Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.
1) The Economic Mistake Democrats Are Finally Confronting
For now, though, it’s Democrats who are starting to take supply-side concerns seriously. But before we get to that, I want to widen the definition of “supply,” a dull word within which lurks thrilling possibilities. Supply-side progressivism shouldn’t just fix the problems of the present, it should hasten the advances of the future. [...] Too often, though, progressives let their argument drop there. They need to take the obvious next step: We should combine price controls with new policies to encourage drug development. That could include everything from more funding of basic research to huge prizes for discovering drugs that treat particular conditions to more public funding for drug trials. [...] In a blog post, Jared Bernstein, a member of President Biden’s Council of Economic Advisers, and Ernie Tedeschi, a senior policy economist for the council, framed the Biden agenda as “an antidote for inflationary pressure” because much of it expands the long-term supply of the economy. “The transportation, rail, public transit, and port investments will reduce efficiency-killing frictions that keep people and goods from getting to markets as quickly as they should,” they wrote. “The child and elder care investments will boost the labor supply of caretakers. The educational investments in pre-K and community college will eventually show up as higher productivity as a result of a better-educated work force.” (Ezra Klein, New York Times)
Am linken Rand ist gerade sehr viel Bewegung in der ökonomischen Debatte zu erkennen. Ob Stephanie Keltons MMT oder die hier propagierte Hinwendung zu "progressive supply side economics", für mich wirkt das alles sehr wie der Aufstieg der Neoliberalen in den frühen 1970er Jahren. Noch ist der Konsens ein anderer, und er wird es auch noch eine Weile bleiben, aber die unzweifelhaft bestehenden ökonomischen Probleme verlangen nach einer neuen Antwort, und eine solche kommt, egal was man von ihr hält, nur aus einer Richtung. Eine solche Einseitigkeit in Problemlösungsstrategien gab es auch beim vorherigen Paradigmenwechsel in den 1930er/1940er Jahren.
2) Das überwachte Klassenzimmer
Ein Familienbild, das seinen Weg auch in den neuen nationalen Lehrplan gefunden hat. Dieser hat noch andere Lernziele. Ziele, über die László Miklósi nur den Kopf schütteln kann. In seinem Büro der Vereinigung der Geschichtslehrer hat er ein Exemplar des neuen Lehrplans auf dem Tisch liegen. Miklósi ist seit 25 Jahren Vorsitzender der Vereinigung der ungarischen Geschichtslehrer. Die Bestrebungen der konservativen Regierung, ihre Version der ungarischen Geschichte und der ungarischen Identität auch in den Schulen zum Maßstab zu machen, haben ihn und seine Stellvertreterin Ildikó Repárszky zu bekannten Akteuren im Land gemacht. Sie fühlen sich zunehmend bedrängt und sehen in den neuen Lehrplänen, Schulbüchern und Gesetzen den Versuch, ihnen eine Ideologie aufzuzwingen. [...] Das war lange vorbereitet. Schon kurz nach ihrem Wahlsieg 2010 beginnt die rechtskonservative Fidesz-Regierung mit der Zentralisierung des Bildungssystems. Reformen sind tatsächlich dringend notwendig, die Lehrer sind unterbezahlt, Lehrpläne veraltet und überladen mit lexikalischem Wissen. Die Regierung nutzt die Reformen vor allem, um ihren Einfluss auszubauen. Dem neu gegründeten staatlichen Klebelsberg-Institut wird zunächst die Verwaltung der Schulen übertragen, erst Jahre später werden wieder kleinere Regional-Behörden geschaffen. Die Autonomie der Schulen wird drastisch eingeschränkt, der freie Markt für Lehrbücher abgeschafft. Jetzt verteilt die Regierung die Schulbücher. [...] Eine neue Gruppe unter Führung des staatlichen Klebelsberg-Instituts veröffentlicht im Januar 2020 eine weitere Fassung des nationalen Lehrplans. Er ruft Empörung hervor. Imre Kertész, einziger ungarischer Nobelpreisträger für Literatur, kommt nicht vor. In seinem berühmten Roman eines Schicksallosen beschreibt er seine Gefangenschaft im Konzentrationslager Auschwitz. Statt Kertész werden Antisemiten wie Albert Wass und der Nationalsozialist József Nyírő in den Kanon gehoben. "Die literarischen Werke haben eine wertevermittelnde Funktion", heißt es im Lehrplan. "Sie vermitteln normative Werte, die den Wertekanon der Mehrheit der Gesellschaft spiegeln." (Sugárka Sielaff, ZEIT)
Die ungarische "Bildungspolitik" ist der feuchte Traum der AfD und Leuten wie Maaßen. Das ist genau das, was die auch für Deutschland wollen. Auch die Begeisterung der amerikanischen Rechten für Ungarn, die sich mit Lobhudeleien auf Orban geradezu überschlagen, kommt daher. In den amerikanischen Südstaaten ist diese Art von "Bildungspolitik" ja traditionsreich; dort werden aktuell wieder massive Anstrengungen unternommen, um eine genehme Version der Geschichte vorzugeben und die Lehrkräfte zu ihrer Umsetzung zu zwingen. Beispiele für diese real existierende Cancel Culture gibt es leider zur Genüge.
Der österreichische Kanzler Kurz indessen fordert "mehr Fairness" für Polen und Ungarn, was nach Lage der Dinge nur heißen kann, die Autokraten gewähren zu lassen. Kurz selbst unternimmt für Österreich ähnliche identitätspolitische Programme bereits seit seiner Zeit in Koalition mit der ÖVP und hat auch in der türkis-grünen Koalition nicht damit aufgehört. Mit liberalen Werten, wie sie die EU eigentlich verteidigen sollte, hat das alles wenig zu tun. Die Aussichten, dass etwas dagegen getan wird, sind, wie ich in Fundstück 5 weiter asuführe, eher gering.
3) Nolte: Howard Stern Proves Democrats Want Unvaccinated Trump Voters Dead
Because leftists like Stern and CNNLOL and Joe Biden and Nancy Pelosi and Anthony Fauci are deliberately looking to manipulate Trump supporters into not getting vaccinated. Nothing else makes sense to me. In a country where elections are decided on razor-thin margins, does it not benefit one side if their opponents simply drop dead? If I wanted to use reverse psychology to convince people not to get a life-saving vaccination, I would do exactly what Stern and the left are doing… I would bully and taunt and mock and ridicule you for not getting vaccinated, knowing the human response would be, Hey, fuck you, I’m never getting vaccinated! [...] No one wants to cave to a piece of shit like that, or a scumbag like Fauci, or any of the scumbags at CNNLOL, so we don’t. And what’s the result? They’re all vaccinated, and we’re not! And when you look at the numbers, the only numbers that matter, which is who’s dying, it’s overwhelmingly the unvaccinated who are dying, and they have just manipulated millions of their political enemies into the unvaccinated camp. (John Nolte, Breitbart)
Ich liebe diesen Artikel. Selten sagen Leute so offen, wie unendlich bescheuert sie sind. An dieser Stelle nur noch zwei Anmerkungen: Noltes Twitter-Handle ist @makesfunofothers. Nur um seine Empörung darüber, dass ein willkürlich herausgegriffener C-Promi, den er mit "den Democrats" gleichsetzt, über Impfgegner*innen spottet, ins Verhältnis zu setzen. Diese Art beknackten Aktivismus ist auf der amerikanischen Rechten auch kein Einzelfall. Der Frontrunner des Ohio-Wahlkampfs indes erklärt, dass es kaum Zufall sein kann, dass "Pandemic" ein "dem" im Namen hat. Da weiß man echt nicht mehr weiter.
First, any policy change creates winners and losers. Politicians must worry if those policy losers become lost voters. Even if a policy provides net benefits, and even if the polling is favorable, voters who get the short end will have long memories. They may become loud opponents, driven by a single issue. And if you are a representative from a swing district, a small fraction of newly angered single-issue voters could mean losing office. [...] Messing with the long-standing status quo can make people nervous. [...] Democrats are reasonably and honorably taking a big gamble on the Build Back Better bill. Knowing that their impossibly thin congressional majority may soon disappear, they are crafting what is possibly the biggest single piece of legislation in history, hoping to solidify progressive reforms that Republicans will find hard to undo, even if they take congressional control. But since moderates are insisting that any such bill be “paid for,” enacting new revenue streams has become a legislative necessity. Figuring out which ones? That’s not so easy. (Bill Scher, Washington Monthly)
Die Obsession mit dem "to pay for" irgendwelche Programme ist der Mühlstein am Hals der Democrats. Er war es während der zwei Amtszeiten Obamas und er ist jetzt in der Amtszeit Bidens. Die Republicans haben keine solchen Skrupel. Ob die Steuergeschenke Bushs oder Trumps, "paid for" war da gar nichts. Aber sie waren extrem populär und zudem in ihrer Funktion - den Staat seines Handlungsspielraums berauben und massiv von unten nach oben verteilen - sehr effektiv. Solange die Democrats nicht endlich diese selbstauferlegten Fesseln ablegen, werden sie nie effektiv sein können.
5) The stain on Merkel’s legacy
Could Merkel have acted differently, drawing hard red lines for Hungary and Poland? No question. But can Europe expect a radically different, critical approach toward the EU’s wannabe autocrats from whoever succeeds her in Berlin? Not necessarily. Merkel’s strategic choices were not hers alone; they are deeply rooted in the fundamental traditions of German politics and diplomacy. [...] Below the surface are two strategic drivers that have shaped Berlin’s approach to the growing autocratization in its Central European neighborhood. First, is the German elites’ traditional inability to define the country’s national interest in anything other than economic terms since the reunification. In this mindset, geo-economic considerations trump everything else, a trend that has also been well reflected in Germany’s approach to Russia and China. Second, German political and foreign policy culture is extremely consent and dialogue oriented. Speaking with, and not about, the Central European autocrats has been a mantra of German diplomacy for a decade now. However, this foreign policy tradition is practically powerless against counterparts who fake dialogue, like the Hungarian government, or are not ready to move even one step further than simply maintaining channels of communication, like Poland. (Daniel Hegedüs, Politico)
Ich bin unsicher, wie viel aktiven Einfluss irgendein deutsches Regierungsoberhaupt auf die innere Politik Ungarns oder Polens hat. Wie Hegedüs durchaus richtig feststellt ist Merkels Politik eine überparteiliche; Alternativen gibt es eigentlich nicht (sieht man einmal von der Haltung der AfD ab, die wie alle Rechtsextremisten eine engere Bindung an die Autokraten wünscht). Aber Hegedüs übersieht in meinen Augen in seiner Kritik an Merkels Nichtstun gegenüber den osteuropäischen Autokraten ihre entscheidende Verantwortung in deren Aufstieg.
Denn die Bedingungen, die die Wahlsiege Orbans und in geringerem Ausmaß Kaczinskys möglich gemacht haben, sind eine direkte Folge ihrer ideologischen Politik in der weltweiten Finanzkrise, wie ich in meinem Artikel zur "verdrängten Dekade" gezeigt habe. DAS ist der "stain on the legacy", auch wenn Merkel und viele Anhänger*innen der CDU und FDP das vermutlich anders sehen dürften. Und auch hier ist nicht zu erwarten, dass ein hypothetischer rot-grüner Kanzler Steinmeier 2010/2011 grundsätzlich andere Entscheidungen getroffen hätte...
6) Abschaffung der Stabsstelle Umweltkriminalität: Landesregierung räumt Versäumnisse ein
Im Untersuchungsausschuss des Düsseldorfer Landtags zur umstrittenen Abschaffung der Stabsstelle Umweltkriminalität hat der zuständige Staatssekretär Heinrich Bottermann (CDU) nun eingeräumt, eine konkretere Prüfung der Umstände im Vorfeld sei wünschenswert gewesen. [...] Die Auflösung der Einheit unmittelbar nach Regierungsübernahme im Sommer 2017 ist eine der umstrittensten Entscheidungen der schwarz-gelben Landesregierung. Erst nachträglich hatte das Land bei Wirtschaftsprüfern ein vertrauliches Gutachten in Auftrag gegeben. [...] Jahrelang gab es im NRW-Umweltministerium eine Stabsstelle zur Bekämpfung von Umweltkriminalität. Die unterstützte zum Beispiel Ermittlungen im PCB-Skandal um das Dortmunder Entsorgungsunternehmen Envio und bekämpfte illegalen Tierhandel und Mülldeponien. Umso mehr war die Opposition im Landtag verwundert, als die Stabsstelle 2017 von der neuen, CDU-geführten Landesregierung aufgelöst wurde. Die Landesregierung und die damalige Umweltministerin Christina Schulze Föcking (CDU) hatte stets argumentiert, die Stabsstelle sei in den Jahren vor 2017 ineffizient und von Personalquerelen im Ministerium gelähmt gewesen. Schulze Föcking begründete die Schließung der Stabsstelle am Montag erneut mit Personalmangel. Die Grünen-Fraktion zog eine kritische Bilanz der Zeugenvernehmungen im Untersuchungsausschuss. Der grüne Landtagsabgeordnete Norwich Rüße vermutet "eine planlose und rein politisch motivierte Auflösung der ehemaligen Stabsstelle." (WDR)
Ich habe gar keine großen Zweifel, dass die Behörde gelähmt und wenig funktionsfähig war. Nur, man muss schon extrem naiv sein um anzunehmen, dass Laschet und Lindner ihre Effizienz verbessern wollten. Offensichtlich ging es darum, die entsprechenden Kapazitäten ersatzlos abzubauen, denn einen Plan gab es jenseits der Auflösung ja gerade nicht. Für mich ist das ein ähnliches Beispiel wie bei der Ablehnung des Grünen-Antrags zur Rettung der Ortskräfte: nicht die Auflösung ist das Problem, sondern dass man danach nichts gemacht hat. Das zeigt, dass es kein Interesse seitens Laschets oder Lindners gibt, das Problem Umweltkriminalität anzugehen, ja, dass man den Straftäter*innen sogar helfend unter die Arme greift. Das ist nichts Neues. Man erinnere sich an das grüne Außenministerium in den 2000er Jahren in der Visa-Affäre oder an Roland Kochs Sabotage der Steuerprüfer in Hessen. Man lässt gerne mal Fünfe grade sein, wenn es den eigenen Interessen dient.
Dass sich Bürger an Budgetentscheidungen beteiligen dürfen, gibt es laut dem Guardian in 1500 Städten weltweit, von Brasilien bis Frankreich. Das funktioniert so gut, weil Bürger oft am besten wissen, was vor Ort gebraucht wird. Aber Boston ist die einzige Stadt auf der Welt, die vor fünf Jahren ein solches Programm allein für Jugendliche ab zwölf Jahren aufgestellt hat und diese seitdem über den Haushalt mitentscheiden lässt. [...] Was alle überrascht hat: Nur hin und wieder schlägt mal ein Jugendlicher vor, für das ganze Geld Pizza liefern zu lassen. Stattdessen haben sich die jungen Menschen bislang unter anderem für behindertengerechte Spielplätze eingesetzt, für eine Graffitiwand, kostenloses Wifi, neue Gehwege im Park, Jobberatung für Jugendliche, mehr Recycling-Container in der ganzen Stadt und vor allem für Maßnahmen gegen den Klimawandel. »In der letzten Runde hatten wir allein drei ernsthafte Vorschläge für Solarenergie«, sagt Georges. »Es ist absolut erstaunlich, wo Schüler Verbesserungsmöglichkeiten identifizieren.« Sie hält das Programm für einen großen Erfolg: »Die Studierenden lernen, wie in einer Stadt Entscheidungen getroffen werden, was alles dazu gehört, und wie sie Gehör finden können. Die meisten wissen das nicht, zum Beispiel: So entsteht ein Park, oder so wird über die Vergabe von Schulmitteln entschieden.« Noch wichtiger aber sei, dass die Schülerinnen und Schüler merkten, dass sie in der Demokratie eine Stimme hätten - und wie sie sich einbringen könnten. (Michaela Haas, Süddeutsche Zeitung)
"Demokratie der Zukunft" ist mir etwas hoch gegriffen, aber das Programm scheint mir sehr nachahmenswert zu sein. Wie jede Initiative, die demokratische Mitbestimmung in Bereichen verankert, in denen sie sonst nicht zu finden sind - ob die SMV an Schulen, die Astas an Unis, Betriebsräte in Unternehmen, etc. - braucht es davon mehr, denn eine demokratische Gesellschaft erfordert ständiges Einüben und Ausüben von Demokratie. Und die Entscheidung über Geld war schon immer das Königsrecht des Parlaments, deswegen macht der Fokus von Boston darauf, Jugendlichen Budgethoheit zu geben, absolut Sinn.
Mich überrascht auch nicht, dass nur vernünftige Vorschläge dabei herauskommen und nicht Blödsinn gemacht wird. Das ist gleichzeitig auch Indikator für das Problem dieser Maßnahmen und mein Zögern beim "Demokratie der Zukunft". Denn natürlich nehmen nur sehr engagierte Leute an diesen Maßnahmen teil, und logischerweise kommen von denen auch keine Quatschvorschläge. Das ist im Bundestag im Großen und Ganzen ja ähnlich: auch dafür lassen sich nur engagierte Leute aufstellen, die tatsächlich verantwortlich Politik machen wollen (mit Ausnahmen, klar, aber die gibt es immer). Das ist kein Argument gegen die Maßnahme, nur ein Warnung, das nicht zu sehr zu verallgemeinern. Auch in Boston werden die meisten Jugendlichen weiterhin politisch desinteressiert sind. Panacea ist das nicht.
8) Klimaschutz können wir uns tatsächlich leisten
Man müsste also von den Kosten des Klimaschutzes a) den Nutzen desselben und b) die Einsparungen durch die Vermeidung von Klimaschäden abziehen. Das ist eine sehr komplizierte und teilweise auch spekulative Angelegenheit, weil Entwicklungen in der Zukunft vorweggenommen und in heutigen Geldeinheiten ausgedrückt werden müssen. Die meisten vorliegenden Untersuchungen aber zeigen: Es ist billiger, das Klima zu schützen, als es nicht zu schützen. [...] Es wäre aber falsch, aus diesem Grund unter Inkaufnahme hoher gesamtwirtschaftlicher Kosten an der Kohle festzuhalten. Nötig sind vielmehr Umschulungsmaßnahmen, Ausgleichszahlungen, Teilhabemöglichkeiten. Die Lösung von Verteilungsproblemen ist Aufgabe der Verteilungspolitik, nicht der Klimapolitik. Man würde ja auch nicht auf die Idee kommen, den Einsatz moderner Erntemaschinen zu verbieten, nur damit es in der Landwirtschaft wieder mehr Jobs gibt. Der Schutz des Klimas mag an technischen, politischen oder gesellschaftlichen Gründen scheitern – finanziell betrachtet ist er ein Selbstläufer. Es gibt einen schönen Satz des britischen Ökonomen John Maynard Keynes, der den Sachverhalt auf den Punkt bringt: "Anything we can actually do, we can afford" – alles, was wir in der Lage sind zu tun, können wir uns auch leisten. (Mark Schieritz, ZEIT)
Schieritz scheint seinen Tooze gut studiert zu haben. Es ist gut, die entsprechende Argumentation auch auf Deutsch zu lesen, in der Hoffnung, dass sie sich durchsetzt. Schieritz formuliert hier wesentlich konziser und besser als ich im letzten Vermischten, warum keinen Klimaschutz zu betreiben sehr wahrscheinlich teurer ist als ihn zu machen. Es ist höchste Zeit, dass wir auf die Diskussion kommen, WIE wir Klimaschutz am besten betreiben, nicht OB. Zu oft wird das Argument, Klimaschutz gefährde Arbeitsplätze, in der Debatte immer noch ernstgenommen.
9) Merkel hinterlässt einen sicherheitspolitischen Torso
So die wohlwollende Betrachtung. Die Politikwissenschaftler Bastian Giegerich und Maximilian Terhalle, tätig am International Institute for Strategic Studies und am Londoner King‘s College, bilanzieren die Auslandseinsätze in einem aktuellen Beitrag der Zeitschrift „Sirius“ kritischer: „In der Regel einigte man sich darauf, das Mindeste zu tun, was nötig war (und ist), um die internationale Reputation zu wahren.“ Merkel habe es in ihrer 16-jährigen Kanzlerschaft versäumt, ein sicherheitspolitisches Konzept auszuarbeiten, „das auf Basis einer nüchternen Analyse der Herausforderungen eine schlüssige strategische Vision erkennen lässt“. Die gebe es zu zentralen Fragen bis heute nicht, weder im aufziehenden Großmächtekonflikt zwischen den USA und China noch bezüglich Russland. Weiter hinterlasse Merkel eine Bundeswehr, die bei nahezu allen relevanten Indikatoren an Einsatzbereitschaft verloren habe: bei Waffensystemen, Personal, Beschaffungswesen und Verteidigungsausgaben. „Der Einschätzung von Experten zufolge hat die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr, gemessen im Kontext der Kernaufgabe der Bündnisverteidigung, einen historischen Tiefststand erreicht“, schreiben Giegerich und Terhalle. Es habe die politische Bereitschaft gefehlt, die als notwendig erkannten Ausgaben auch zu tätigen. (Thorsten Jungholt, Welt)
Diese Kritik lässt sich kaum widerlegen. Außenpolitisch ist Deutschland in keiner sonderlich guten Verfassung, um es milde auszudrücken. Solche außenpolitischen Nachrufe auf Merkel gibt es gerade zuhauf; Yascha Mounk etwa schreibt im Atlantic "Why the world won't miss Angela Merkel". Frank Spring, mit dem ich bereits zwei Podcasts gemacht habe, schrieb mir in beißendem Sarkasmus: "I for one will miss being told about my country's, and the international community's, various responsibilities to humanitarianism and democratic conduct by someone more than capable of taking action on same but who simply elects not to for reasons that are not altogether clear." Eine ähnliche Stimmung dürfte es vielerorts geben.
Um das deutlich zu machen: das Problem ist nicht der normenbasierte Anspruch deutscher Außenpolitik. Das Problem ist das Fehlen einer Strategie einerseits, das Fehlen von Kapazitäten andererseits, und zum Dritten der absolute Unwillen, irgendetwas zu tun, um diese Normen durchzusetzen. Stattdessen bleibt immer das Schwingen des Zauberstabs von Verhandlungen. Das ist zu wenig.
10) Democrats May Be on the Verge of Climate Disaster
I’m starting to become concerned about President Joe Biden’s ability to pass a climate bill. They’re speaking sotto voce, but still: In the past few days, Democrats on the party’s left and right flanks have started to hint that, well, in some circumstances, given some contingencies, they might prefer no bill to a negotiated compromise with the rival flank. [...] I feel for these groups, to be honest. They may be trying to even the stakes, which remain tilted in the centrists’ favor. As the Michigan State University political-science professor Matt Grossmann recently observed, Manchin and Sinema would prefer no deal to what progressives want, while progressives would prefer Manchin and Sinema’s version to no deal. But if this sort of brinkmanship renders legislation unpalatable, then lawmakers won’t swallow it. And the U.S. will go at least another decade without a climate law. Democrats are haunted by 2009. That year, President Obama came to office promising to reform America’s health-care system and finally get serious about reversing climate change. He managed to do the first. His failure to accomplish the second has spawned a decade of appraisals. (Robinson Meyer, The Atlantic)
Diese Aussicht ist allzu realistisch. Die Mehrheit der Democrats im Kongress ist hauchdünn, und mindestens zwei Senator*innen - Sinema und Manchin - liegen im Bett der fossilen Energie-Industrie. Gleichzeitig kommt starker Druck durch Aktivist*innen auf den linken Flügel der Partei, radikalere Versionen der geplanten Gesetze zu schreiben. Zwischen diesen Fliehkräften könnte die Partei leicht zerrieben werden, wie es bereits Obama (mit seiner wesentlich komfortableren Mehrheit) passiert ist. Und dann ist die nächsten sechs, acht Jahre kein Klimagesetz mehr möglich, weil die Rechtsradikalen alles blockieren werden.
11) Americans Have No Idea What the Supply Chain Really Is
If you get frustrated by your lack of choices at the grocery store or see a little warning about shipping delays at the top of a website and are told that “the supply chain” is at fault, it’s easy to imagine those problems as empty warehouses or idle factories or backed-up container ships or depleted fleets of semitrucks—problems concerning industrial machinery incongruous to the scale of human life and fundamentally disconnected from how you live yours. That’s why the results of these kinds of disruptions can feel so random. But this understanding of the problem is also a little too convenient for consumer-facing companies, which often go to great lengths to ensure that no one in the general public thinks too hard about what any of this means, or why it happens. They want shopping to be fun, to be a relief, to be something that feels as though it solves problems, instead of being a problem itself. Both at home and abroad, labor is the ghost in the machine. The supply chain is really just people, running sewing machines or loading pallets or picking tomatoes or driving trucks. Sometimes, it’s people in the workforce bubbles of foreign factories, eating and sleeping where they work, so companies can keep manufacturing sneakers through a Delta outbreak. The pandemic has tied the supply chain in knots because it represents an existential threat to the lives of the humans who toil in it. The fact that Americans now can safely go on vacation does not mean that people half a world away can safely make new bathing suits for them. The normalcy sought by consumers was created by all of this hidden work, and that normalcy has always been threatened by dangerous working conditions. No one can expect things to go smoothly until everyone is protected. (Amanda Mull, The Atlantic)
Das war eine der Lektionen aus Toozes neuem Buch "Shutdown" (wird in der Bücherliste September besprochen werden). Der Shutdown und damit die Unterbrechung der Lieferketten war keine Folge staatlicher Politik, sondern eine Folge von Individualentscheidungen, die sich zu diesem Ergebnis aufsummierten - Entscheidungen der Arbeitnehmenden auf der einen Seite, nicht mehr zur Arbeit zu kommen, und Entscheidungen der Arbeitgebenden auf der anderen Seite, den jeweiligen Betrieb zu schließen. Das ist ein menschlicher Faktor der Lieferkette.
Der andere menschliche Faktor, der gerne vergessen wird, sind die miesen Bedingungen, die am unteren Ende der Lieferkette oftmals herrschen. Mit den neuen Lieferkettengesetzen rückt dieser Faktor glücklicherweise erstmals mehr ins Bewusstsein. Dazu kommt, dass viele Lieferketten auf der reibungslosen Kooperation von Staaten beruhen, deren Verhältnis zu uns bestenfalls fragwürdig ist. Da ist gerade viel Druck im System.
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