Montag, 27. September 2021

Der kommende Paradigmenwechsel - keine Angst mehr vor der Inflation

 

Im 20. Jahrhundert fanden zwei große Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik statt. Von der goldstandardbasierten Laissez-Faire-Politik des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts führten der Bruch mit der Weltwirtschaftskrise, der Herausforderung durch totalitäre Regime und der Zweite Weltkrieg zur keynesianischen Globalsteuerung. Die Stagflationskrise der 1970er Jahre dann läutete das Ende dieser Epoche ein und machte den Weg für die neoliberale, monetaristische Revolution frei, die mit Reagan, Milton Friedman und dem Washington Consensus verbunden ist. Ich bin der Überzeugung, dass die 2020er Jahre das Potenzial für einen erneuten Paradigmenwechsel haben.

Doch bevor wir uns der Frage zuwenden können, warum das so ist, möchte ich die beiden vorhergehenden Paradigmenwechsel etwas genauer beleuchten. Ich glaube nämlich, dass beide zwei zentrale Zutaten besaßen, ohne die ein solcher Wechsel nicht möglich ist. Die erste Zutat ist eine Krise, die durchgreifende Reaktionen erzwingt, Unsicherheit schafft und alte Weisheiten in Frage stellt. Und das zweite ist eine Erschöpfung des aktuellen Mainstreams. Sehen wir uns das kurz an den beiden vergangenen Beispielen an.

Als die Weltwirtschaftskrise ab dem Herbst 1929 über den Globus fegte, reagierten die westlichen Staaten wie auf jede andere Krise auch: sie versuchten, den Wert ihrer Währung, der an den Goldpreis gekoppelt war, zu stützen, indem sie ein Austeritätsprogramm fuhren, und gleichzeitig durch interne Abwertung - sprich, deflationäre Politik und damit vor allem Lohnkürzungen - ihre internationale Wettbewerbsposition zu verbessern. Ob Hoover oder Brüning, diese Maßnahmen schufen unermessliches Leid.

Gleichzeitig kamen die totalitären Regime, vor allem die Sowjetunion und Italien, augenscheinlich wesentlich besser durch die Krise und dienten dem linken wie rechten Rand als Vorbild für eine andere Politik (das sowjetische Vorbild war besonders in Großbritannien und Frankreich heiß diskutiert, während Abgesandte aus Italien in den USA gewaltige Aufmerksamkeit erfuhren). Mit der "Machtergreifung" 1933 reihte sich auch Deutschland in die Gruppe totalitärer Staaten, die besser als ihre demokratischen Nachbarn die Krise zu bewältigen schienen, ein.

Ich schreibe bewusst "schienen" und "augenscheinlich", denn die totalitären Regime waren tatsächlich nicht in der Lage, besser auf die Weltwirtschaftskrise zu reagieren. Die UdSSR war wirtschaftlich völlig isoliert und in ihrem mörderischen Aufholprozess durch forcierte Industrialisierung, der sie vom Weltmarkt völlig unabhängig machte, während Italien und Deutschland auf inflationäre Rüstung und Raubkrieg setzten, was, wie sich bald zeigte, keine sonderlich tragfähige Basis war.

Das Gegenmodell kam stattdessen ausgerechnet aus den USA und Großbritannien, den Mutterländern des Kapitalismus. Frankreich gelang ebenfalls eine vergleichsweise ordentliche Abwicklung der Krise, in dem Sinne, dass die Folgen weitgehend abgedämpft wurden, weil hier eine breite Koalition unter Einbeziehung der linken Kräfte Austeritätspolitik verhinderte; neues Wirtschaftswachstum geschaffen wurde hier aber auch nicht in nennenswertem Umfang. Es war die Entfesselung der Wirtschaft durch massive Nachfragepolitik, vor allem im Krieg, und der Wiederaufbau in Europa, der zu einer Stärkung der Arbeitnehmenden, einer Reduktion der Ungleichheit und einem beispiellosen Wirtschaftsaufschwung führte.

Ab den späten 1960er Jahren, endgültig jedoch in den 1970er Jahren, kam dieses Modell an sein Ende. Die Wachstumsraten betrugen "nur" noch 3-5%, die Inflation allerdings kletterte gleichzeitig auf Raten zwischen 3-9%. Dieses Phänomen war weder mit der Neoklassik noch mit dem Keynesianismus erklärbar - Stagnation und Inflation, die man zusammen als "Stagflation" bezeichnete, sollten eigentlich nicht zusammen auftreten, sondern nur entweder das eine oder das andere.

Auch die Antwort auf diese Krise kam aus den USA und Großbritannien, in Form der neoliberalen, angebotsorientierten Wirtschaftspolitik und der Geldtheorie des Monetarismus. Durch einen Zinsschock (nach dem damaligen Fed-Präsidenten in den USA "Volcker-Schock" genannt) der Zentralbanken wurde quasi eine künstliche Rezession geschaffen, der bewusst in Kauf genommene Preis zur Reduzierung der Inflation. Seit den frühen 1980er Jahren sehen die Zentralbanken ihre Funktion hauptsächlich in der Niedrighaltung der Inflationsrate. Diese Aufgabe ist ihnen mit Bravour gelungen. Seit nunmehr 50 Jahren kennen die westlichen Industriestaaten praktisch keine relevante Inflation mehr.

Das war die Bedingung für den Aufstieg der Finanzmärkte, die die regulierende Funktion übernahmen, die in der keynesianischen Ära der Staat und vor der keynesianischen Ära bereits einmal die Finanzmärkte, damals über den Goldstandard, innegehabt hatten (mehr zu diesem Thema in meinem Artikel zur "ersten liberalen Weltordnung"). Für nun fast fünfzig Jahre hat dieser neue Konsens Bestand gehabt. Infragestellt wurde er erstmals während der verdrängten Dekade durch die Finanzkrise, doch die größte Erschütterung brachte nun Covid-19 mit sich.

Und damit sind wir in der Gegenwart angekommen. Wir haben zwei Paradigmenwechsel in der Vergangenheit, die massiv dadurch befeuert wurden, dass die bisher vorherrshende Lehre keine Antworten mehr geben konnte - gleich, was man von den neuen Antworten hielt. Ich bin sicher kein Fan von Monetarismus, Volcker, Neoliberalismus und Reagan, aber es ist schwer zu leugnen dass sie ein Rezept hatten, wo die Keynesianer hauptsächlich ein "weiter so, wird schon" boten. Und wieder steht der herrschende Konsens vor einer Krise, und wieder kann er keine vernünftigen Antworten mehr geben. Um das zu verstehen, müssen wir über Inflation sprechen.

Die Inflation spielt deswegen so eine große Rolle, weil sie der umstrittenste und prominenteste Gegenstand des jeweiligen Paradigmenwechsels ist. Als die Regierungen in den 1930er Jahren eine nach der anderen den Goldstandard aufgaben, der Jahrzehnte als Garant für stabile Währungen (und stabile Volkswirtschaften) gegolten hatte, war das möglich, weil Inflation nicht mehr das zentrale Schreckgespenst war. Stattdessen lebte man in einer Deflationskrise, und der Goldstandard wurde (zu Recht) als Mühlstein um den Hals empfunden.

In den 1970er Jahren aber kehrte die Inflation zurück, wie beschrieben im Gefolge einer gleichzeitigen Stagnation. Bis dahin hatte die Regel gegolten, dass staatliche Wirtschaftspolitik Wachstum durch eine Ausweitung der Geldmenge anheizen und Inflation durch eine Eingrenzung der Geldmenge begrenzen könne - man wählte quasi zwischen Wachstum oder Inflation und suchte den goldenen Mittelweg. Diese scheinbare Gewissheit wurde durch die Stagflation zerstört, und die Monetaristen erhoben demgegenüber die Geldwertstabilität zum höchsten Gut. Die Verhinderung von Inflation, nicht die Herstellung von Vollbeschäftigung, war nunmehr das Gebot der Stunde.

Entsprechend wurde jede staatliche Ausgabenpolitik, gleich zu welchem Zweck - Krankenversicherung in den USA, Green New Deal, Infrastruktur, you name it - immer wenigstens kritisch, oft ablehnend beäugt, weil die Befürchtung im Raum stand, dass die Inflation zurückkehren könnte. Stattdessen galt die Selbstbeschränkung staatlicher Ausgabenpolitik, von Maastricht über die Schwarze Null hin zum debt ceiling.

Doch in den letzten beiden Jahren ist ein merkwürdiger Wandel eingetreten. Sowohl in den USA als auch in der EU hat die Corona-Krise zu einer Staatsverschuldung in nie dagewesenem Ausmaß geführt. Die Konsequenzen für die Inflation einerseits und die volkswirtschaftliche Stabilität andererseits waren nicht existent beziehungsweise sehr positiv. Dem herrschenden Paradigma zufolge sollte das eigentlich nicht passieren. Dieses Paradigma hat letztlich keine Antwort. Stattdessen werden gebetsmühlenartig dieselben Inflationswarnungen ausgegeben - genauso, wie in den 1970er Jahren das nächste Investitionsprogramm sicher den selbstragenden Aufschwung starten würde.

Dieses Fernbleiben der Inflation überrascht mich nicht großartig. Viel der Furcht ist pathologisch. Mark Blyth erklärt im Guardian die Ursprünge der rechten Inflationspanik, die sich in praktisch allen westlichen Volkswirtschaften auf dieser Seite des politischen Spektrums findet. Unter dem Eindruck der Stagflation hatten die linken Akteure kein eigenes Narrativ gehabt. Sie grummelten zwar über das herrschende Paradigma, wie die Rechten unter dem keynesianischen Paradigma der Nachkriegszeit gegrummelt hatten, aber eine echte Alternative besaßen sie nicht.

Doch unter der Oberfläche hat sich ein neues Verständnis von Zentralbanken und Geldpolitik breit gemacht. Anstatt die mythisierte und verzerrte Darstellung in der populären Erzählung des herrschenden Paradigmas - die heilige unabhängige Zentralbank, an die unverantwortliche Verteilungspolitiker*innen (gerne aus West- und Südeuropa) die Axt legen wollen - weiter zu erzählen, schauten sie genauer hin. Ich möchte nur kurz zwei Beispiele anführen.

Stefan Eich etwa fragt in seinem Aufsatz zurecht "Unabhängigkeit wovon?". Er fragt sich, warum die Zentralbank eine so undemokratische Institution ist und warum sie nicht unabhängig von den Finanzmärkten ist, wie das doch eigentlich angeblich der Fall sein sollte. Ist diese Unabhängigkeit als Mythos aber erst einmal in Frage gestellt, folgt der Rest wie ein Kartenhaus. Denn wenn die Notenbank eine weitere Institution, ein weiterer Akteur ist, dann darf sie plötzlich auch kritisiert werden.

Christian Odendahl indessen erklärt in seinem Artikel, dass die europäischen Regierungen völlig zu Recht keine Angst vor der Inflation haben. Es ist auffällig, wie wenig er in den beiden vorangegangenen Paradigmen verhaftet ist. Anders als etwa viele Kritiker*innen der herrschenden monetaristisch-neoliberalen Lehre von links findet sich bei ihm wenig Blick zurück auf die goldene Nachkriegszeit, von der die Wende mit Reagan und Thatcher als Sündenfall empfunden wird. Stattdessen finden wir eine rein ökonomische Betrachtung des Ist-Zustands.

Diese Analyse der aktuellen Umstände ist in Deutschland aus den von Blythe beschriebenen psychologischen Gründen nicht weit verbreitet, aber in Ländern, die diesbezüglich keine nationalen Traumata aufzuarbeiten haben, wesentlich weiter gediehen. Diese haben entsprechend in den Jahren seit der Finanzkrise, wenngleich gegen erbitterten (und letztlich sinnlosen, weil unhaltbaren) deutschen Widerstand, den langsamen Umbau der Euro-Zone betrieben. Es gehört zu den großen Ironien der Geschichte, dass die AfD, die FDP und der rechte CDU-Flügel ja durchaus Recht damit haben, dass Draghi und Co den Euro umbauen; nur, sie retten ihn, während das Festhalten an überkommenen Ideologien durch die Genannten ihn in den Abgrund gerissen hätte.

Und damit sind wir im Bundestagswahlkampf. Es ist auffällig, wie schwach das herrschende Paradigma ist. Nirgendwo sieht man das so deutlich wie an der Figur Friedrich Merz. Merz war in den späten 1990er und den 2000er Jahren so etwas wie das Poster-Child des deutschen Reformdiskurses. Niemand im politischen Mainstream forderte entschlossenere, radikalere Reformen als er. Vermutlich hat nie ein CDU-Politiker das Paradigma so sehr verkörpert wie er. Seine erstaunliche Renaissance seit 2018 ist vor allem Nostalgie für die Sicherheit dieser vergangenen Tage; sein Unvermögen, eine Mehrheit der Partei hinter sich zu scharen, selbst gegen einen Kandidaten wie Armin Laschet, legt dagegen beredtes Zeugnis ab. Als er allerdings vergangene Woche in einer Art Mini-TV-Duell auf Hubertus Heil traf, fiel selbst dem eher konservativen Beobachter Frank Lübberding von der FAZ Merz' verblüffende Ideenlosigkeit auf. Ich halte diese für symptomatisch.

Denn diese Ideenlosigkeit ist nicht auf Merz beschränkt. Nach fünf Jahrzehnten unangefochtener Herrschaft ist das Paradigma am Ende. Es kann keine Antworten mehr auf die Fragen der Gegenwart geben. Wenn es Merz nicht einmal mehr schafft, überzeugend gegen eine Mindestlohnerhöhung zu argumentieren, wer dann?

Was anstelle des alten Paradigmas treten wird, ist aktuell noch völlig unklar. Die besten sichtbaren Chancen hat gerade irgendeine Form von MMT. Nicht, weil MMT eine besonders brillante ökonomische Theorie wäre (das kann ich nicht beurteilen), sondern weil sie zwei Eigenschaften hat, die gerade stark nachgefragt sind. Einerseits bietet sie ein eingängiges Narrativ, das mit der Laffer-Kurve der 1980er Jahre konkurrieren kann; diese politisch-narrative Dimension habe ich bereits vor zwei Jahren in einer Analyse vorhergesagt. Andererseits gibt sie Antworten auf die drängenden Fragen. Man kann darüber streiten, ob diese Antworten gut sind - das passiert hier in den Kommentarspalten ja auch - aber die MMT hat derzeit auf ihrer Seite, dass sie das einzige Paradigma ist, das überhaupt Antworten bietet. Allein deswegen ist sie gerade im Aufwind.

Es ist gut möglich, dass sich andere Alternativen etablieren und MMT den Rang ablaufen werden; die Theorie ist bisher nur am linken Rand verbreitet und findet innerhalb des progressiven Spektrums viele Kritikter*innen. Aber ich bin ziemlich zuversichtlich, dass das nächste Paradigma aus dem progressiven Spektrum kommen wird. Das ist schlichtweg normale politische Dynamik. Die konservativ-liberalen Kräfte sind zu sehr mit dem alten Paradigma verhaftet, als dass sie es zugunsten eines neuen einfach aufgeben könnten. Die Progressiven dagegen hungern seit fünf Jahrzehnten danach, wieder der Mainstream zu sein. Allein dieser Hunger ist ein großer Treiber, ganz egal, wie ausgefeilt und tragfähig das neue Konzept sein wird (Reagonomics war ja auch mehr Narrativ als konkrete ökonomische Theorie, und die Vulgärversion der heutigen Konservativen würde Milton Friedman im Grab rotieren lassen, genauso wie Maynard Keynes sicher keine freundlichen Worte für die Wirtschaftspolitiker der 1970er Jahre hätte).

Dies ist jedenfalls meine reichlich unspezifische Überblicksprognose für das kommende Jahrzehnt, was den Wandel des Wirtschaftsparadigmas angeht. In meinen Augen sehen wir das bereits seit der Finanzkrise in der EZB, seit Corona im Finanzministerium und auch in den USA, vor allem seit der Amtsübernahme Bidens (aber auch schon in der Covid-Krisenreaktion unter Trump!). Ich mag mich natürlich täuschen. Aber die strukturellen Faktoren scheinen mir doch ziemlich deutlich in diese Richtung zu zeigen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.