenfalls ein hohes Risiko trugen - dazu gehörten auch Lehrkräfte, weswegen ich schnell eine grundsätzliche Berechtigung hatte. Das Erhalten eines Impftermins stellte eine größere Operation dar: man musste eine Hotline anrufen, die permanent besetzt war, und erhielt dann (mit Glück und Berechtigungsnachweis) einen Impftermin in einem der neuen Impfzentren.

In unserem Fall wurde das in der örtlichen Sporthalle aufgebaut. Der Aufbau dieser Impfzentren war ein weiteres Beispiel überraschender staatlicher Leistungsfähigkeit (die während der Pandemie so oft Seite an Seite mit Komplettversagen lag). Es gab ein Leitsystem, gut geschultes Personal, einen klaren und eng getakteten, funktionierenden Zeitplan, Informationen und Einverständniserklärungen - der ganze Prozess ist ein herausragendes Beispiel dafür, wie staatliches Handeln in einer Krise funktionieren muss. Perfekt war er natürlich nicht, aber den Umständen entsprechend - und auch im internationalen Vergleich - war es doch erstaunlich.

Frühjahr und Sommer 2021 folgten abgesehen von dem Roll-Out der Impfungen, die - wesentlich schneller als alle Prognosen es vorhergesehen hatten - demselben Schema wie der 2020. Die Inzidenzen nahmen ab, die Pandemie rückte in den Hintergrund. Die bekannten Dynamiken waren nun vertraut, was das allgemeine Gefühl der Erschöpfung weiter verstärkte. Die Konflikte um das richtige Tragen von Masken und das Ausmaß gegenseitiger Rücksichtsnahme nahmen an Schärfe zu und fanden endgültig ihren Weg in die Politik, wo sie zwar weitgehend entlang parteipolitischer Grenzen verliefen (die FDP versuchte sich teilweise als Anti-Corona-Partei zu profilieren, verlor aber vorhersagbar gegen die Populisten-Partei AfD scheitern musste, während die Grünen die Maßnahmen am stärksten unterstützten, obwohl sie nicht einmal an der Regierung waren), aber letztlich keinen Niederschlag in Parteiprogrammen fanden. Der je nach persönlicher Wertung pragmatische oder chaotische Ansatz der Regierung zu den Maßnahmen verhinderte im Guten wie im Schlechten jede Konsistenz.

Die Frage, wie lange die Pandemie dauern würde, wurde immer drängender. Die allgemeine Erschöpfung bedeutete, dass sie gefühlt zu Ende sein musste; die Impfungen schienen zudem zu bedeuten, dass das Ende in Sicht war. Die Warnungen etwa Christian Drostens, dass dies ein gefährlicher Irrtum war, drangen erstmals nicht durch. Auch in den Medien wurde das kaum mehr rezipiert; der kurze Frühling der Expert*innen machte wieder den gefühlten Wirklichkeiten Platz. Es würde einen weiteren Infektionsherbst geben - während gleichzeitig Politik, Medien und Öffentlichkeit in seltener Einigkeit erklärten, dass es keinesfalls zu irgendwelchen Schließungen von irgendetwas kommen würde.

Das passte zur rapiden Politisierung der Impfungen. 2021 war das Jahr der "Querdenker", die in zahlreichen Demonstrationen den Eindruck einer Massenbewegung zu erwecken versuchten, was angesichts der Heterogenität der Bewegung auch ein Einfallstor für die AfD bot, der es recht erfolgreich gelang (erfolgreicher jedenfalls als bei vergleichbaren Protesten wie denen der Landwirte 2023/24), sich an die Querdenker anzudocken. Die Impfquoten blieben deutlich unter den Erwartungen und reichten nicht aus, um der Pandemie den Garaus zu machen. Sie garantierten praktisch eine Fortsetzung der Krankheit über 2021 hinaus.

In der Debatte um die Impfungen wiederholten sich die Fehler des Vorjahres: sie wurden als rein individuelle Entscheidung geframed, nicht als Schutzmaßnahme für andere. Es wurde zu einer identitätspolitischen Frage, ob man an Impfungen glaubte oder nicht; die Politik verdrehte sich in Knoten, um den Impfgegner*innen entgegenzukommen (die gleichwohl in hysterischen Tönen vor der Impfdiktatur warnten). Dabei waren Personen unter 18 Jahren noch weitgehend von den Impfungen ausgeschlossen und die Risikogruppen immer noch genau das - Risikogruppen. Aber Empathie und Rücksichtnahme waren weitgehend erschöpft. Die Appelle verhallten ungehört.

Weiter geht es in Teil 3.

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