Montag, 27. September 2021

Der kommende Paradigmenwechsel - keine Angst mehr vor der Inflation

 

Im 20. Jahrhundert fanden zwei große Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik statt. Von der goldstandardbasierten Laissez-Faire-Politik des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts führten der Bruch mit der Weltwirtschaftskrise, der Herausforderung durch totalitäre Regime und der Zweite Weltkrieg zur keynesianischen Globalsteuerung. Die Stagflationskrise der 1970er Jahre dann läutete das Ende dieser Epoche ein und machte den Weg für die neoliberale, monetaristische Revolution frei, die mit Reagan, Milton Friedman und dem Washington Consensus verbunden ist. Ich bin der Überzeugung, dass die 2020er Jahre das Potenzial für einen erneuten Paradigmenwechsel haben.

Doch bevor wir uns der Frage zuwenden können, warum das so ist, möchte ich die beiden vorhergehenden Paradigmenwechsel etwas genauer beleuchten. Ich glaube nämlich, dass beide zwei zentrale Zutaten besaßen, ohne die ein solcher Wechsel nicht möglich ist. Die erste Zutat ist eine Krise, die durchgreifende Reaktionen erzwingt, Unsicherheit schafft und alte Weisheiten in Frage stellt. Und das zweite ist eine Erschöpfung des aktuellen Mainstreams. Sehen wir uns das kurz an den beiden vergangenen Beispielen an.

Als die Weltwirtschaftskrise ab dem Herbst 1929 über den Globus fegte, reagierten die westlichen Staaten wie auf jede andere Krise auch: sie versuchten, den Wert ihrer Währung, der an den Goldpreis gekoppelt war, zu stützen, indem sie ein Austeritätsprogramm fuhren, und gleichzeitig durch interne Abwertung - sprich, deflationäre Politik und damit vor allem Lohnkürzungen - ihre internationale Wettbewerbsposition zu verbessern. Ob Hoover oder Brüning, diese Maßnahmen schufen unermessliches Leid.

Gleichzeitig kamen die totalitären Regime, vor allem die Sowjetunion und Italien, augenscheinlich wesentlich besser durch die Krise und dienten dem linken wie rechten Rand als Vorbild für eine andere Politik (das sowjetische Vorbild war besonders in Großbritannien und Frankreich heiß diskutiert, während Abgesandte aus Italien in den USA gewaltige Aufmerksamkeit erfuhren). Mit der "Machtergreifung" 1933 reihte sich auch Deutschland in die Gruppe totalitärer Staaten, die besser als ihre demokratischen Nachbarn die Krise zu bewältigen schienen, ein.

Ich schreibe bewusst "schienen" und "augenscheinlich", denn die totalitären Regime waren tatsächlich nicht in der Lage, besser auf die Weltwirtschaftskrise zu reagieren. Die UdSSR war wirtschaftlich völlig isoliert und in ihrem mörderischen Aufholprozess durch forcierte Industrialisierung, der sie vom Weltmarkt völlig unabhängig machte, während Italien und Deutschland auf inflationäre Rüstung und Raubkrieg setzten, was, wie sich bald zeigte, keine sonderlich tragfähige Basis war.

Das Gegenmodell kam stattdessen ausgerechnet aus den USA und Großbritannien, den Mutterländern des Kapitalismus. Frankreich gelang ebenfalls eine vergleichsweise ordentliche Abwicklung der Krise, in dem Sinne, dass die Folgen weitgehend abgedämpft wurden, weil hier eine breite Koalition unter Einbeziehung der linken Kräfte Austeritätspolitik verhinderte; neues Wirtschaftswachstum geschaffen wurde hier aber auch nicht in nennenswertem Umfang. Es war die Entfesselung der Wirtschaft durch massive Nachfragepolitik, vor allem im Krieg, und der Wiederaufbau in Europa, der zu einer Stärkung der Arbeitnehmenden, einer Reduktion der Ungleichheit und einem beispiellosen Wirtschaftsaufschwung führte.

Ab den späten 1960er Jahren, endgültig jedoch in den 1970er Jahren, kam dieses Modell an sein Ende. Die Wachstumsraten betrugen "nur" noch 3-5%, die Inflation allerdings kletterte gleichzeitig auf Raten zwischen 3-9%. Dieses Phänomen war weder mit der Neoklassik noch mit dem Keynesianismus erklärbar - Stagnation und Inflation, die man zusammen als "Stagflation" bezeichnete, sollten eigentlich nicht zusammen auftreten, sondern nur entweder das eine oder das andere.

Auch die Antwort auf diese Krise kam aus den USA und Großbritannien, in Form der neoliberalen, angebotsorientierten Wirtschaftspolitik und der Geldtheorie des Monetarismus. Durch einen Zinsschock (nach dem damaligen Fed-Präsidenten in den USA "Volcker-Schock" genannt) der Zentralbanken wurde quasi eine künstliche Rezession geschaffen, der bewusst in Kauf genommene Preis zur Reduzierung der Inflation. Seit den frühen 1980er Jahren sehen die Zentralbanken ihre Funktion hauptsächlich in der Niedrighaltung der Inflationsrate. Diese Aufgabe ist ihnen mit Bravour gelungen. Seit nunmehr 50 Jahren kennen die westlichen Industriestaaten praktisch keine relevante Inflation mehr.

Das war die Bedingung für den Aufstieg der Finanzmärkte, die die regulierende Funktion übernahmen, die in der keynesianischen Ära der Staat und vor der keynesianischen Ära bereits einmal die Finanzmärkte, damals über den Goldstandard, innegehabt hatten (mehr zu diesem Thema in meinem Artikel zur "ersten liberalen Weltordnung"). Für nun fast fünfzig Jahre hat dieser neue Konsens Bestand gehabt. Infragestellt wurde er erstmals während der verdrängten Dekade durch die Finanzkrise, doch die größte Erschütterung brachte nun Covid-19 mit sich.

Und damit sind wir in der Gegenwart angekommen. Wir haben zwei Paradigmenwechsel in der Vergangenheit, die massiv dadurch befeuert wurden, dass die bisher vorherrshende Lehre keine Antworten mehr geben konnte - gleich, was man von den neuen Antworten hielt. Ich bin sicher kein Fan von Monetarismus, Volcker, Neoliberalismus und Reagan, aber es ist schwer zu leugnen dass sie ein Rezept hatten, wo die Keynesianer hauptsächlich ein "weiter so, wird schon" boten. Und wieder steht der herrschende Konsens vor einer Krise, und wieder kann er keine vernünftigen Antworten mehr geben. Um das zu verstehen, müssen wir über Inflation sprechen.

Die Inflation spielt deswegen so eine große Rolle, weil sie der umstrittenste und prominenteste Gegenstand des jeweiligen Paradigmenwechsels ist. Als die Regierungen in den 1930er Jahren eine nach der anderen den Goldstandard aufgaben, der Jahrzehnte als Garant für stabile Währungen (und stabile Volkswirtschaften) gegolten hatte, war das möglich, weil Inflation nicht mehr das zentrale Schreckgespenst war. Stattdessen lebte man in einer Deflationskrise, und der Goldstandard wurde (zu Recht) als Mühlstein um den Hals empfunden.

In den 1970er Jahren aber kehrte die Inflation zurück, wie beschrieben im Gefolge einer gleichzeitigen Stagnation. Bis dahin hatte die Regel gegolten, dass staatliche Wirtschaftspolitik Wachstum durch eine Ausweitung der Geldmenge anheizen und Inflation durch eine Eingrenzung der Geldmenge begrenzen könne - man wählte quasi zwischen Wachstum oder Inflation und suchte den goldenen Mittelweg. Diese scheinbare Gewissheit wurde durch die Stagflation zerstört, und die Monetaristen erhoben demgegenüber die Geldwertstabilität zum höchsten Gut. Die Verhinderung von Inflation, nicht die Herstellung von Vollbeschäftigung, war nunmehr das Gebot der Stunde.

Entsprechend wurde jede staatliche Ausgabenpolitik, gleich zu welchem Zweck - Krankenversicherung in den USA, Green New Deal, Infrastruktur, you name it - immer wenigstens kritisch, oft ablehnend beäugt, weil die Befürchtung im Raum stand, dass die Inflation zurückkehren könnte. Stattdessen galt die Selbstbeschränkung staatlicher Ausgabenpolitik, von Maastricht über die Schwarze Null hin zum debt ceiling.

Doch in den letzten beiden Jahren ist ein merkwürdiger Wandel eingetreten. Sowohl in den USA als auch in der EU hat die Corona-Krise zu einer Staatsverschuldung in nie dagewesenem Ausmaß geführt. Die Konsequenzen für die Inflation einerseits und die volkswirtschaftliche Stabilität andererseits waren nicht existent beziehungsweise sehr positiv. Dem herrschenden Paradigma zufolge sollte das eigentlich nicht passieren. Dieses Paradigma hat letztlich keine Antwort. Stattdessen werden gebetsmühlenartig dieselben Inflationswarnungen ausgegeben - genauso, wie in den 1970er Jahren das nächste Investitionsprogramm sicher den selbstragenden Aufschwung starten würde.

Dieses Fernbleiben der Inflation überrascht mich nicht großartig. Viel der Furcht ist pathologisch. Mark Blyth erklärt im Guardian die Ursprünge der rechten Inflationspanik, die sich in praktisch allen westlichen Volkswirtschaften auf dieser Seite des politischen Spektrums findet. Unter dem Eindruck der Stagflation hatten die linken Akteure kein eigenes Narrativ gehabt. Sie grummelten zwar über das herrschende Paradigma, wie die Rechten unter dem keynesianischen Paradigma der Nachkriegszeit gegrummelt hatten, aber eine echte Alternative besaßen sie nicht.

Doch unter der Oberfläche hat sich ein neues Verständnis von Zentralbanken und Geldpolitik breit gemacht. Anstatt die mythisierte und verzerrte Darstellung in der populären Erzählung des herrschenden Paradigmas - die heilige unabhängige Zentralbank, an die unverantwortliche Verteilungspolitiker*innen (gerne aus West- und Südeuropa) die Axt legen wollen - weiter zu erzählen, schauten sie genauer hin. Ich möchte nur kurz zwei Beispiele anführen.

Stefan Eich etwa fragt in seinem Aufsatz zurecht "Unabhängigkeit wovon?". Er fragt sich, warum die Zentralbank eine so undemokratische Institution ist und warum sie nicht unabhängig von den Finanzmärkten ist, wie das doch eigentlich angeblich der Fall sein sollte. Ist diese Unabhängigkeit als Mythos aber erst einmal in Frage gestellt, folgt der Rest wie ein Kartenhaus. Denn wenn die Notenbank eine weitere Institution, ein weiterer Akteur ist, dann darf sie plötzlich auch kritisiert werden.

Christian Odendahl indessen erklärt in seinem Artikel, dass die europäischen Regierungen völlig zu Recht keine Angst vor der Inflation haben. Es ist auffällig, wie wenig er in den beiden vorangegangenen Paradigmen verhaftet ist. Anders als etwa viele Kritiker*innen der herrschenden monetaristisch-neoliberalen Lehre von links findet sich bei ihm wenig Blick zurück auf die goldene Nachkriegszeit, von der die Wende mit Reagan und Thatcher als Sündenfall empfunden wird. Stattdessen finden wir eine rein ökonomische Betrachtung des Ist-Zustands.

Diese Analyse der aktuellen Umstände ist in Deutschland aus den von Blythe beschriebenen psychologischen Gründen nicht weit verbreitet, aber in Ländern, die diesbezüglich keine nationalen Traumata aufzuarbeiten haben, wesentlich weiter gediehen. Diese haben entsprechend in den Jahren seit der Finanzkrise, wenngleich gegen erbitterten (und letztlich sinnlosen, weil unhaltbaren) deutschen Widerstand, den langsamen Umbau der Euro-Zone betrieben. Es gehört zu den großen Ironien der Geschichte, dass die AfD, die FDP und der rechte CDU-Flügel ja durchaus Recht damit haben, dass Draghi und Co den Euro umbauen; nur, sie retten ihn, während das Festhalten an überkommenen Ideologien durch die Genannten ihn in den Abgrund gerissen hätte.

Und damit sind wir im Bundestagswahlkampf. Es ist auffällig, wie schwach das herrschende Paradigma ist. Nirgendwo sieht man das so deutlich wie an der Figur Friedrich Merz. Merz war in den späten 1990er und den 2000er Jahren so etwas wie das Poster-Child des deutschen Reformdiskurses. Niemand im politischen Mainstream forderte entschlossenere, radikalere Reformen als er. Vermutlich hat nie ein CDU-Politiker das Paradigma so sehr verkörpert wie er. Seine erstaunliche Renaissance seit 2018 ist vor allem Nostalgie für die Sicherheit dieser vergangenen Tage; sein Unvermögen, eine Mehrheit der Partei hinter sich zu scharen, selbst gegen einen Kandidaten wie Armin Laschet, legt dagegen beredtes Zeugnis ab. Als er allerdings vergangene Woche in einer Art Mini-TV-Duell auf Hubertus Heil traf, fiel selbst dem eher konservativen Beobachter Frank Lübberding von der FAZ Merz' verblüffende Ideenlosigkeit auf. Ich halte diese für symptomatisch.

Denn diese Ideenlosigkeit ist nicht auf Merz beschränkt. Nach fünf Jahrzehnten unangefochtener Herrschaft ist das Paradigma am Ende. Es kann keine Antworten mehr auf die Fragen der Gegenwart geben. Wenn es Merz nicht einmal mehr schafft, überzeugend gegen eine Mindestlohnerhöhung zu argumentieren, wer dann?

Was anstelle des alten Paradigmas treten wird, ist aktuell noch völlig unklar. Die besten sichtbaren Chancen hat gerade irgendeine Form von MMT. Nicht, weil MMT eine besonders brillante ökonomische Theorie wäre (das kann ich nicht beurteilen), sondern weil sie zwei Eigenschaften hat, die gerade stark nachgefragt sind. Einerseits bietet sie ein eingängiges Narrativ, das mit der Laffer-Kurve der 1980er Jahre konkurrieren kann; diese politisch-narrative Dimension habe ich bereits vor zwei Jahren in einer Analyse vorhergesagt. Andererseits gibt sie Antworten auf die drängenden Fragen. Man kann darüber streiten, ob diese Antworten gut sind - das passiert hier in den Kommentarspalten ja auch - aber die MMT hat derzeit auf ihrer Seite, dass sie das einzige Paradigma ist, das überhaupt Antworten bietet. Allein deswegen ist sie gerade im Aufwind.

Es ist gut möglich, dass sich andere Alternativen etablieren und MMT den Rang ablaufen werden; die Theorie ist bisher nur am linken Rand verbreitet und findet innerhalb des progressiven Spektrums viele Kritikter*innen. Aber ich bin ziemlich zuversichtlich, dass das nächste Paradigma aus dem progressiven Spektrum kommen wird. Das ist schlichtweg normale politische Dynamik. Die konservativ-liberalen Kräfte sind zu sehr mit dem alten Paradigma verhaftet, als dass sie es zugunsten eines neuen einfach aufgeben könnten. Die Progressiven dagegen hungern seit fünf Jahrzehnten danach, wieder der Mainstream zu sein. Allein dieser Hunger ist ein großer Treiber, ganz egal, wie ausgefeilt und tragfähig das neue Konzept sein wird (Reagonomics war ja auch mehr Narrativ als konkrete ökonomische Theorie, und die Vulgärversion der heutigen Konservativen würde Milton Friedman im Grab rotieren lassen, genauso wie Maynard Keynes sicher keine freundlichen Worte für die Wirtschaftspolitiker der 1970er Jahre hätte).

Dies ist jedenfalls meine reichlich unspezifische Überblicksprognose für das kommende Jahrzehnt, was den Wandel des Wirtschaftsparadigmas angeht. In meinen Augen sehen wir das bereits seit der Finanzkrise in der EZB, seit Corona im Finanzministerium und auch in den USA, vor allem seit der Amtsübernahme Bidens (aber auch schon in der Covid-Krisenreaktion unter Trump!). Ich mag mich natürlich täuschen. Aber die strukturellen Faktoren scheinen mir doch ziemlich deutlich in diese Richtung zu zeigen.

Donnerstag, 23. September 2021

Breitbart cancelt Klimakrisemaßnahmen um Merkels SMV-Mitgliedschaft zu beenden - Vermischtes 23.09.2021

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) The Economic Mistake Democrats Are Finally Confronting

For now, though, it’s Democrats who are starting to take supply-side concerns seriously. But before we get to that, I want to widen the definition of “supply,” a dull word within which lurks thrilling possibilities. Supply-side progressivism shouldn’t just fix the problems of the present, it should hasten the advances of the future. [...] Too often, though, progressives let their argument drop there. They need to take the obvious next step: We should combine price controls with new policies to encourage drug development. That could include everything from more funding of basic research to huge prizes for discovering drugs that treat particular conditions to more public funding for drug trials. [...] In a blog post, Jared Bernstein, a member of President Biden’s Council of Economic Advisers, and Ernie Tedeschi, a senior policy economist for the council, framed the Biden agenda as “an antidote for inflationary pressure” because much of it expands the long-term supply of the economy. “The transportation, rail, public transit, and port investments will reduce efficiency-killing frictions that keep people and goods from getting to markets as quickly as they should,” they wrote. “The child and elder care investments will boost the labor supply of caretakers. The educational investments in pre-K and community college will eventually show up as higher productivity as a result of a better-educated work force.” (Ezra Klein, New York Times)

Am linken Rand ist gerade sehr viel Bewegung in der ökonomischen Debatte zu erkennen. Ob Stephanie Keltons MMT oder die hier propagierte Hinwendung zu "progressive supply side economics", für mich wirkt das alles sehr wie der Aufstieg der Neoliberalen in den frühen 1970er Jahren. Noch ist der Konsens ein anderer, und er wird es auch noch eine Weile bleiben, aber die unzweifelhaft bestehenden ökonomischen Probleme verlangen nach einer neuen Antwort, und eine solche kommt, egal was man von ihr hält, nur aus einer Richtung. Eine solche Einseitigkeit in Problemlösungsstrategien gab es auch beim vorherigen Paradigmenwechsel in den 1930er/1940er Jahren.

2) Das überwachte Klassenzimmer

Ein Familienbild, das seinen Weg auch in den neuen nationalen Lehrplan gefunden hat. Dieser hat noch andere Lernziele. Ziele, über die László Miklósi nur den Kopf schütteln kann. In seinem Büro der Vereinigung der Geschichtslehrer hat er ein Exemplar des neuen Lehrplans auf dem Tisch liegen. Miklósi ist seit 25 Jahren Vorsitzender der Vereinigung der ungarischen Geschichtslehrer. Die Bestrebungen der konservativen Regierung, ihre Version der ungarischen Geschichte und der ungarischen Identität auch in den Schulen zum Maßstab zu machen, haben ihn und seine Stellvertreterin Ildikó Repárszky zu bekannten Akteuren im Land gemacht. Sie fühlen sich zunehmend bedrängt und sehen in den neuen Lehrplänen, Schulbüchern und Gesetzen den Versuch, ihnen eine Ideologie aufzuzwingen. [...] Das war lange vorbereitet. Schon kurz nach ihrem Wahlsieg 2010 beginnt die rechtskonservative Fidesz-Regierung mit der Zentralisierung des Bildungssystems. Reformen sind tatsächlich dringend notwendig, die Lehrer sind unterbezahlt, Lehrpläne veraltet und überladen mit lexikalischem Wissen. Die Regierung nutzt die Reformen vor allem, um ihren Einfluss auszubauen. Dem neu gegründeten staatlichen Klebelsberg-Institut wird zunächst die Verwaltung der Schulen übertragen, erst Jahre später werden wieder kleinere Regional-Behörden geschaffen. Die Autonomie der Schulen wird drastisch eingeschränkt, der freie Markt für Lehrbücher abgeschafft. Jetzt verteilt die Regierung die Schulbücher. [...] Eine neue Gruppe unter Führung des staatlichen Klebelsberg-Instituts veröffentlicht im Januar 2020 eine weitere Fassung des nationalen Lehrplans. Er ruft Empörung hervor. Imre Kertész, einziger ungarischer Nobelpreisträger für Literatur, kommt nicht vor. In seinem berühmten Roman eines Schicksallosen beschreibt er seine Gefangenschaft im Konzentrationslager Auschwitz. Statt Kertész werden Antisemiten wie Albert Wass und der Nationalsozialist József Nyírő in den Kanon gehoben. "Die literarischen Werke haben eine wertevermittelnde Funktion", heißt es im Lehrplan. "Sie vermitteln normative Werte, die den Wertekanon der Mehrheit der Gesellschaft spiegeln." (Sugárka Sielaff, ZEIT)

Die ungarische "Bildungspolitik" ist der feuchte Traum der AfD und Leuten wie Maaßen. Das ist genau das, was die auch für Deutschland wollen. Auch die Begeisterung der amerikanischen Rechten für Ungarn, die sich mit Lobhudeleien auf Orban geradezu überschlagen, kommt daher. In den amerikanischen Südstaaten ist diese Art von "Bildungspolitik" ja traditionsreich; dort werden aktuell wieder massive Anstrengungen unternommen, um eine genehme Version der Geschichte vorzugeben und die Lehrkräfte zu ihrer Umsetzung zu zwingen. Beispiele für diese real existierende Cancel Culture gibt es leider zur Genüge.

Der österreichische Kanzler Kurz indessen fordert "mehr Fairness" für Polen und Ungarn, was nach Lage der Dinge nur heißen kann, die Autokraten gewähren zu lassen. Kurz selbst unternimmt für Österreich ähnliche identitätspolitische Programme bereits seit seiner Zeit in Koalition mit der ÖVP und hat auch in der türkis-grünen Koalition nicht damit aufgehört. Mit liberalen Werten, wie sie die EU eigentlich verteidigen sollte, hat das alles wenig zu tun. Die Aussichten, dass etwas dagegen getan wird, sind, wie ich in Fundstück 5 weiter asuführe, eher gering.

3) Nolte: Howard Stern Proves Democrats Want Unvaccinated Trump Voters Dead

Because leftists like Stern and CNNLOL and Joe Biden and Nancy Pelosi and Anthony Fauci are deliberately looking to manipulate Trump supporters into not getting vaccinated. Nothing else makes sense to me. In a country where elections are decided on razor-thin margins, does it not benefit one side if their opponents simply drop dead? If I wanted to use reverse psychology to convince people not to get a life-saving vaccination, I would do exactly what Stern and the left are doing… I would bully and taunt and mock and ridicule you for not getting vaccinated, knowing the human response would be, Hey, fuck you, I’m never getting vaccinated! [...] No one wants to cave to a piece of shit like that, or a scumbag like Fauci, or any of the scumbags at CNNLOL, so we don’t. And what’s the result? They’re all vaccinated, and we’re not! And when you look at the numbers, the only numbers that matter, which is who’s dying, it’s overwhelmingly the unvaccinated who are dying, and they have just manipulated millions of their political enemies into the unvaccinated camp. (John Nolte, Breitbart)

Ich liebe diesen Artikel. Selten sagen Leute so offen, wie unendlich bescheuert sie sind. An dieser Stelle nur noch zwei Anmerkungen: Noltes Twitter-Handle ist @makesfunofothers. Nur um seine Empörung darüber, dass ein willkürlich herausgegriffener C-Promi, den er mit "den Democrats" gleichsetzt, über Impfgegner*innen spottet, ins Verhältnis zu setzen. Diese Art beknackten Aktivismus ist auf der amerikanischen Rechten auch kein Einzelfall. Der Frontrunner des Ohio-Wahlkampfs indes erklärt, dass es kaum Zufall sein kann, dass "Pandemic" ein "dem" im Namen hat. Da weiß man echt nicht mehr weiter.

4) Why Tax Reform Is So Hard

First, any policy change creates winners and losers. Politicians must worry if those policy losers become lost voters. Even if a policy provides net benefits, and even if the polling is favorable, voters who get the short end will have long memories. They may become loud opponents, driven by a single issue. And if you are a representative from a swing district, a small fraction of newly angered single-issue voters could mean losing office. [...] Messing with the long-standing status quo can make people nervous. [...] Democrats are reasonably and honorably taking a big gamble on the Build Back Better bill. Knowing that their impossibly thin congressional majority may soon disappear, they are crafting what is possibly the biggest single piece of legislation in history, hoping to solidify progressive reforms that Republicans will find hard to undo, even if they take congressional control. But since moderates are insisting that any such bill be “paid for,” enacting new revenue streams has become a legislative necessity. Figuring out which ones? That’s not so easy. (Bill Scher, Washington Monthly)

Die Obsession mit dem "to pay for" irgendwelche Programme ist der Mühlstein am Hals der Democrats. Er war es während der zwei Amtszeiten Obamas und er ist jetzt in der Amtszeit Bidens. Die Republicans haben keine solchen Skrupel. Ob die Steuergeschenke Bushs oder Trumps, "paid for" war da gar nichts. Aber sie waren extrem populär und zudem in ihrer Funktion - den Staat seines Handlungsspielraums berauben und massiv von unten nach oben verteilen - sehr effektiv. Solange die Democrats nicht endlich diese selbstauferlegten Fesseln ablegen, werden sie nie effektiv sein können.

5) The stain on Merkel’s legacy

Could Merkel have acted differently, drawing hard red lines for Hungary and Poland? No question. But can Europe expect a radically different, critical approach toward the EU’s wannabe autocrats from whoever succeeds her in Berlin? Not necessarily. Merkel’s strategic choices were not hers alone; they are deeply rooted in the fundamental traditions of German politics and diplomacy. [...] Below the surface are two strategic drivers that have shaped Berlin’s approach to the growing autocratization in its Central European neighborhood. First, is the German elites’ traditional inability to define the country’s national interest in anything other than economic terms since the reunification. In this mindset, geo-economic considerations trump everything else, a trend that has also been well reflected in Germany’s approach to Russia and China. Second, German political and foreign policy culture is extremely consent and dialogue oriented. Speaking with, and not about, the Central European autocrats has been a mantra of German diplomacy for a decade now. However, this foreign policy tradition is practically powerless against counterparts who fake dialogue, like the Hungarian government, or are not ready to move even one step further than simply maintaining channels of communication, like Poland. (Daniel Hegedüs, Politico)

Ich bin unsicher, wie viel aktiven Einfluss irgendein deutsches Regierungsoberhaupt auf die innere Politik Ungarns oder Polens hat. Wie Hegedüs durchaus richtig feststellt ist Merkels Politik eine überparteiliche; Alternativen gibt es eigentlich nicht (sieht man einmal von der Haltung der AfD ab, die wie alle Rechtsextremisten eine engere Bindung an die Autokraten wünscht). Aber Hegedüs übersieht in meinen Augen in seiner Kritik an Merkels Nichtstun gegenüber den osteuropäischen Autokraten ihre  entscheidende Verantwortung in deren Aufstieg.

Denn die Bedingungen, die die Wahlsiege Orbans und in geringerem Ausmaß Kaczinskys möglich gemacht haben, sind eine direkte Folge ihrer ideologischen Politik in der weltweiten Finanzkrise, wie ich in meinem Artikel zur "verdrängten Dekade" gezeigt habe. DAS ist der "stain on the legacy", auch wenn Merkel und viele Anhänger*innen der CDU und FDP das vermutlich anders sehen dürften. Und auch hier ist nicht zu erwarten, dass ein hypothetischer rot-grüner Kanzler Steinmeier 2010/2011 grundsätzlich andere Entscheidungen getroffen hätte...

6) Abschaffung der Stabsstelle Umweltkriminalität: Landesregierung räumt Versäumnisse ein

Im Untersuchungsausschuss des Düsseldorfer Landtags zur umstrittenen Abschaffung der Stabsstelle Umweltkriminalität hat der zuständige Staatssekretär Heinrich Bottermann (CDU) nun eingeräumt, eine konkretere Prüfung der Umstände im Vorfeld sei wünschenswert gewesen. [...] Die Auflösung der Einheit unmittelbar nach Regierungsübernahme im Sommer 2017 ist eine der umstrittensten Entscheidungen der schwarz-gelben Landesregierung. Erst nachträglich hatte das Land bei Wirtschaftsprüfern ein vertrauliches Gutachten in Auftrag gegeben. [...] Jahrelang gab es im NRW-Umweltministerium eine Stabsstelle zur Bekämpfung von Umweltkriminalität. Die unterstützte zum Beispiel Ermittlungen im PCB-Skandal um das Dortmunder Entsorgungsunternehmen Envio und bekämpfte illegalen Tierhandel und Mülldeponien. Umso mehr war die Opposition im Landtag verwundert, als die Stabsstelle 2017 von der neuen, CDU-geführten Landesregierung aufgelöst wurde. Die Landesregierung und die damalige Umweltministerin Christina Schulze Föcking (CDU) hatte stets argumentiert, die Stabsstelle sei in den Jahren vor 2017 ineffizient und von Personalquerelen im Ministerium gelähmt gewesen. Schulze Föcking begründete die Schließung der Stabsstelle am Montag erneut mit Personalmangel. Die Grünen-Fraktion zog eine kritische Bilanz der Zeugenvernehmungen im Untersuchungsausschuss. Der grüne Landtagsabgeordnete Norwich Rüße vermutet "eine planlose und rein politisch motivierte Auflösung der ehemaligen Stabsstelle." (WDR)

Ich habe gar keine großen Zweifel, dass die Behörde gelähmt und wenig funktionsfähig war. Nur, man muss schon extrem naiv sein um anzunehmen, dass Laschet und Lindner ihre Effizienz verbessern wollten. Offensichtlich ging es darum, die entsprechenden Kapazitäten ersatzlos abzubauen, denn einen Plan gab es jenseits der Auflösung ja gerade nicht. Für mich ist das ein ähnliches Beispiel wie bei der Ablehnung des Grünen-Antrags zur Rettung der Ortskräfte: nicht die Auflösung ist das Problem, sondern dass man danach nichts gemacht hat. Das zeigt, dass es kein Interesse seitens Laschets oder Lindners gibt, das Problem Umweltkriminalität anzugehen, ja, dass man den Straftäter*innen sogar helfend unter die Arme greift. Das ist nichts Neues. Man erinnere sich an das grüne Außenministerium in den 2000er Jahren in der Visa-Affäre oder an Roland Kochs Sabotage der Steuerprüfer in Hessen. Man lässt gerne mal Fünfe grade sein, wenn es den eigenen Interessen dient.

7) Die Demokratie der Zukunft

Dass sich Bürger an Budgetentscheidungen beteiligen dürfen, gibt es laut dem Guardian in 1500 Städten weltweit, von Brasilien bis Frankreich. Das funktioniert so gut, weil Bürger oft am besten wissen, was vor Ort gebraucht wird. Aber Boston ist die einzige Stadt auf der Welt, die vor fünf Jahren ein solches Programm allein für Jugendliche ab zwölf Jahren aufgestellt hat und diese seitdem über den Haushalt mitentscheiden lässt.  [...] Was alle überrascht hat: Nur hin und wieder schlägt mal ein Jugendlicher vor, für das ganze Geld Pizza liefern zu lassen. Stattdessen haben sich die jungen Menschen bislang unter anderem für behindertengerechte Spielplätze eingesetzt, für eine Graffitiwand, kostenloses Wifi, neue Gehwege im Park, Jobberatung für Jugendliche, mehr Recycling-Container in der ganzen Stadt und vor allem für Maßnahmen gegen den Klimawandel. »In der letzten Runde hatten wir allein drei ernsthafte Vorschläge für Solarenergie«, sagt Georges. »Es ist absolut erstaunlich, wo Schüler Verbesserungsmöglichkeiten identifizieren.« Sie hält das Programm für einen großen Erfolg: »Die Studierenden lernen, wie in einer Stadt Entscheidungen getroffen werden, was alles dazu gehört, und wie sie Gehör finden können. Die meisten wissen das nicht, zum Beispiel: So entsteht ein Park, oder so wird über die Vergabe von Schulmitteln entschieden.« Noch wichtiger aber sei, dass die Schülerinnen und Schüler merkten, dass sie in der Demokratie eine Stimme hätten - und wie sie sich einbringen könnten. (Michaela Haas, Süddeutsche Zeitung)

"Demokratie der Zukunft" ist mir etwas hoch gegriffen, aber das Programm scheint mir sehr nachahmenswert zu sein. Wie jede Initiative, die demokratische Mitbestimmung in Bereichen verankert, in denen sie sonst nicht zu finden sind - ob die SMV an Schulen, die Astas an Unis, Betriebsräte in Unternehmen, etc. - braucht es davon mehr, denn eine demokratische Gesellschaft erfordert ständiges Einüben und Ausüben von Demokratie. Und die Entscheidung über Geld war schon immer das Königsrecht des Parlaments, deswegen macht der Fokus von Boston darauf, Jugendlichen Budgethoheit zu geben, absolut Sinn.

Mich überrascht auch nicht, dass nur vernünftige Vorschläge dabei herauskommen und nicht Blödsinn gemacht wird. Das ist gleichzeitig auch Indikator für das Problem dieser Maßnahmen und mein Zögern beim "Demokratie der Zukunft". Denn natürlich nehmen nur sehr engagierte Leute an diesen Maßnahmen teil, und logischerweise kommen von denen auch keine Quatschvorschläge. Das ist im Bundestag im Großen und Ganzen ja ähnlich: auch dafür lassen sich nur engagierte Leute aufstellen, die tatsächlich verantwortlich Politik machen wollen (mit Ausnahmen, klar, aber die gibt es immer). Das ist kein Argument gegen die Maßnahme, nur ein Warnung, das nicht zu sehr zu verallgemeinern. Auch in Boston werden die meisten Jugendlichen weiterhin politisch desinteressiert sind. Panacea ist das nicht.

8) Klimaschutz können wir uns tatsächlich leisten

Man müsste also von den Kosten des Klimaschutzes a) den Nutzen desselben und b) die Einsparungen durch die Vermeidung von Klimaschäden abziehen. Das ist eine sehr komplizierte und teilweise auch spekulative Angelegenheit, weil Entwicklungen in der Zukunft vorweggenommen und in heutigen Geldeinheiten ausgedrückt werden müssen. Die meisten vorliegenden Untersuchungen aber zeigen: Es ist billiger, das Klima zu schützen, als es nicht zu schützen. [...] Es wäre aber falsch, aus diesem Grund unter Inkaufnahme hoher gesamtwirtschaftlicher Kosten an der Kohle festzuhalten. Nötig sind vielmehr Umschulungsmaßnahmen, Ausgleichszahlungen, Teilhabemöglichkeiten. Die Lösung von Verteilungsproblemen ist Aufgabe der Verteilungspolitik, nicht der Klimapolitik. Man würde ja auch nicht auf die Idee kommen, den Einsatz moderner Erntemaschinen zu verbieten, nur damit es in der Landwirtschaft wieder mehr Jobs gibt. Der Schutz des Klimas mag an technischen, politischen oder gesellschaftlichen Gründen scheitern – finanziell betrachtet ist er ein Selbstläufer. Es gibt einen schönen Satz des britischen Ökonomen John Maynard Keynes, der den Sachverhalt auf den Punkt bringt: "Anything we can actually do, we can afford" – alles, was wir in der Lage sind zu tun, können wir uns auch leisten. (Mark Schieritz, ZEIT)

Schieritz scheint seinen Tooze gut studiert zu haben. Es ist gut, die entsprechende Argumentation auch auf Deutsch zu lesen, in der Hoffnung, dass sie sich durchsetzt. Schieritz formuliert hier wesentlich konziser und besser als ich im letzten Vermischten, warum keinen Klimaschutz zu betreiben sehr wahrscheinlich teurer ist als ihn zu machen. Es ist höchste Zeit, dass wir auf die Diskussion kommen, WIE wir Klimaschutz am besten betreiben, nicht OB. Zu oft wird das Argument, Klimaschutz gefährde Arbeitsplätze, in der Debatte immer noch ernstgenommen.

9) Merkel hinterlässt einen sicherheitspolitischen Torso

So die wohlwollende Betrachtung. Die Politikwissenschaftler Bastian Giegerich und Maximilian Terhalle, tätig am International Institute for Strategic Studies und am Londoner King‘s College, bilanzieren die Auslandseinsätze in einem aktuellen Beitrag der Zeitschrift „Sirius“ kritischer: „In der Regel einigte man sich darauf, das Mindeste zu tun, was nötig war (und ist), um die internationale Reputation zu wahren.“ Merkel habe es in ihrer 16-jährigen Kanzlerschaft versäumt, ein sicherheitspolitisches Konzept auszuarbeiten, „das auf Basis einer nüchternen Analyse der Herausforderungen eine schlüssige strategische Vision erkennen lässt“. Die gebe es zu zentralen Fragen bis heute nicht, weder im aufziehenden Großmächtekonflikt zwischen den USA und China noch bezüglich Russland. Weiter hinterlasse Merkel eine Bundeswehr, die bei nahezu allen relevanten Indikatoren an Einsatzbereitschaft verloren habe: bei Waffensystemen, Personal, Beschaffungswesen und Verteidigungsausgaben. „Der Einschätzung von Experten zufolge hat die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr, gemessen im Kontext der Kernaufgabe der Bündnisverteidigung, einen historischen Tiefststand erreicht“, schreiben Giegerich und Terhalle. Es habe die politische Bereitschaft gefehlt, die als notwendig erkannten Ausgaben auch zu tätigen. (Thorsten Jungholt, Welt)

Diese Kritik lässt sich kaum widerlegen. Außenpolitisch ist Deutschland in keiner sonderlich guten Verfassung, um es milde auszudrücken. Solche außenpolitischen Nachrufe auf Merkel gibt es gerade zuhauf; Yascha Mounk etwa schreibt im Atlantic "Why the world won't miss Angela Merkel". Frank Spring, mit dem ich bereits zwei Podcasts gemacht habe, schrieb mir in beißendem Sarkasmus: "I for one will miss being told about my country's, and the international community's, various responsibilities to humanitarianism and democratic conduct by someone more than capable of taking action on same but who simply elects not to for reasons that are not altogether clear." Eine ähnliche Stimmung dürfte es vielerorts geben.

Um das deutlich zu machen: das Problem ist nicht der normenbasierte Anspruch deutscher Außenpolitik. Das Problem ist das Fehlen einer Strategie einerseits, das Fehlen von Kapazitäten andererseits, und zum Dritten der absolute Unwillen, irgendetwas zu tun, um diese Normen durchzusetzen. Stattdessen bleibt immer das Schwingen des Zauberstabs von Verhandlungen. Das ist zu wenig.

10) Democrats May Be on the Verge of Climate Disaster

I’m starting to become concerned about President Joe Biden’s ability to pass a climate bill. They’re speaking sotto voce, but still: In the past few days, Democrats on the party’s left and right flanks have started to hint that, well, in some circumstances, given some contingencies, they might prefer no bill to a negotiated compromise with the rival flank. [...] I feel for these groups, to be honest. They may be trying to even the stakes, which remain tilted in the centrists’ favor. As the Michigan State University political-science professor Matt Grossmann recently observed, Manchin and Sinema would prefer no deal to what progressives want, while progressives would prefer Manchin and Sinema’s version to no deal. But if this sort of brinkmanship renders legislation unpalatable, then lawmakers won’t swallow it. And the U.S. will go at least another decade without a climate law. Democrats are haunted by 2009. That year, President Obama came to office promising to reform America’s health-care system and finally get serious about reversing climate change. He managed to do the first. His failure to accomplish the second has spawned a decade of appraisals. (Robinson Meyer, The Atlantic)

Diese Aussicht ist allzu realistisch. Die Mehrheit der Democrats im Kongress ist hauchdünn, und mindestens zwei Senator*innen - Sinema und Manchin - liegen im Bett der fossilen Energie-Industrie. Gleichzeitig kommt starker Druck durch Aktivist*innen auf den linken Flügel der Partei, radikalere Versionen der geplanten Gesetze zu schreiben. Zwischen diesen Fliehkräften könnte die Partei leicht zerrieben werden, wie es bereits Obama (mit seiner wesentlich komfortableren Mehrheit) passiert ist. Und dann ist die nächsten sechs, acht Jahre kein Klimagesetz mehr möglich, weil die Rechtsradikalen alles blockieren werden.

11) Americans Have No Idea What the Supply Chain Really Is

If you get frustrated by your lack of choices at the grocery store or see a little warning about shipping delays at the top of a website and are told that “the supply chain” is at fault, it’s easy to imagine those problems as empty warehouses or idle factories or backed-up container ships or depleted fleets of semitrucks—problems concerning industrial machinery incongruous to the scale of human life and fundamentally disconnected from how you live yours. That’s why the results of these kinds of disruptions can feel so random. But this understanding of the problem is also a little too convenient for consumer-facing companies, which often go to great lengths to ensure that no one in the general public thinks too hard about what any of this means, or why it happens. They want shopping to be fun, to be a relief, to be something that feels as though it solves problems, instead of being a problem itself. Both at home and abroad, labor is the ghost in the machine. The supply chain is really just people, running sewing machines or loading pallets or picking tomatoes or driving trucks. Sometimes, it’s people in the workforce bubbles of foreign factories, eating and sleeping where they work, so companies can keep manufacturing sneakers through a Delta outbreak. The pandemic has tied the supply chain in knots because it represents an existential threat to the lives of the humans who toil in it. The fact that Americans now can safely go on vacation does not mean that people half a world away can safely make new bathing suits for them. The normalcy sought by consumers was created by all of this hidden work, and that normalcy has always been threatened by dangerous working conditions. No one can expect things to go smoothly until everyone is protected. (Amanda Mull, The Atlantic)

Das war eine der Lektionen aus Toozes neuem Buch "Shutdown" (wird in der Bücherliste September besprochen werden). Der Shutdown und damit die Unterbrechung der Lieferketten war keine Folge staatlicher Politik, sondern eine Folge von Individualentscheidungen, die sich zu diesem Ergebnis aufsummierten - Entscheidungen der Arbeitnehmenden auf der einen Seite, nicht mehr zur Arbeit zu kommen, und Entscheidungen der Arbeitgebenden auf der anderen Seite, den jeweiligen Betrieb zu schließen. Das ist ein menschlicher Faktor der Lieferkette.

Der andere menschliche Faktor, der gerne vergessen wird, sind die miesen Bedingungen, die am unteren Ende der Lieferkette oftmals herrschen. Mit den neuen Lieferkettengesetzen rückt dieser Faktor glücklicherweise erstmals mehr ins Bewusstsein. Dazu kommt, dass viele Lieferketten auf der reibungslosen Kooperation von Staaten beruhen, deren Verhältnis zu uns bestenfalls fragwürdig ist. Da ist gerade viel Druck im System.

Dienstag, 21. September 2021

Anti-Fans der Energiewende teilen mit MLK-Syndrom die AfD und treiben im Supreme Court die Anti-Terror-Maßnahmen ab - Vermischtes 21.09.2021

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Die Irrlehre von der teuren Ökowende

Ich habe diese Argumentation schon in meinem Artikel zum Pragmatismus in der Klimakrise vertreten. Nicht massive Investitionen in den Klimaschutz (und ja: auch gerne CO2-Besteuerung nach FDP-Wünschen) sind die unrealistische, teure und unbezahlbare Option, sondern das Weitermachen wie bisher. Schon allein, weil die Entwicklung von Zukunftstechnologien an uns vorbeizugehen droht, wenn wir nicht die entsprechenden Anreize setzen und etwa in Grundlagenforschung investieren.

Gleichzeitig ist das Problem mit den Kosten der Klimakrisenschäden, das Götze hier beschreibt, sehr real. Wenn die Versicherungskosten entweder massiv steigen oder die Risiken einfach unversicherbar werden, haben wir ein Problem. Ebenso haben wir eines, wenn die Katastrophen die Kalkulationen der Versicherer übersteigen und diese einfach bankrott gehen (in einer Art Klimaversion des Zusammenbruchs der Rückversicherer in der Finanzkrise). Im aktuellen finanzpolitischen Modus Vivendi ist es jedenfalls ausgeschlossen, dass in kurzen Intervallen solche Wiederaufbauhilfe geleistet werden kann.

2) „Wir sind ein Land mit Migrationshintergrund“

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat die Familien türkischer Einwanderer als wichtigen Teil Deutschlands gewürdigt. Ein Deutschland ohne die sogenannten Gastarbeiter, ihre Kinder, Enkel und Großenkel sei heute „schlicht nicht mehr vorstellbar“, sagte Steinmeier am Freitag bei einer Veranstaltung zum 60. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens in Berlin. Sie und Einwanderer aus anderen Ländern hätten viel dazu beigetragen, dass Deutschland heute gesellschaftlich offener und vielfältiger, wirtschaftlich stärker und wohlhabender sei. Er sei fest davon überzeugt, dass es Heimat im Plural gebe, erklärte Steinmeier laut vorab veröffentlichtem Redemanuskript: „Deutsch zu sein, das kann heute genauso bedeuten, dass die Großeltern aus Köln oder Königsberg stammen wie aus Istanbul oder Diyarbakir.“ An die Adresse von Eingewanderten sagte er bei der Gesprächsveranstaltung in Schloss Bellevue: „Sie sind nicht ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘ – wir sind ein Land mit Migrationshintergrund!“ [...] Gläubige Muslime gehörten zum deutschen Gemeinwesen genauso wie säkulare Zuwanderinnen und Zuwanderer, betonte der Bundespräsident. „Wenn wir sagen, ‚ihr seid hier zu Hause‘, dann muss auch ihr Glaube in all seiner Vielfältigkeit hier eine Heimat haben.“ Dazu gehörten zum Beispiel die Ausbildung von Imamen oder der islamische Religionsunterricht an den Schulen. (epd, Welt)

Ich bin Steinmeier sehr dankbar dafür, dass er dieses Thema wieder aufgreift - ein Jahrzehnt, nachdem Christian Wulff den einzigen, aber höchst relevanten Marker seiner Präsidentschaft gesetzt hat. Es ist höchste Zeit, dass diese Nation sich endlich zur religiösen Vielfalt bekennt. Integration ist keine Einbahnstraße. Es ist an der deutschen Mehrheitsgesellschaft, den Islam als Bestandteil der deutschen Gesellschaft zu akzeptieren. Umgekehrt ist es am Islam (im Sinne einer religiösen Institution), eine klare, bejahende Haltung zur liberalen Moderne der Bundesrepublik zu finden. Es ist nicht genug, neben Demokratie, Pluralismus und Emanzipation herzuleben. Diese Werte müssen genauso mit der Religion verbunden werden, wie das auch die christlichen Amtskirchen hinbekommen haben.

3) The Anti-Fan Phenomenon

This hate is anything but casual—Guru Gossipers aren’t just observers, they’re investigators. They’ve poured over public business filings and government documents, searching far and wide for anything that feeds the conspiracy: Mimi and her husband are scam artists projecting a false image online to siphon money from anyone stupid enough to buy into their shtick. The tagline of Guru Gossip is “Discussions on YouTube Beauty Gurus, Influencers, Vloggers and Personalities.” The direction of these discussions is self-evident: a dedicated section for “RAVE ABOUT A GURU” has generated 10,799 posts, while “TRASH A GURU” has generated 1,006,706. Mimi Ikonn is just one of hundreds of influencers generating conversation on Guru Gossip each day. While her detractors are dedicated, they’re a much smaller group than those that gather to discuss influencers closer to household names. But if you read through Guru Gossip, sifting through the hundreds of thousands of posts on various influencers, you’ll see that though the details are different, the conspiratorial thinking surrounding each creator is the same: they’re a fake, they’re a fraud, they’re a phony. Accusations of fraud are not reserved for influencers’ financial ventures, but extend into deeply personal claims of duplicity. Yes, their lifestyle businesses are secretly hemorrhaging money; their success is a front. But their relationships are also fake; the romantic affection is only for the ‘gram. Their looks are a deception and their workouts are for show; the only “work” is that of a plastic surgeon. Their charity contributions are insincere; a ploy to appear unselfish, which is, of course, the most selfish thing of all. (Fadeke Adegbuyi, Cybernaut)

In dem Artikel hier wird das "Anti-Fan"-Phänomen an Influencern festgemacht, ein Bereich, auf dem ich mich überhaupt nicht auskenne. Aber das Phänomen an sich ist leider keinesfalls auf die Welt von YouTube- und Instagram-Sternchen beschränkt. Das "Hate-Watching" von Serien etwa ist ebenso weit verbreitet. Woche für Woche sitzen diese Leute vor dem Bildschirm, schauen die neueste Folge einer Serie und führen dann online erbarmungslos Krieg gegen alle, die Spaß an ihr haben. Diese Aktivist*innen sind durch ihr großes commitment an Zeit oftmals in der jeweiligen Blase dominant, obwohl sie nur eine zahlenmäßige Minderheit darstellen, und ruinieren es mit ihrem asozialen, toxischen Verhalten für alle anderen. Wer eine Parallele zur heutigen Politik findet, darf sie behalten.

4) Wahnsinn und Wunschdenken

Jedenfalls meldete sich der Delegierte Norbert Kleinwächter, rief aufgeregt «Seid ihr denn des Wahnsinns?» ins Mikrofon – und bezog sich damit auf einen Antrag, dass man Meuthen für seinen Beitrag disziplinieren solle. Was Kleinwächter meinte, war: Man solle lieber über Konzepte sprechen als über den Partei­chef. That’s it. In manchen Artikeln aber wurde das Zitat als Überschrift verwendet und machte den Eindruck, als hätte Meuthen diese Worte gesprochen, als sei das jetzt die ganz grosse Wende. [...] Aber ob mit oder ohne Perlen­ketten, ob in gebügelten Jeans­hosen oder mit Deutschland­hütchen: Zur Währung der AfD gehören Antisemitismus, Islamophobie, Rassismus, völkisch begründete Überlegenheit. Hass­zerfressen sind sie zudem. Nie geht es darum, den Faschismus in der national­sozialistischen Ausprägung und Tradition infrage zu stellen, sondern immer nur um Geschmacks- und Stilfragen. Um diese oder jene rhetorische Ummantelung. Ich kann keinen Niedergang und Absturz erkennen, keine tiefe Zerrissenheit, die den Zusammenhalt innerhalb der Partei tatsächlich gefährden würde. Ich sehe Macht- und Flügel­kämpfe, aber ist das was Ungewöhnliches? Was mich beunruhigt, ist eine verdächtig schnelle Annäherung der Ost-CDU an die AfD, und es ist eine Frage der Zeit, wann da Koalitionen eingegangen werden. Ich spreche hier nicht über eine Zukunft in Jahrzehnten, sondern eher von Monaten, Minuten, Sekunden. Das sehe ich. «Seid ihr denn des Wahnsinns?», dachte ich jedenfalls, als ich die Texte mancher Kolleginnen las, deren Wunsch­denken und Projektion über das nahende Ende der AfD grösser sind als die eigene politische Urteils­kraft. Sie haben immer die Hoffnung, die AfD werde sich mässigen oder regulieren oder die Real­politik werde aus der Faschisten­partei lauter muster­gültige Demokraten hervorbringen. Das wird nicht geschehen, schönen Gruss an Ungarn, Polen, die halbe Welt. (Mely Kiyak, Republic.ch)

Kiyak weist auf einen wichtigen Punkt hin: die völlige Überbewertung von Machtkämpfen innerhalb von Parteien. Das bezieht sich nicht nur auf die AfD; hier führt diese Überbewertung nur dazu, dass man sich den Laden schönredet. Aber dass Parteien verschiedene Gruppierungen haben, die abgestuft unterschiedliche Herangehensweisen an die Politik haben und versuchen, ihre Ansicht innerparteilich durchzusetzen, sollte nun wenig überraschend sein.

Aber anders als beim Konflikt um Posten zwischen Seeheimern und Netzwerkern in der SPD ist es in der AfD so, dass gewisse Beobachtende krampfhaft versuchen, einen moderaten Flügel auszumachen, mit dem man zusammenarbeiten kann und der quasi die Rettung der Partei darstellt. Aber die AfD ist wesentlich geschlossener und schlagkräftiger, als manche sich das eingestehen wollen. Die gehen nicht weg.

5) MLK syndrome

Following the social and political liberalisations of the last century, modern Western societies have provided little opportunity to take sides in genuinely momentous moral contests. We are no longer in conflict over whether different races deserve equal rights or women can vote or - a more recent achievement - gay people can marry. Public attitudes have consistently become more liberal. For all the fuss about populism, most of us agree on the fundamentals of liberal democracy; we’re just arguing over how to optimise it. That means the stakes are lower than they were. The closest many of us get to a test of political integrity is whether we’re willing to spend more on eco-friendly washing up liquid. It’s all unsatisfyingly undramatic. It means there are fewer opportunities for moral differentiation - fewer ways to mark yourself out as a visionary on the right side of history. Consequently, some are tempted to inflate the real and serious injustices of modern democracies into the direct equivalent of those suffered by African-Americans in the mid-twentieth century, or by Jews and other minorities in Europe earlier on. They are plainly not on the same scale. But by pretending they are, we can promote ourselves to a starring role in history’s drama, rather than accepting that we have bit parts, here to deliver some essential but eminently forgettable dialogue. That’s why law-abiding barristers indulge in speculation about going to jail for their beliefs. Elsewhere, it’s why the use of incorrect terminology gets quickly condemned as “violence”. It’s why people are always “speaking truth to power”; speaking it so often that you wonder whether power is still listening. It’s why every hashtag campaign gets talked about as if it’s a march to Montgomery. And of course, for us to be the Good, they must be the Bad. (Iain Leslie, The Ruffian)

Das ist auch so was, das mich wahnsinnig aufregt. Ich glaube, ich bin da deswegen ein bisschen abgeschirmter dagegen weil ich Historiker bin, da kriegt man eine gewisse berufliche Vorsicht gegenüber historischen Vergleichen. Ich kann weder das ständige "Faschismus!"- oder "Imperialismus!"-Krakele auf der Linken leiden noch die Sozialismus-Beschwörungen, die auf der Rechten dauerhaft in sind (aktuell sind Tempolimit und Mindestlohn glaube ich der Schritt vor dem Mauerbau, man verliert so leicht den Überblick).  Von den völlig geschmacksverwirrten "Ich bin Sophie Scholl"-Anwandlungen bei den Querdenkern gar nicht erst  zu reden.

Ich weiß nicht, ob das wirklich an den gesunkenen Einsätzen liegt. Dieser Gedanke ist aber generell ein wertvoller: Unsere heutigen Kulturkämpfe sind viel niedrigschwelliger und ziviler als frühere. Auch wenn hyperventilierend die Cancel-Culture beschworen oder eine Sprachdiktatur an die Wand gemalt wird, letztlich sind das alles kleine Fische. Eigentlich ist das eine gute Nachricht.

6) Chartbook #36 After Afghanistan: No Post-American world

The Pentagon and the US military-industrial complex are a giant moloch, driven by many interests that do not map in any simple way onto the visions of military planners. But, nevertheless, in the spending patterns we can see a shift towards the priority of high-tech, great power confrontation with China. The momentum is not with the army but the air force, the new Space Force and the navy. R&D spending is gigantic. [...] The scale of this proposed spending is huge. The heavy focus on attack submarines signals aggressive maritime intent. [...] As the CBO notes: “Although the plan calls for building a significant number of unmanned systems, they represent a small fraction of the overall costs of the plan—an average of about $1.2 billion per year, or 4 percent of all shipbuilding costs.” For sake of comparison a single Ford-class aircraft carrier costs $ 12 billion. So, if an Orca, priced at a few tens of million dollars, can sink an aircraft carrier costing billions […] This distinction between development, capital procurement, operational costs and personnel makes it imperative to break down any spending figures into their different components. As calculations like Posen’s suggest, the US could easily downsize its ground forces and tactical air component, saving tens of billions, whilst substantially increasing its throw weight, its global reach and its high-tech advantage. With this in mind, what is perhaps most dramatic about America’s giant defense budgets is their R&D component. Right now it runs to over $100 billion and makes up 14.6% of overall spending. [...] In global competition, the scale of America’s military R&D puts it in a league of its own. (Adam Tooze, Chartbook)

Faszinierend, wie der Fokus der US-Militärausgaben sich dreht. Ich habe dazu zwei Gedanken.

Nummer eins: Die EU hat erst Recht keine Chance, da mitzuhalten, wenn man sich anschaut, wie hierzulande Militärpolitik betrieben wird. Ich bin ziemlich zuversichtlich dass wir zurückfallen werden, auch wenn wir näher an das 2%-Ziel herankommen, weil dieser R&D-Fokus der USA weitgehend fehlt und die uns ihre Technologie nicht oder nur unvollständig geben werden.

Nummer zwei: Es ist jetzt fast 80 Jahre her, dass industrialisierte Staaten in einem direkten Krieg miteinander standen. Die Situation ist damit noch unklarer als sie das 1914 war, als es fast 45 Jahre her war (1871, deutsch-französischer Krieg). Wenn man bedenkt, wie geschockt alle Kriegsteilnehmer 1914 von den technologischen Veränderungen waren und wie hinfällig alle Pläne, wie muss das erst bei einem hypothetischen heißen Krieg zwischen USA und China heute sein! Niemand hat auch nur die geringste Ahnung, wie so ein Krieg auch nur aussehen wird, geschweige denn, wer ihn für sich entscheiden könnte. Solche Unsicherheit ist nicht eben stabilitätsfördernd.

7) Chartbook on Shutdown: Keynes and why we can afford anything we can do.

At the heart of the essay, is the double-edged lesson that 2020 taught us about our capacities for collective action: We have huge capacities for crisis-fighting. We spent trillions on giant fiscal programs to put our economies on life support. We backed them up with huge central bank activism. Financial markets were stabilized. Crash programs of vaccine development produced a suite of vaccines that as of this week have allowed 5.29 billion doses to be distributed worldwide, providing 39 percent of the world’s population with at least one dose. Vaccines that many considered to be impossible as recently as the spring of 2020. We can, as one of my favorite quotes from Keynes says, pay for ‘this and much more. Anything we can actually do we can afford.” But the question is in the doing. Think of everything we have not done. The opportunities gone begging. The discovery of our financial freedom robs us of excuses. This is the hard political edge of the related schools of post-Keynesianism, functional finance and modern monetary theory. If we fail to do something, we should not blame lack of money. [...] The fascination in the quote lies in the tense balance between the liberality of “assuredly we can afford this … we can afford anything” …. and the weighty counterbalance implied by “anything, we can actually do”. Once you have cleared away the obfuscation of budgetary arithmetic, it is the doing that is the problem. 2020 has delivered a grim lesson on that score. (Adam Tooze, Chartbook)

Dieses Keynes-Zitat, mit dem Tooze gerade überall hausieren geht, stellt eine absolut faszinierende Ausgangsproblematik dar. Wenn man tatsächlich von der Realwirtschaft als relevantester Größe ausgeht und damit die künstlichen, selbst auferlegten regulatorischen Fesseln der Ordoliberalen abwirft, dann ändert sich der komplette Referenzrahmen. Sollte sich diese Art der Sicht auf die Wirtschaft durchsetzen, der aktuell noch sein Dasein am linken Rand fristet, wird ein Paradigmenwechsel von der Größe der keynesianischen Revolution in den 1930er/1940er Jahren oder der neoliberalen Revolution der 1970er/1980er Jahre auf uns zukommen. Ich hoffe, dass das passieren wird. Es ist überfällig.

8) The Counterterror War That America Is Winning

Large-scale operations take more time, planning, and funds. Al-Qaeda spent close to half a million dollars in the years prior to the 9/11 attacks, much of which went to American bank accounts to purchase flight training and supplies. Yet not a single transfer was flagged as suspicious. [...] The initial effort began only days after 9/11. Combatting terrorist financing was declared a top priority, as important as the fight against al-Qaeda itself. The PATRIOT Act forced through new banking laws, laying out a host of financial-transparency requirements: U.S. financial institutions now had to know whom they were doing business with, and screen those clients for potential risks. Banks had become tools of national security. Treasury officials knew, however, that this approach had an underlying problem. Despite its outsize influence, the U.S. alone couldn’t keep questionable money out of finance. Global banking is like a network of underground tunnels: Plugging one passage only diverts traffic to other routes. The Bush administration, fond of going it alone in other respects, took to multilateralism to address the issue. In a span of weeks, the U.S. added new names to a United Nations sanctions list targeting al-Qaeda and pushed through an expansive Security Council resolution that required all countries to criminalize the financing of terrorism. In a separate international forum called the Financial Action Task Force (FATF), Washington rushed the adoption of special recommendations detailing precisely how countries should stop terrorist financing. (Julian C. Morse)

Viele Kritiker*innen des "War on Terror" machen es sich in der Tat zu einfach, wenn sie das gesamte Programm als in Bausch und Bogen gescheitert darstellen. Tatsächlich gab es Erfolge; fraglich sind einerseits ihr Preis und die Langzeitfolgen und andererseits das Verhältnis der Kosten-Nutzen-Relation. Natürlich sind viele Maßnahmen an den Flughäfen reine Sicherheits-Show - etwa das Ausziehen von Schuhen oder das Verbot von Flüssigkeiten - aber insgesamt hat die Sicherheit tatsächlich zugenommen. Die meisten Anschläge sind schließlich verhindert worden. Man kann stets die Debatte aufmachen, ob die dem gegenüberstehenden Einschränkungen zu weit gingen oder ob es das wert ist, aber zu behaupten, es sei komplett nutzlos ist falsch.

9) Democrats' abortion rights opportunity

Republican leaders are for once staying quiet about a hot political issue. The Texas GOP's de facto ban on abortion and the right-wing Supreme Court majority's rubber stamp of the law has not been mentioned by Senate Minority Leader Mitch McConnell, or former President Donald Trump, or House Minority Leader Kevin McCarthy. Fox News has largely kept mum on the subject. That uneasiness reflects the fact that the obvious Republican preference on abortion — to ban it under all circumstances without exception — is hideously unpopular. But like any culture war battle, Democrats will have to actually fight to win it. [...] Now, it's easy to see why Democrats are reluctant to come out with full-fledged defenses of abortion — a big chunk of the population thinks there should be at least some limits on its use. Traditional Democratic timidity means party leaders are reluctant to risk a backlash by boldly defending abortion rights. (In a recent tweet President Biden did not even mention the word at all.) But there is a way to thread this rhetorical needle. First, attack Republicans on their most sensitive points: pregnancies resulting from rape or incest, or those that threaten the mother's health, or ones very early in the term. The Texas bill does not have any exceptions for rape or incest, and the provision for the health of the mother is very narrow — covering only an imminent risk of death or "substantial and irreversible impairment of a major bodily function[.]" (Ryan Cooper, The Week)

Die Democrats stehen hier vor einem in der Politik durchaus häufigen Problem: Zwar halten ihre Gegner eine sehr unpopuläre Minderheitenposition, die eigentlich eine Attacke leicht machen sollte. Aber die radikalen Abtreibungsgegner*innen sind zwar eine Minderheit, aber eine wohl organisierte und hoch motivierte, während die "schweigende Mehrheit" zwar überwältigend für liberale Abtreibungsregeln ist, aber das nicht zum bestimmenden Thema ihres politischen Handelns gemacht hat.

Zudem ist die Mehrheit zwar für liberale Abtreibungsrechte, aber damit Wahlkampf zu betreiben ist noch einmal eine ganz eigene Kategorie. Es ist etwas anderes, sich in einer Rede unter "ferner liefen" zum "right to choose" zu bekennen als tatsächlich aktiv Wahlkampf mit dem Recht auf Abtreibung zu betreiben. Dementsprechend hat die Minderheit hier einen starken Hebel in der Hand.

10) All of Those ‘Hysterical’ Women Were Right

Kavanaugh was then confirmed, tipping the Supreme Court toward an anti-abortion majority. [...] Senator Lisa Murkowski of Alaska, a supposed pro-abortion-rights moderate Republican in the same vein as Collins, told reporters that she did not believe Barrett would ever overturn Roe. She voted to confirm Barrett in the middle of Trump’s reelection campaign. And then Trump himself—despite having promised in 2016 to nominate only anti-abortion judges—flatly denied in a debate with then-candidate Joe Biden that Roe was on the ballot. “You don’t know what’s on the ballot. Why is it on the ballot?” Trump asked Biden in an exchange about Roe. “It’s on the ballot in the Court,” Biden said, to which Trump replied, “You don’t know [Barrett’s] view on Roe v. Wade.” [...] Of course, now that Chief Justice John Roberts has sided with the liberal justices on the Texas case, it’s clear that Kavanaugh and Barrett were the votes that effectively ended abortion rights for women in Texas. That was always the plan. It was exactly why they were chosen. Women weren’t being “hysterical” about the threat to Roe—Republicans were simply lying about it. And now they hope we won’t notice. (Laura Bassett, The Atlantic)

Ich kann mich auch noch an die Debatten zu Gorsuch und Kavanaugh hier im Blog erinnern, in denen völlig empört meine Einschätzung eines Rechtsrucks im Supreme Court zurückgewiesen und auf meine politische Disposition geschoben wurde. Nun ist eingetreten, was gerade von linker Seite prophezeit worden war - und offensichtlich für alle, die sich mit der Materie auskannten. Das Recht auf Abtreibung, wie es 1972 mit dem "Roe v. Wade"-Urteil etabliert wurde, ist jetzt praktisch tot. Erst gestern hat der Supreme Court eine offene Anfechtung des Urteils durch Mississippi angenommen, etwas das die Verteidiger*innen Gorsuchs und Kavanaughs immer für praktisch ausgeschlossen erklärt hatten. Es war aber völlig absehbar.

11)

Diese Macht- und Einflusslosigkeit der Grünen hat aber nicht nur realpolitische Gründe, sondern auch institutionelle bzw. rechtliche. Sie ist das Ergebnis des faktischen Verfassungsumbaus, der in der Ära Kurz in Österreich stattgefunden hat. [...] Mit der Koalitionsregierung zwischen der türkisen ÖVP und FPÖ (12/2017 bis 5/2019) und dann mit der ÖVP-Grünen Koalitionsregierung ab 2019 geht eine grundlegende Neuordnung der Organisation der Geschäfte der Regierung ebenso wie eine Bündelung der Ministeriumskompetenzen einher. Dies ist Teil des „Projekts“ von Sebastian Kurz. Die Tendenz geht in Richtung Richtlinienkompetenz für den Bundeskanzler, jedoch ohne dafür die verfassungsrechtliche Grundlage herzustellen. Die Stärkung der Stellung des Bundeskanzlers basiert auf zwei Aspekten: erstens der Anhäufung von Agenden im Bundeskanzleramt in einem nie da gewesenen Ausmaß, und zweitens auf dem Ausbau der zentralisierten Informationsaufgaben. Dies erfolgte auf einer einfachgesetzlichen Grundlage, dem Bundesministeriumsgesetz, das die organisatorische Einteilung und die materielle Aufgabenverteilung in der Regierung regelt. [...] Politik wird innerhalb der Koalitionsregierung nicht in verhandlungsdemokratischer Willensbildung und Akkordierung in grundlegenden Angelegenheiten zwischen den beiden Parteien gestaltet. Nach außen gilt die Abarbeitung der Agenden des Regierungsprogrammes – also der bereits außer Diskussion gestellten Gesetze (z.B. Zentralisierung der Asylbetreuung in einem Bundesbetreuungsgesetz; Einrichtung einer Dokumentationsstelle für politischen Islam ebenso wie ein Kopftuchverbot für Schülerinnen bis 14 Jahre). Nach innen gilt das Prinzip der gegenseitigen Nicht-Einmischung. Ein Prinzip, das der ÖVP, die alle migrationsrelevanten Ministerien leitet, ermöglicht, alleine die Linie vorzugeben. [...] Die ÖVP hat sich das Recht gesichert, im Falle akuten Handlungsbedarfes sich für gesetzliche Maßnahmen andere parlamentarische Mehrheiten, d.h. konkret eine Mehrheit mit der FPÖ, zu suchen. (Sieglinde Rosenberger, Verfassungsblog)

Ich finde solchen Verfassungswandel immer extrem faszinierend. Ich kenne mich zu wenig mit Österreich aus, um viel Belastbares dazu sagen zu können, aber mir scheint, dass der Kardinalfehler der österreichischen Grünen war, von einem Regierungssystem auszugehen, das in der Praxis nicht existiert, sondern nur auf dem (Verfassungs-)Papier. In eine ähnliche Falle tappten die damaligen Koalitionspartner der CDU 1949 auch, als sie die Position des Kanzlers, die Adenauer bekleidete, für vergleichsweise schwach hielten und allesamt innerhalb kürzester Zeit untergebuttert und assimiliert wurden.

Dazu kommt, dass die österreichischen Grünen offensichtlich gewogen und für zu leicht befunden wurden. Die ÖVP spielt sie auf eine Art und Weise an die Wand, gegen die Merkels Ausmanövrieren der FDP 2009-2013 als reiner Kuschelkurs erscheinen muss. Wie Rosenberger im Artikel auch klar sagt, ist österreich zu verschieden von Deutschland, als dass ein Vergleich allzu instruktiv auf eine kommende Regierungsbeteiligung der Grünen wirken könnte, weswegen die Betrachtung unter verfassungsrechtlichen Aspekten interessanter ist.

Verfassungen sind grundsätzlich lebende Dokumente, die ständigen Veränderungen und Neuinterpretationen unterworfen sind. Sie in ihrem gegenwärtigen Zustand zu belassen und für unveränderlich zu erklären ist ein häufiges politisches Manöver, das immer von derjenigen Partei unternommen wird, die von diesem Status Quo gerade profitiert.

Montag, 20. September 2021

Der Angriff auf die Öffentlich-Rechtlichen ist ein Angriff auf die Demokratie

 

In der Weimarer Republik war die Medienlandschaft ungemein parteiisch und nach Klassen und Regionen geteilt. Arbeiter*innen lasen den "Vorwärts". Katholiken blätterten in der "Germania".  Linksliberale fanden sich in der "Vossischen Zeitung", Nationalliberale in der "Frankfurter Zeitung". Rechte und Konservative fanden in den Blättern der Hugenberg-Presse ihre Heimat, während Rechtsextremisten gerne den "Völkischen Beobachter" aufschlugen und "Rote Fahne"-Lesende Kommunisten prügelten. Nach der Machtübernahme 1933 wurden diese Medien dann alle gleichgeschaltet und verbreiteten dieselbe wirklichkeitsferne Propaganda. Im Krieg gab es nur eine Nachrichtenquelle, der die Deutschen vertrauten: den britischen Radiosender BBC. Wenig überraschend war es unter harter Strafe verboten, den "Feindsender" zu hören. Nach dem Krieg sollte auch Deutschland eine solche unbestechliche öffentlich-rechtliche Sendeanstalt bekommen. Die ARD, Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten Deutschland.

Von Beginn an verstand sich dieser öffentlich-rechtliche Dienst als der Demokratie und dem Staatswesen an sich, nicht einer bestimmten Partei, verpflichtet. Der erste Kanzler, Adenauer kam damit nie zurecht. Stets bekämpfte er die ARD; in den 1960er Jahren versuchte er zudem, mit dem ZDF (Zweites Deutsches Fernsehen) ein eigenes "CDU-TV" zu schaffen, ein Plan, der nur deswegen scheiterte, weil das Bundesverfassungsgericht demokratischer dachte als "der Alte". Nicht, dass die ARD komplett neutral gewesen wäre; die öffentlich-rechtlichen waren stets der freiheitlich-demokratischen Grundordnung verpflichtet. Positive Kommentare zu KPD oder SRP suchte man bei der ARD sicher vergebens.

Es war auch die Hoffnung der CDU, endlich einen eigenen, ihnen gewogenen Nachrichtensender gewinnen zu können, die zur Privatisierung des Rundfunks führte (gegen den sich die SPD bis zuletzt sträubte). Diese Hoffnungen allerdings zerschlugen sich. Die dankbaren Unternehmer von Sat1 verschafften Kohl zwar eine halbstündige Sendung zur besten Sendezeit ("Zur Sache, Herr Kanzler"), neben einigen lukrativen und zwielichtigen Parteispenden und späteren wohl dotierten Posten, aber die Sendung wurde bald wegen mangelnder Quote eingestellt, und es begann, was man seither als die Güte des Privatfernsehens in Deutschland kennt: unpolitische, minderwertige Unterhaltung ohne jeden Anspruch.

Auch die Öffentlich-Rechtlichen suchten sich anzupassen, ob durch den Kauf von Fußballlizensen, das Senden von Werbung oder das Einführen ständig neuer Formate und Spartensender. Dass ihr Publikum zunehmend veralterte, konnten sie damit nicht verhindern, wenngleich die Tagesschau noch lange die entscheidende Institution blieb, ehe auch ihr in den späten 2000er Jahren mit der Verbreitung des neuländischen Internets der Rang abgelaufen wurde.

Diese kurze Geschichte des öffentlich-rechtlichen Rundfunks soll kurz illustrieren, woher diese merkwürdige Konstruktion eigentlich kommt. Er war gedacht, um explizit die als Fehler empfundenen Strukturen der Weimarer Republik und Nazi-Zeit auszugleichen und bewusst an das Vorbild der britischen und amerikanischen öffentlichen Anstalten wie BBC und NBC angelehnt.

Diese Aufgabe erfüllte er auch. Die Öffentlich-Rechtlichen waren immer staatstragend, in dem Sinne, als dass er die freiheitlich-demokratische Grundordnung verteidigte. Er hat aber auch eine pädagogische Aufgabe bei der Demokratieerziehung. Politische Bildungsarbeit spielt in Deutschland historisch eine relativ große Rolle, weil man dafür, höflich ausgedrückt, nach den Erfahrungen des Zusammenbruchs von Weimar und der Diktatur des Nationalsozialismus eine gewisse Notwendigkeit erkannte.

Politische Bildung bedeutet: Neutralität, Hinterfragen, Kritisieren, Erläutern, Einordnen, Analysieren. Alleine diese Ziele widersprechen fundamental einer "objektiven" Berichterstattung, wie sie von den Gegner der Öffentlich-Rechtlichen gerade gerne gefordert wird; dazu widersprechen sie oft genug noch einander. Vollends problematisch wird es darin, dass der Öffentlich-Rechtlichen ja auch staatstragend (erneut, im Sinne der FDGO) sein muss. Dabei entstehen zwangsläufig Zielkonflikte, die sich niemals in einer optimalen Art auflösen lassen. (Ein ähnliches Problem hat die politische Bildung natürlich auch in anderen Kontexten, etwa Schulen und Gewerkschaften.)

Die Auflösung dieser Zielkonflikte wird immer irgendeine Seite unbefriedigt zurücklassen. Kaum ein Linker wird in den 1950er Jahren begeisterter ARD-Fan gewesen sein; schließlich wandte sich der Öffentlich-Rechtlichen mit ziemlichem Nachdruck gegen die KPD, die dann 1956 endlich verboten, aber bereits vorher in die politische Bedeutungslosigkeit geschickt wurde. Das hatte natürlich nicht zuvordererst mit dem Öffentlich-Rechtlichen zu tun, aber der leistete seinen Beitrag, weil anders als in Weimar kein abgeschotteter linksextremer Nachrichtenraum bestand. Die Öffentlich-Rechtlichen schufen eine gemeinsame Wirklichkeit für alle Deutschen. Nur die absoluten politischen Ränder fanden sich außerhalb dieses Konsens', und folgerichtig auch außerhalb der Parlamente. Das gilt für die KPD ebenso wie für die SRP, für die Apo wie für Neonazis.

Die Ränder hatten deswegen schon immer ein Problem mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Absolute Neutralität und Objektivität würde ihnen erlauben, diesen breiten Konsens und Meinungsraum zu infiltrieren und an der gewaltigen Legitimität teilzuhaben, die ein Interview in der ARD gibt. Das blieb ihnen lange Zeit versagt. Erst der Aufstieg der LINKEn erlaubte es sporadisch Linksextremist*innen und der Aufstieg der AfD vermehrt Rechtsextremist*innen, ihre Ansichten zur besten Sendezeit herauszuposaunen, als ob es irgendwie legitime Positionen im demokratisch-pluralistischen Meinungsstreit wären - ein Dilemma, aus dem die Medien keines Landes bisher herausgefunden haben.

Aber auch andere Strömungen fanden sich immer wieder auf der unangenehmen Seite der ÖR-Berichterstattung. Adenauers Feindschaft zur ARD ist legendär; nicht umsonst etablierte er das ZDF als wesentlich CDU-treuere Alternative gegen den vermeintlichen "Rotfunk". Das ist natürlich Unfug; die ARD war damals genauso wenig rot wie sie heute grün ist. Aber Hinterfragen und Kritisieren ist nichts, das einem Adenauer in den Kram passt; er war ein reichlich autoritärer Kanzler. Jede Person an der Macht wird ungern hinterfragt und kritisiert. Die CDU ist meist an der Macht, ergo wird sie mehr hinterfragt und kritisiert als die SPD. Sie ist da Opfer ihres eigenen Erfolgs, nicht des "Rotfunks".

Soweit zu Geschichte und Funktion des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Ich schreibe diesen Artikel weniger als einen Erklärartikel, sondern vielmehr als eine Analyse dessen, was aktuell mit ihm vor sich geht. Bereits vor einigen Wochen habe ich Stellung zu dem ebenso verbreiteten wie falschen Narrativ bezogen, der Rundfunk sei mittlerweile ein "Grünfunk". Die Attacken aus dem rechten Spektrum - "rechts" hier als "mitte-rechts" deskriptiv, nicht wertend, und damit CDU und FDP einschließend in Abgrenzung zu Grünen und SPD verstanden  - haben in letzter Zeit ein Besorgnis erregendes Ausmaß angenommen.

Solche Attacken sind grundsätzlich nichts Neues. Von den politischen Rändern kamen sie immer, weil die staatstragende Funktion der Öffentlich-Rechtlichen naturgemäß avers gegenüber radikalen Positionen ist. Die ÖR sind schon durch ihren Aufbau eine extrem mittige Institution, die revolutionärem Wandel abhold ist. Beispiele gibt es genügend. Für die NachDenkSeiten etwa, die das linksradikale Spektrum bedienen, sind die Öffentlich-Rechtlichen Systemmedien, verkappte Agenten des Großkapitals, die Propagandabotschaften im Sinne der herrschenden Klasse senden und deren Propaganda die Herausbildung eines Klassenbewusstseins verhindert. Für die AfD sind die Öffentlich-Rechtlichen ebenfalls Systemmedien, die den Interessen des "wahren" und eigentlichen Volkes entgegenstehen und Teil eines internationalistisch-kosmopolitischen Elitennetzwerks sind.

Diese Kritik von den politischen Rändern ist die Konstante durch die gesamte Bundesrepublik hindurch. Ob SDS oder NPD, stets gehörten die Öffentlich-Rechtlichen zur herrschenden Klasse, stets stellten sie sich gegen den "wahren" Volkswillen, die eigentliche Mehrheit, die die Ränder zu vertreten vorgaben. Es ist klassischer Populismus, und wie immer bei Populismus, ob von links oder rechts, ist er demokratiezersetzend: Hier sind wir, die wahre Mehrheit, und der Rest ist der Feind, der nicht zählt.

Solange diese Ränder klein bleiben und nicht wie in den USA, Großbritannien oder manchen osteuropäischen Staaten die Hälfte des politischen Spektrums übernehmen, ist das kein großes Problem. Es erfüllt sogar die halbwegs nützliche Funktion, die Mitte von den Rändern abzugrenzen. Aber wenn wie in den genannten Fällen der demokratiezersetzende Populismus in die Mitte vorrückt, haben wir ein Problem. Und das ist zunehmend der Fall.

Am extremsten sehen wir das etwa in Maaßens neueste Forderung zur Abschaffung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Natürlich ist Maaßen ein absoluter Rechts-Außen in seiner Partei und steht mit Sicherheit nicht für die CDU als Ganzes. Aber es ist auf der anderen Seite jemand, der von seinem Landesverband aktiv gestützt und vom Bundesvorsitz passiv toleriert wird, eben weil er in der Partei eine Position vertritt, die mittlerweile so groß ist, dass Vorsitzende glauben, sich nicht gegen sie stellen zu können (wie das etwa am Ende in der SPD mit Tilo Sarrazin der Fall war).

Aber bei der CDU findet sich seit einigen Monaten die starke Tendenz, die Öffentlich-Rechtlichen zu delegitimieren und untergraben. Friedrich Merz ist der wohl hervorgehobendste Exponent dieser Bewegung, aber im gesamten konservativ-liberalen Spektrum werden plötzlich Begrifflichkeiten des rechten Randes wie "Systemmedien", "Staatssender" und ähnliche ebenso abwertende wie falsche Begriffe gebraucht, deren Zweck darin besteht, die Legitimität der ÖR anzugreifen. Es ist, als würde ich BILD und Fokus ständig als "Wirtschaftsmedien" bezeichnen, weil sie privatwirtschaftlich organisiert sind. Das hat natürlich auch einen wahren Kern, aber die unterliegende Insinuierung ist dunkler und dient der Delegitimierung als akzeptable Nachrichtenquelle.

Solche Delegitimierungsversuche gibt es natürlich auch von links. Da wäre etwa Maurice Höfgen, ein Wirtschaftsexperte der LINKEn:

Diese Linie ist typisch, und ich kenne sie noch aus meiner eigenen Zeit in dem Spektrum von den NachDenkSeiten. Sie ist harmloser als die Unterstellung von Verschwörungen, wie sie regelmäßig von Albrecht Müller kommen, sicherlich. Aber gleichzeitig würden sie sich in SPD und Grünen nicht finden. Ein anderes Beispiel wären die Aktivist*innen von #FridaysForFuture (und mit Sicherheit auch von Extinction Rebellion und Co, aber zu dem Milieu habe ich gar keinen Bezug), wie etwa hier:

Nur, da sind es eben deutlich die Ränder und die die etablierten Parteien, aus denen das kommt. Nicht, dass es nicht genug Anlass zur Kritik gäbe; die geringe Rolle etwa, die das Thema "Klimakrise" in den Triells spielte, sollte jeden Grünen auf die Barrikaden bringen. Allein, das ist normal. Die Triells sind harmlose Konsensveranstaltungen und versuchen jeden Anschein der Parteilichkeit zu vermeiden, eine Vorsicht, die leider auch jeden möglichen Erkenntnisgewinn zunichte macht und ausschließlich auf "gaffes" und "horse-race journalism" setzt.

Hinter den Attacken aus dem Mitte-Rechts-Spektrum stecken auch handfeste wirtschaftliche und politische Interessen. Wie bereits bei der Einführung ZDFs und des Privatfernsehens haben konservative Politiker*innen die Hoffnung, eine ihnen deutlich geneigte Medienlandschaft zu schaffen.

Das wirtschaftliche Interesse ist hier das des Springer-Konzerns. Angesichts sinkener Auflagen des Flaggschiffs "BILD" und sinkenden Einflusses in der Gesamtbevölkerung - von der publizistischen Macht, die Gerhard Schröder zu seinem berühmten Ausspruch brachte, er brauche nur "BILD, BAMS und Glotze" zum Regieren, ist genauso wie beim "Sturmgeschütz der Demokratie" SPIEGEL wenig geblieben - ist die Schaffung einer hoch engagierten Blase nach dem Vorbild des Murdoch-Konzerns sehr attraktiv. Solche Versuche gab es schon öfter; aktuell unternimmt Springer mit "BILD TV" einen nie dagewesenen Versuch, eine solche Blase aufzubauen.

Dazu werden die entsprechenden Delegitimierungsattacken gefahren. Sonderlich viel Substanz gibt es nicht. Nicht einmal die BILD findet allzu viele Beispiele angeblich tendenziöser Berichterstattung, so sehr sie es auch versucht hat. Das größte Beweisstück bleibt den Rechten eine über zehn Jahre alte Umfrage nach der Parteipräferenz angehender Journalist*innen, die etwa so viel Aussagekraft hat wie eine ähnlich gelagerte Umfrage unter Wirtschaftswissenschaftler*innen. Oder zweifelt jemand, dass die FDP dort überproportional vertreten wäre? Zieht dies die Erkenntnisse der Wissenschaft, die Freiheit ihrer Lehre, die Zustände in den Hörsälen in Frage? Nur aus der Perspektive des politischen Randes.

Man könnte nun mit den Schultern zucken und die Verwerfungen mit einem branchenweiten Strukturwandel abtun, aber die Medien sind einerseits keine Branche wie jede andere. Journalist*innen, ob von den ÖR oder den privat geführten Häusern, genießen zahlreiche rechtlich abgesicherte Privilegien, Privilegien, die für das Funktionieren einer Demokratie essenziell sind. Innerhalb dieses Systems erfüllt der Öffentlich-Rechtlichen noch einmal eine Sonderfunktion, wie ich sie eingangs beschrieben habe. In Deutschland funktionierte dies bis zuletzt wesentlich besser als in fast allen anderen Ländern der Welt. Diese Begeisterung für den deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunk teilen inzwischen auch amerikanische Beobachtende. Die Angriffe auf den Öffentlich-Rechtlichen sind deswegen auch Angriffe auf die Demokratie.

Das heißt nicht, dass es an den Öffentlich-Rechtlichen nichts zu kritisieren gäbe. Weit gefehlt. Die Medienanstalten sind verkrustet, überreguliert, übervorsichtig, verzetteln sich und haben ihre Finger in zu vielen Geschäften drin. Von der ganzen Problematik um die "Depublizierung", eines der abartigsten Mediengesetze der BRD, wollen wir gar nicht anfangen. Stefan Stuckmann schreibt in seinem Artikel "Wer einen starken öffentlich-rechtlichen Rundfunk will, muss ihn radikal umbauen!" auf Übermedien schön über diese Problematik:

Es wäre unfair, sie alle in den gleichen Topf zu werfen, aber viele Forderungen nach einem Radikalumbau der öffentlich-rechtlichen sind klar politisch motiviert, die Sorgen um schlecht ausgegebene Beitragszahlungen fast immer nur vorgeschoben. Doch der Spott und die Ironie, die sich auch jetzt wieder über die konservativen Möchtegern-Reformer ergoss, sind vor allem auch naiv, weil sie verkennen, wie geschickt hier politische, im Falle der AfD sogar antidemokratische Wünsche in Argumente verkleidet werden, denen man schwer widersprechen kann. „Zu teuer, die Strukturen veraltet, der Aufgabenzuschnitt überholt“, schreibt das „MittelstandsMagazin“ der Union gleich im ersten Satz seiner Zusammenfassung des Reformkonzepts – und benennt damit Probleme, die selbst den meisten Menschen in den Sendern längst bewusst sind. [...] Schon die Aufgabe, die wir den Sendern in ihrer jetzigen Form zumuten, klingt unmöglich: Sie sollen zum einen den bewährten Apparat am Laufen halten und zum anderen digital durchstarten, gegen Netflix und Disney und Amazon. Internationalen Milliarden-, im Fall von Amazon sogar Billionenunternehmen, die völlig befreit von analogen Verpflichtungen Inhalte produzieren können, maßgeschneidert für die digitale Welt. [...] Nirgends sonst zeigt sich das Drama der Öffentlich-Rechtlichen besser: Seit Jahrzehnten gibt es kaum jemanden in Deutschland, der soviel Geld und Zeit in Nachwuchs investiert, aber so wenig daraus macht. Und das oft völlig unverschuldet: All die jungen Menschen mit guten Ideen, die jedes Jahr nachkommen, sie zerschellen oft nicht an der Inkompetenz irgendwelcher Vorgesetzter. Sie zerschellen vor allem an einem System, in dem es nie darum geht, das beste Programm zu machen, sondern immer nur das beste Programm für einen bestimmten Sendeplatz.

Reformbedarf gibt es also genug. Daran kann wenig Zweifel bestehen. Die Vorgaben der Politik sind allzuoft widersprüchlich, zudem blockieren eingefahrene Interessen und institutionelle Beharrungskräfte. Die Aussichten auf eine grundlegende Reform sind gering.

In meinen Augen sollten die Öffentlich-Rechtlichen damit aufhören zu versuchen, den Privatsendern Konkurrenz zu machen. Unterhaltung können diese wesentlich besser. Wir brauchen keine Gebühren zu bezahlen und gesetzlich Sendeanstalten zu privilegieren, damit sie die Bundesliga, eine miese Reality-TV-Sendung oder die Synchronisation der neuesten HBO-Serie senden. Dazu gibt es wesentlich bessere Anbieter. Das wird, wie Expert*innen immer wieder betont haben, die Kosten der Öffentlich-Rechtlichen nicht wesentlich drücken (wir reden von einem geringeren einstelligen Eurobetrag vom jetztigen Rundfunkbeitrag). Da geht es eher um das Prinzip.

Die Öffentlich-Rechtlichen stellen aber zahlreiche Programme her, die qualitativ hochwertig und wertvoll sind. Sie finden sich nur nicht im Abendprogramm von ARD und ZDF zur besten Sendezeit, wo Unterhaltungsprogramme einerseits und seichtes Politainment à la Anne Will neben der Nachrichtensimulation der Tagesschau überwiegen. Sieht man sich aber etwa an, was gerade die Regionalsender oder der Deutschlandfunk auf dem Feld der Podcats zustande bringen (ich empfehle hier meine Liste), so stellt sich die Frage, warum dieses Qualitätslevel nicht grundsätzlich auch ins Fernsehen zu bringen sein sollte. Das Traumschiff kann auch auf Pro7 fahren.

Für mich ein Vorbild, wonach das Fernsehprogramm - das ja das sichtbare Flaggschiff der Öffentlich-Rechtlichen ist und die ganze Kritik auf sich zieht - beziehen könnte, Günter Gaus, der in den 1960er Jahren auf Sendung war. Natürlich wäre er heutzutage kein Quotenhit (und war das auch damals nicht), aber wozu finanzieren wir mit horrenden Gebühren die Öffentlich-Rechtlichen, wenn sie nicht grundsätzlich solche Bedenken beiseite lassen könnten? Wenn deren Programm ein Publikumsschlager wäre, bräuchte es die Gebührenstruktur ja nicht, dann könnte man sie auch am freien Markt bestehen lassen. Aber gerade der pädagogische, demokratiebildende Auftrag blockiert genau das, und das zu Recht.

Aber diese Fantasien werden keine Umsetzung erfahren, genauso wenig wie die Abschaffung der Öffentlich-Rechtlichen, wie sie in rechten Fieberträumen stattfindet, oder die Verwandlung in aktivistische Elemente revolutionären Umbruchs, wie es sich im linken Spektrum erhofft wird. Genauso wie jedes andere Element gesellschaftlichen Lebens sind die Öffentlich-Rechtlichen nie so gut, wie sie sein könnten, haben immer Probleme, die berechtigte Kritik erfahren.

Aber: sie sind für die Gesundheit der Demokratie elementar. Die massiven Angriffe, die gerade aus dem rechten Spektrum gefahren werden und die sich immer weiter in den Mainstream fressen - ob in den Kommentarspalten der Welt oder den Leitartikeln des Focus - gefährden daher nicht nur einen bürokratischen Moloch. An diesem Moloch hängt viel mehr. Das sollten wir nicht aus den Augen verlieren.