Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) Gegen Böllergewalt hilft nur die harte Hand
Der Artikel thematisiert die wiederkehrende Gewalt in Berlin an Silvester und fordert strengere Maßnahmen zur Eindämmung des Problems. Der Autor kritisiert die Eskalationen, die von Jugendlichen, oft aus sozioökonomisch benachteiligten Kontexten, ausgehen. Diese greifen Rettungskräfte und Zivilisten an oder verursachen durch gefährlichen Umgang mit Feuerwerkskörpern erhebliche Schäden. Die angebotenen sozialen Programme, wie kostenfreie Kita-Plätze und Bildungsgutscheine, scheinen viele Jugendliche nicht zu erreichen. Ein Böllerverbot wird als Lösung vorgeschlagen, da härtere Maßnahmen in anderen Bereichen, wie etwa in Berliner Schwimmbädern, nachweislich gewirkt hätten. Der Artikel argumentiert, dass der Staat Verantwortung übernehmen muss, um die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten. Bundesweite Unterstützung für ein lokales Verbot fehlt jedoch bisher. Abschließend plädiert der Autor für mehr Handlungsspielraum der Städte, um solche Eskalationen zu verhindern und Silvester zu einer sicheren Feier zu machen. (Hannes Schrader, Spiegel)
Ich finde den Artikel deswegen faszinierend, weil er eine Argumentationsweise, die mir fremd ist (härtere Strafen, strenge Durchsetzung, etc.) für ein Thema nutzt, das mir sehr nahe liegt (Einhegung des wilden Böllerns). Ich bin total für Verbotszonen für diese Böllereien (oder, besser, für die Einrichtung spezieller Gebotszonen, in denen man es machen kann). Aber gleichzeitig wehrt sich alles in mir gegen das Framing des Artikels. Ziemlich faszinierend, wenn das so quasi quer gegen alle politischen Richtungen und Festlegungen läuft.
2) Bist du noch krank – oder machst du schon blau? // Kein Lohn am ersten Krankheitstag? Das ist der falsche Weg
Die Kolumne thematisiert die Diskussion um Veränderungen bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und neue Ansätze wie Teilzeitkrankschreibungen. Angestoßen von Wirtschaftswissenschaftler*innen und dem Chef der Allianz, Oliver Bäte, wird vorgeschlagen, die Lohnfortzahlung erst ab dem zweiten Krankheitstag zu leisten. Hintergrund sind steigende Krankenstände in Deutschland, die im Vergleich zur Schweiz deutlich höher sind. Ein zentraler Punkt ist die Frage, ob eine flexible Handhabung von Arbeit im Krankheitsfall sinnvoll sein könnte. Dank Digitalisierung können viele Menschen, auch mit leichteren Erkrankungen, von zu Hause aus arbeiten. Kritiker argumentieren, dass dies nicht für alle Berufe umsetzbar sei und eine Ungleichbehandlung nach sich ziehen könnte. Die Lohnfortzahlung bleibt ein Gradmesser des sozialen Klimas. Während Gegner*innen solche Vorschläge als Angriff auf Arbeitnehmerrechte sehen, betont die Kolumne, dass neue Modelle eine Chance für Fortschritt und Effizienz darstellen könnten, wenn sie umsichtig gestaltet werden. (Ursula Weidenfeld, Spiegel)
Der Artikel setzt sich kritisch mit der Forderung nach der Streichung der Lohnfortzahlung am ersten Krankheitstag auseinander, die Allianz-Chef Oliver Bäte angestoßen hat. Diese Maßnahme soll angeblich den hohen Krankenstand reduzieren und Kosten sparen, jedoch wird ihre Kausalität infrage gestellt. Der Vorschlag unterstellt, dass viele Arbeitnehmer „blau machen“, was pauschalisierend und sozial problematisch sei, insbesondere für Menschen mit niedrigen Einkommen. Die veränderte Arbeitsmoral und der Fokus auf „Work-Life-Balance“ werden als gesellschaftlicher Fortschritt gesehen, der jedoch nicht pauschal als Nachlassen der Disziplin gewertet werden sollte. Der gestiegene Krankenstand ist auch auf die Einführung der elektronischen Krankschreibung und die zunehmende Arbeit im Home-Office zurückzuführen. Der Artikel argumentiert, dass Karenztage das falsche Signal senden. Stattdessen seien Maßnahmen wie eine frühzeitige Vorlage von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und ein gutes Arbeitsklima effektiver, um die Arbeitsmoral zu stärken und Krankenstände nachhaltig zu senken. (Hanna Bethke, Welt)
Ich finde es eine wahnsinnig problematische Idee, Schikanen einzuziehen, um die Krankenstände zu verringern. Mich erinnert das an die Einführung der Praxisgebühr seinerzeit, die aus guten Gründen wieder abgeschafft wurde. Abgesehen von der wuchernden Bürokratie zu ihrer Verwaltung war sie eine klare Belastung von Menschen mit wenig Einkommen, die davon abgehalten wurden, ärztliche Hilfe aufzusuchen (was ja auch die Intention war). Aber dieses Anreizsystem ist schlecht, das sieht man ja mit Medicaid in den USA auch: am Ende bekommt man schlimmere und teurere Fälle. Krank zur Arbeit zu gehen ist einfach eine dumme Idee.
Vielleicht müssen die Arbeitgeber ggf. auch stärker auf das Mittel verpflichtender ärztlicher Krankschreibungen oder gar Attesten zurückgreifen, aber das führte dann zu demselben Problem, das wir an den Schulen haben, wo die Ärzt*innen zu Recht beklagen, dass sie als pädagogisches Instrument zweckentfremdet werden - was ja dann auch wieder das Gesundheitssystem belastet und zu Fließbandausstellungen von Krankschreibungen führt. Egal, welche Methode man anwendet, es gibt in jedem Fall gravierende Nachteile. Eine einfache "one size fits all"-Lösung gibt es hier sicher nicht.
Und natürlich hat Bethke völlig Recht damit, dass das Betriebsklima eine wichtige und unterdiskutierte Rolle darstellt, nur erklärt das kaum die Situation. Die Krankentage stiegen mit Corona massiv an; so weit, so nachvollziehbar. Warum sie seither nicht wieder auf das vorherige Maß gesunken sind, ist unklar. Ist es Arbeitsmoral? Ist es die Korrelation mit der elektronischen Krankschreibung? Sind es Langzeiteffekte der Pandemie? Wenn ich das richtig im Überblick habe, ist es ein deutsches Problem, was letzteres ausschließt. Und die Arbeitsmoral verändert sich auch nicht derart drastisch innerhalb eines solch kurzen Zeitraums. Aber solange die Ursache nicht klar ist, bleibt nur Moralisieren.
Der Artikel analysiert den Aufstieg der FPÖ in Österreich und zieht Parallelen zur AfD in Deutschland. Vor 25 Jahren ließ Wolfgang Schüssel die FPÖ unter Jörg Haider erstmals in die Regierung. Die Strategie, Rechtspopulisten durch Einbindung zu mäßigen, scheiterte langfristig. Heute steht mit Herbert Kickl ein radikalerer FPÖ-Chef vor Koalitionsgesprächen, und die Partei hat deutlich an Stärke gewonnen. Der Artikel zeigt, dass der Versuch, Rechtsparteien durch Verantwortung zu zähmen, die demokratische Kultur untergräbt. Die FPÖ profitierte von Protestwählern, während Korruptionsskandale und internationale Sanktionen ihren Aufstieg nur kurzzeitig bremsten. Ähnlichkeiten zur deutschen AfD sind erkennbar, da auch dort konservative Parteien Gefahr laufen, Brandmauern gegen Rechts zu lockern. Die Lehre für Deutschland ist klar: Brandmauern gegen Rechts müssen nicht nur errichtet, sondern konsequent aufrechterhalten werden, um rechtspopulistische Parteien nicht weiter zu stärken und demokratische Grundwerte zu schützen. (Sebastian Fischer, Spiegel)
Der Artikel beschreibt sehr ausführlich den Umgang mit der FPÖ und die verschiedenen Koalitionen. Von daher lohnt er die Lektüre. Inhaltlich aber drehen wir uns im Kreis. Die Brandmauer aufrechtzuerhalten hat in Österreich nicht funktioniert, und in Deutschland hilft es zwar, die Extremisten von der Macht fernzuhalten, aber nicht, ihre Ergebnisse um 20% anzukratzen. Nur: die gegenteilige Strategie, ihre Themen aufzugreifen und quasi demokratisch zu kanalisieren, ist auch katastrophal fehlgeschlagen (und anders als bei der Brandmauer gibt es sogar genug wissenschaftliche Unterfütterung, die die Wirkungslosigkeit demonstriert). Letztlich schreien sich beide Seiten der Debatte an und versuchen, ihre Position durchzusetzen, was glaube ich vor allem am inhärenten Interessenkonflikt liegt: ich profitiere als eher linksliberale Person deutlich von der Brandmauer, weil es eine Rechtskoalition unmöglich macht (genauso wie übrigens die Brandmauer zur LINKEn 2005 bis 2021 dasselbe für eine potenzielle Linkskoalition tat). Umgekehrt profitieren eher rechtsliberale Personen davon, die Themen aufzugreifen, weil es ihre Themen sind und sie sie aufgegriffen wollen. Jede Strategie für den Umgang mit der AfD erfüllt gleichzeitig die eigenen politischen Ziele; die Partei bleibt dann nur ein Spiegel.
4) How the mainstream abandoned universal economic principles
Branko Milanović analysiert in seinem Text das schleichende Ende der neoliberalen Globalisierung und ihre grundlegenden Prinzipien, wie freier Handel, Bewegungsfreiheit von Arbeitskräften und Kapital sowie Technologietransfer. Er argumentiert, dass diese Prinzipien nicht erst mit der Amtsübernahme von Donald Trump, sondern bereits über ein Jahrzehnt zuvor schrittweise aufgegeben wurden – ironischerweise von den neoliberalen Befürwortern selbst. Milanović kritisiert insbesondere die widersprüchliche Haltung westlicher Länder, die früher für Globalisierung eintraten, heute jedoch auf Protektionismus setzen, etwa durch steigende Zölle, Handelsblöcke und wirtschaftliche Abschottung gegenüber Ländern wie China. Er hebt hervor, dass der Erfolg Chinas im Technologietransfer oft als „Diebstahl“ diskreditiert wird, während Entwicklungsländer zuvor wegen mangelnder Innovationsfähigkeit kritisiert wurden. Ein zentraler Punkt seiner Analyse ist das Fehlen eines neuen internationalen Wirtschaftssystems, das die aufgegebenen Prinzipien ersetzt. Die aktuelle Lage führt zu inkonsistenten und ad-hoc Regelungen, die den globalen Entwicklungsdiskurs in Chaos stürzen. Milanović sieht in diesem Wandel nicht nur nationale Interessen als treibende Kraft, sondern auch eine Rückkehr zu merkantilistischen und regionalistischen Ansätzen, die die universalen Regeln der Globalisierung verdrängen. (Branko Milanović, Brave New Europe)
Mir scheint ebenfalls deutlich zu sein, dass der vorherige neoliberale Konsens mittlerweile weitgehend tot ist. Noch steht nichts Neues an seiner Stelle, da gebe ich Milanović vollkommen Recht. Ebenfalls Recht hat er damit, dass dieser Konsens als Erklärung für den Aufstieg der Populisten immer noch unterschätzt wird. Aber der Hauptteil bleibt der Abschied vom System der Globalisierung und des Freihandels. China scheint mir da schon der relevanteste Aspekt zu sein, unter dem Gesichtspunkt, dass es eben doch ein Schönwettersystem war: gut, solange wir davon profitierten, aber nun nicht mehr, da andere ebenfalls aufsteigen - was zu Abschottung führt. Und, natürlich, der Aspekt, dass die Aufsteiger kein Interesse haben, nach diesen Spielregeln zu spielen, das sollte man auch nicht unerwähnt lassen.
5) Wie die Pläne fürs gesunde Essen gescheitert sind
Der Artikel beleuchtet das Scheitern der Pläne der Ampelkoalition, gesunde Ernährung in Deutschland zu fördern. Zwar hat die Bundesregierung eine Ernährungsstrategie verabschiedet, doch Experten kritisieren die Umsetzung als unzureichend. Verbindliche Standards für Schul- und Kitaessen sowie finanzielle Unterstützung wurden angekündigt, jedoch fehlen die notwendigen Investitionen. Statt der benötigten Milliarden fließen nur geringe Mittel in einzelne Projekte. Ein Werbeverbot für ungesunde Lebensmittel, das Kinder schützen sollte, scheiterte an Widerstand aus der Industrie, der FDP und der CDU. Wissenschaftler argumentieren, dass neben Bildungsmaßnahmen auch politische Eingriffe wie Zuckersteuern notwendig seien, um gesündere Lebensmittelangebote zu schaffen. Beispiele wie Großbritannien zeigen, dass solche Maßnahmen wirken können. Zusammengefasst mangelt es an finanziellen Ressourcen und politischer Durchsetzungskraft, um die Ziele einer gesünderen Ernährung in Deutschland flächendeckend zu realisieren. Das erschwert es der Bevölkerung, gesündere Entscheidungen im Alltag zu treffen. (Eva Huber, ARD)
Ich meine, es ist recht klar, warum diese Pläne scheitern: so wenig Ambition kann die Ziele ja gar nicht erfüllen. Ein Pilotprojekt und eine Homepage irgendwo sind Tropfen auf einem Brand. Das verpufft völlig. Wie Huber in ihrem Artikel ja völlig richtig schreibt erfordert allein die Umrüstung der bestehenden Kantinen und Cafeterien an den Schulen zwei Milliarden Euro - und bei weitem nicht alle Schulen HABEN überhaupt so was. Meist versorgen sich die Schüler*innen ja immer noch im Umfeld. Ich kann das aus meiner eigenen Erfahrung sagen; wenn ich mir nicht was von zu Hause mitbringe, habe ich praktisch keine Möglichkeit, in der Mittagspause etwas Gesundes zu essen. Es findet sich nur Fastfood im Umkreis. Maßnahmen wir ein Werbeverbot wären natürlich schon mal hilfreich, aber alleine ausreichend werden sie kaum sein, genauso wenig wie Zuckersteuern. Das heißt natürlich nicht, dass man das nicht machen sollte, aber da schon diese eher niedrigschwelligen Sachen nicht gemacht werden - natürlich wird da kein Fortschritt erzielt. Das ewige Problem der Grünen: viel zu niedrigschwellig und doch wird nur dran gemeckert.
Resterampe
a) Wer noch was zum ttt-Thema lesen will. (Spiegel)
b) Guter Punkt zu Trumps Reaktionen auf die Brände. (New Republic)
c) AfD zeigt offen wie nie ihre völkische Agenda: Analyse des Parteitags in Riesa (Spiegel). Die AfD entlarvt sich seit 2015 permanent selbst. Schadet ihr nicht. Das Overton-Fenster verschiebt sich nur ständig weiter.
d) Ich stimme den Thesen zum Verhältnis BSW und AfD zu (Spiegel). Ich fand die Idee, dass der BSW die AfD schwächen würde, auch von Anfang an suspekt.
e) Do they know it's Christmas? Das Problem mit Auslandsreportagen (54books).
f) lol (Twitter)
g) Heuchlerei festzustellen ist natürlich immer ein recht parteiisches Vergnügen, aber ich bin manchmal sehr genügsam. (Twitter) Aus Fairnessgründen. (Twitter) Die Insolvenz der Flugtaxis ist auch so eine Schlagzeile, die sich von selbst schreibt. (FAZ)
h) Die Wahrnehmung der Wirtschaft mal wieder. (Twitter)
i) Ich sag es immer wieder, die CO2-Bepreisung kommt gegen Politik nicht an. (Twitter)
j) Zuckerberg ist schon etwas peinlich. (Bloomberg)
k) So langsam verliert die Strafverfolgung der Klimakleber echt jedes Maß. (FR)
l) Keine Äquivalenz. (Deutschlandfunk)
m) Enshittification von Google (Bluesky).
n) Probleme mit Milliardären und Pressefreiheit. (Open Windows)
o) "Cum-Ex läuft weiter." (FAZ) Natürlich, das sind ja auch die Anreize.
p) Es ist schon faszinierend, wie dieser Skandal um die Iran-Geiseln nie einer wurde. (NYT)
q) Spannende Retrospektive auf Galaxy Quest und was es über Nerdkultur aussagt. (Digital Trends)
r) Interessanter Punkt zu Kritik am ÖRR. (Bluesky)
s) Weidel-Porträt der NZZ. (NZZ)
t) Diese Argumentation für den Entzug der Staatsbürgerschaft à la Merz überzeugt mich nicht, weil er das Thema völlig ignoriert. (The European)
u) Why has Silicon Valley turned against Democrats? (Kevin Drum)
v) Unterwerfung. (beimwort)
w) Guter Beitrag zu Russlands Kriegswirtschaft. (Chartbook)
x) Has the Right won the Culture War? (Drezner) Interessante Gedanken, aber letztlich falsche Frage. "Is the Right now dominant in the Culture War?" wäre besser. Die Linke hat den ja 2020 auch nicht gewonnen. Es gibt keine permanenten Siege im Kulturkampf.
Fertiggestellt am 15.01.2025
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