Dienstag, 7. Januar 2025

Mangelndes Selbstvertrauen sorgt für den Verzicht auf Abtreibungen bei verzwergten Migrant*innen - Vermischtes 07.02.2025

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Fundstücke

1) Wir sollten die Verzichts-Ideologie an deutschen Schulen stoppen

Der Artikel thematisiert die einseitige Darstellung von Natur, Klimawandel und technologischem Fortschritt in Schulbüchern und Bildungseinrichtungen. Kinder lernen oft, dass menschliche Eingriffe in die Natur negativ sind, während die positiven Auswirkungen des technologischen Fortschritts vernachlässigt werden. Beispiele dafür sind die stark gesunkene Kindersterblichkeit und die erhöhte Nahrungsmittelproduktion durch industrielle Landwirtschaft. In Schulen werden jedoch Verzicht und Einschränkungen betont, etwa durch Klimaschutzpläne, die Heizungen drosseln und Fleischgerichte verbannen. Lehrer und Materialien fördern eine wachstumskritische Perspektive, oft gestützt durch Umweltorganisationen. Unternehmerisches Denken oder ökonomische Zusammenhänge kommen selten vor. Dies spiegle sich in der sinkenden Gründerquote und einem wachsenden staatlichen Sektor wider. Der Artikel fordert neue Lehrpläne, die technologische Erfolge und wirtschaftliche Möglichkeiten stärker beleuchten. Nur so könne die junge Generation zu Wohlstand und Innovation beitragen, statt in einem Narrativ von Verzicht und Untergang zu verharren. (Axel Bojanowski, Welt)

Ein Beitrag im Collagestil. Ein einzelner Satz von der Homepage eines einzelnen Gymnasiums. Geraune eines Aktivisten. Einzelne Kinderbücher. Der neue Disneyfilm (der übrigens keine Neuauflage, sondern ein Prequel ist, aber für diesen Artikel war offensichtlich selbst das zu viel Recherche und Präzision). Gerede vom Inhalt von "Schulbüchern über den Klimawandel" ohne Nennung irgendeines - kein Wunder, schließlich ist "Klimawandel" kein Fach, weswegen es schwer sein wird, Schulbücher dazu zu finden. Kurz: Bojanowski wollte eine harsche Kritik schreiben und hat so viele Beispiele im Internet gesucht (oder  einfach frei erfunden), bis die nötige Artikellänge erreicht war. Es ist auch faktisch schlicht inkorrekt. Nichts von dem findet sich in Lehrplänen oder regulären Schulbüchern. Lehrmaterial, das Unternehmensverbände anbieten, ist genauso zulässig wie solches, das von Umweltverbänden kommt; genutzt wird beides wenig. Wozu auch, wir haben Schulbücher, die per Komitee geschrieben sind und deswegen so wenig wie möglich anecken. Von privaten Firmen übrigens.

Diese wirre Vorstellung, die Schulen seien Propagandamaschinen, ist auf beiden Rändern lebendig. Von der Linken kenne ich die Kritik, was das Unterrichtsmaterial von Unternehmerverbänden (das gibt es nämlich!) vor allem im Wirtschaftsunterricht betrifft, oder den Besuch von Jugendoffizier*innen. Und die Rechte beklagt Auftritte von Friedensaktivist*innen oder Umweltmenschen. Ist schon mal jemand aufgefallen, dass Schüler*innen ihre Meinung nicht eben nach Unterrichtsinhalten ausrichten? Ich hätte manchmal gerne so viel Macht und Einfluss, aber letztlich bleibt es doch so, dass Schüler*innen eigenständige Menschen sind, die denken und handeln, wie sie wollen - und einen Scheiß auf das geben, was in der Schule passiert, wenn es ihren Ansichten zuwiderläuft. Ganz so, wie es in einer pluralistischen Gesellschaft sein sollte.

2) Der Paragraf 218 gehört ins Strafgesetzbuch

Der Artikel thematisiert die erneute Debatte um die Legalisierung von Abtreibungen in Deutschland und die mögliche Streichung des Paragrafen 218 aus dem Strafgesetzbuch. Ein Vorschlag von Abgeordneten der SPD und Grünen sieht vor, Abtreibungen in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen zu legalisieren, die dreitägige Wartefrist abzuschaffen, aber die Beratungspflicht beizubehalten. Kritiker argumentieren, dass der Paragraf 218 weiterhin im Strafgesetzbuch bleiben sollte, da er Abtreibungen als Eingriffe „gegen das Leben“ einordnet. Die Diskussion spiegelt den Konflikt zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Frau und dem Lebensrecht des ungeborenen Kindes wider. Die aktuelle Gesetzeslage versucht, diese beiden Rechtsgüter in einen Ausgleich zu bringen, wobei die Entscheidung letztlich der Frau überlassen wird. Die Autorin betont die Notwendigkeit, die Verantwortung der Frau anzuerkennen und das Lebensrecht des Ungeborenen nicht zu ignorieren. Sie plädiert für eine liberale, aber bewusste Regelung, die den moralischen Konflikt berücksichtigt, statt ihn zu verdrängen. (Kristina Schröder, Welt)

Ich finde es gut, dass Schröder in ihrem Artikel betont, dass es sich um ihre persönliche Werthaltung handelt und darauf pocht, dass diese anerkannt wird. Gerade ein Thema wie Schwangerschaftsabbrüche ist nun einmal stark normativ aufgeladen und erlaubt keine echten Kompromisse; ein bisschen Schwangerschaftsabbruch erlauben geht einfach nicht. Ihre Position macht auch Sinn: sieht man das ungeborene Leben als von effektiv Beginn an schützenswert, muss das natürlich ins Strafgesetzbuch. Und ich gebe Schröder auch Recht, dass die Befürworter*innen oft übers Ziel hinausschießen, indem sie den moralischen Konflikt tatsächlich verdrängen. Nichtsdestotrotz habe ich bei dem Thema eine andere Meinung, aber das hier ist wirklich ein Klassiker, bei dem einerseits um gesellschaftliche Mehrheiten gerungen werden muss und andererseits die Anerkennung des anderen Moralverständnisses und ein echtes Verständnis dafür hilfreich sein können. Nein, hilfreich sind.

3) Das mangelnde Selbstvertrauen der Demokratie

Der Artikel analysiert die Herausforderungen und Grenzen der AfD im Bundestagswahlkampf und darüber hinaus. Trotz wachsender Unterstützung wird der Partei der Zugang zu zentralen Machtpositionen wie dem Kanzleramt verwehrt bleiben, was auf die „Brandmauer“ anderer Parteien und ihre eigene Positionierung zurückzuführen ist. Die AfD habe es versäumt, sich von einer Protestpartei zu einer konstruktiven Alternative rechts der Union zu entwickeln. Kritisiert wird, dass die Parteiführung um Alice Weidel und Tino Chrupalla radikale und provokative Elemente innerhalb der Partei duldet, was ihren demokratischen Anspruch untergräbt. Dies verhindere eine breitere Akzeptanz in der politischen Mitte. Ein Vergleich mit Marine Le Pen zeigt, dass strategisches Handeln und moderater Auftritt notwendig wären, um langfristig Einfluss zu gewinnen. Der Artikel reflektiert auch die Rolle der Medien und der etablierten Parteien. Die frühzeitige Stigmatisierung der AfD als rechtsextrem habe radikale Kräfte angezogen. Zudem wird das politische Klima in Ostdeutschland thematisiert, das laut Soziologe Steffen Mau von schwachen sozialen und moralischen Strukturen geprägt sei, was populistischen Parteien wie der AfD zugutekomme. Abschließend kritisiert der Artikel die Haltung der Union und anderer Parteien, die durch konsequentes Ausgrenzen der AfD und das Eingehen von Kompromissen mit anderen extremen Gruppierungen im Osten selbst an Glaubwürdigkeit und Stabilität verlieren. Dies führe zu einer gefährlichen Polarisierung der politischen Landschaft. (Jacques Schuster, Welt)

Ich halte überhaupt nichts von der Idee, dass die Stigmatisierung der AfD als rechtsradikal die extremen Kräfte angezogen hätte. Das ist einerseits einfach nicht korrekt - der Rechtsradikalitätsdiskurs begann mit dem scharfen Rechtsschwenk der Partei ab 2015, und dafür war die Geflüchtetenkrise ursächlich, nicht irgendwelche Zuschreibungen - und infantilisiert auch die Wählenden schon wieder so krass. Weil jemand sagt, die AfD sei rechtsradikal, ziehe diese Radikale an? Das verleugnet die Handlungsfähigkeit sowohl der Partei selbst als auch ihrer Wählenden. Denn es gibt keinen Grund, eine Partei, die Rechtsradikale anzieht, zu wählen. Da passiert ja offensichtlich etwas anderes. Und das kann man auch benennen.

Generell zeigt sich hier wieder ein schlecht verkleidetes eigenes Unbehagen. Man teilt die Feindbilder der AfD, aber man möchte sich nicht mit den Schmuddelkindern gemein machen. Es ist eine Sicht, die die AfD immer noch als ungezogene Kinder und Fleisch vom Fleische der Bürgerlichen sieht. Aber das sind sie nicht. Es ist ein gefährlicher Grundirrtum. Dabei ist vieles an der Analyse grundsätzlich richtig; denn dass die AfD einen Raum besetzt, den keine andere Partei bedient, dass sie am heftigsten auf das Migrationsthema reagiert, dass dieses von den demokratischen Parteien zu sehr vernachlässigt wird (siehe Fundstück 4), das stimmt ja alles. Aber das macht die AfD nicht besser. Deswegen ist es auch so wirr, wenn etwa Kristina Schröder erklärt, keine Menschen ausschließen zu wollen, das sei ganz böse, deswegen müsse man mit der AfD koalieren - und gleichzeitig aber massenhaft Menschen ausschließen will, nur eben die, die sie nicht da haben will. Da fehlt die Ehrlichkeit zu den eigenen Positionen.

4) Das große Missverständnis der deutschen Migrationspolitik

Der Artikel beleuchtet die Debatte um Flucht- und Erwerbsmigration im Kontext des bevorstehenden Bundestagswahlkampfs. Autorin Ursula Weidenfeld betont, dass Fluchtmigration und Arbeitsmigration rechtlich und praktisch getrennt betrachtet werden müssen. Viele Syrer, die seit 2015 in Deutschland leben, genießen Schutz gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention. Sollte sich die Lage in Syrien verbessern, erlischt dieser Status – was in der Diskussion oft missverstanden wird. Die Autorin hebt hervor, dass bestehende rechtliche Instrumente wie der „Spurwechsel“ und das „Chancenaufenthaltsgesetz“ bereits Wege für integrierte Geflüchtete bieten, dauerhaft in Deutschland zu bleiben. Gleichzeitig kritisiert sie Forderungen nach neuen Gesetzen oder radikalen Abschiebungen als unnötig, da bestehende Verfahren bereits greifen. Ein zentraler Punkt ist die geringe Beschäftigungsquote syrischer Frauen, die nur bei etwa 30 Prozent liegt. Dieses Ungleichgewicht erschwert politische Entscheidungen, insbesondere, wenn Familien unterschiedlich behandelt werden sollen. Weidenfeld plädiert dafür, künftig stärker auf gezielte Erwerbsmigration zu setzen, da diese schneller und effizienter zur Integration beiträgt. Sie sieht Kontingentregelungen und das Einwanderungsgesetz als geeigneter an, während Fluchtmigration weiterhin europäische Lösungen erfordert. Abschließend betont sie, dass klare Regelungen essenziell sind, um das Thema dauerhaft aus dem Wahlkampf zu nehmen. (Ursula Weidenfeld, Spiegel)

Mich erinnert das stark an meinen eigenen Artikel zur Sackgasse in der Migrationspolitik. Die Debatte ist hoffnungslos verfahren. Flucht und Migration sind von beiden Seiten vermischt, aber auf keine produktive Art. Da sperren sich dann Linke gegen die Abschiebung selbst schlimmster Straftäter*innen, während auf der Rechten die Schaffung eines sinnvollen Einwanderungs- und Einbürgerrechts - Stichwort Pfad zur Staatsbürgerschaft - verweigert wird, was aber nichts macht, weil die Linke das AUCH verweigert, denn wie kann man ökonomische Motive und so weiter und so fort.  Ob klare Regeln das Thema entpolitisieren können weiß ich nicht, aber besser als die aktuelle Situation wäre es allemal. Für die Betroffenen ohnehin. Auch hier hatte die Ampel eine Chance, die vorherigen Blockaden zu lösen und endlich einen Schritt nach vorne zu machen. Passiert ist nichts.

5) Die verzwergte Republik

Der Artikel beschreibt die aktuellen Herausforderungen Deutschlands und die Notwendigkeit einer strategischen Neuausrichtung. 2024 war geprägt von wirtschaftlicher und politischer Schwäche, die das internationale Gewicht Deutschlands verringert hat. Die Autorin fordert eine Wende zu Wachstum und strategischer Planung, sowohl wirtschaftlich als auch außenpolitisch. Wirtschaftlich leidet Deutschland unter einer Rezession, technologischer Rückständigkeit und einer kriselnden Automobilindustrie. Das beeinträchtigt nicht nur die wirtschaftliche Stärke, sondern auch das internationale Ansehen. Außenpolitisch mangelt es an Führungsstärke, insbesondere in der europäischen Zusammenarbeit. Kanzler Scholz hat keine starke Beziehung zu Frankreich und spielt in der EU eine marginale Rolle. Gleichzeitig droht der Machtwechsel in den USA unter Donald Trump und Elon Musk die transatlantischen Beziehungen und die NATO zu destabilisieren. Die deutsche Haltung zu Israel und die zurückhaltende Unterstützung der Ukraine verschärfen die Isolation Deutschlands. Historische Verantwortung, wie die Treue zur Schuldenbremse oder die Zurückhaltung bei Waffenlieferungen, wird als selbstfesselnd kritisiert. Die kommende Regierung wird aufgefordert, klare und pragmatische Strategien zu entwickeln, um Deutschlands wirtschaftliches Wachstum und internationale Position nachhaltig zu stärken. (Dirk Kurbjuweit, Spiegel)

Auch ein Dauerthema hier im Blog ist der völlige Mangel an strategischer Weitsicht in Deutschland. Der Sicherheitspod hat das in seiner neuesten Folge auch wieder thematisiert. Man würde ja deutsche Politik gerne für die falsche Strategie kritisieren, aber das geht gar nicht, weil es keine gibt. Wir sind von rechts bis links in einem Modus permanenter Verwaltung, Gestaltung egal in welche Richtung ist geradezu ein Tabu. Ob auf dem Feld der Finanzen, der Wirtschaft, des Klimaschutzes, der Sicherheitspolitik, der Migration, der Bildung; völlig egal. Niemand hat irgendeine Idee, wo es hingehen soll.

Resterampe

a)

b) Ich bin sicher, die BILD wird sich daran bei der nächsten Negativmeldung auch erinnern. (Twitter)

c) Sachsen: Michael Kretschmer bleibt Ministerpräsident - gekrönt von den Linken (Spiegel). Das Verhalten der LINKEn in den Ostbundesländern ist gerade echt lobenswert.

d) Who I am (Kevin Drum). So eine Aufstellung sollte ich vielleicht auch mal machen.

e) A quick look at every penny of domestic spending (Kevin Drum). Ach, Fakten.

f) Quote of the day: “Great question” (Kevin Drum). The audacity of it all!

g) Collections: On Bread and Circuses (ACOUP) Für die historisch Interessierten.

h) Kollegien am Pranger: Ministerium veröffentlicht Unterrichtsausfall von jeder Schule – Medien stürzen sich darauf (News4Teachers). Wie kann man glauben, das sei eine gute Idee? Die Idee, dass Transparenz per se gut ist, sollte mittlerweile echt genug diskreditiert sein.

i) Americans have not lost trust in the media. Republicans have. (Kevin Drum). Bei uns bei weitem nicht so schlimm, aber die Tendenz ist die gleiche. Die Kampagne gegen den ÖRR trägt hierzulande dieselben giftigen Früchte. Siehe auch: Americans haven’t lost trust in medicine. Republicans have.

j) Chartbook 341 On thinking in medias res: An Interview with Ding Xiongfei from the Shanghai Review of Books (summer 2024) (Chartbook). Super spannend, aber sehr nerdig.

k) Sollen die Frauen das doch weiter allein machen! (Spiegel) Ja, sicher, das zeigt Prioritäten. 

l) Das ständige Duzen nervt – ich wünsche mir mehr „Sie“ (Welt). Ich will, dass das "Sie" ausstirbt. Aber das passiert eh. Gehört zu meinen Steckenpferden, den Vormarsch des "Du" zu beobachten.

m) Zum letzten Vermischten mit Jens Spahn und den Folgekosten der CDU-Regierungen. (Welt) Was mir an der Argumentation unklar bleibt: wo genau wäre es besser, wenn die Kostenerhöhungen anders verteilt wären, abgesehen von der Schockwirkung?

n) Sehr guter Artikel zu Magedburg. (Welt)

o) Hattie mal wieder (News4Teachers). Nicht, dass irgendwer deswegen Änderungsbedarf sähe.


Fertiggestellt am 29.12.2024

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