Montag, 28. Februar 2022

Zeitenwende

 

Der völkerrechtswidrige russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat in den letzten Tagen zu einer tektonischen Verschiebung der deutschen Innen- und Außenpolitik geführt, die - in meinen Augen korrekt - als "Zeitenwende" charakterisiert wurde. Der Schock des größten konventionellen Krieges seit 1945 in Europa hat bisherige politische Blockaden und ideologische Hausstände in einem Ausmaß weggewischt, für das es kaum Vergleiche gibt. Der einzige sich aufdrängende Referenzpunkt wäre der Atomausstieg nach Fukushima 2011, aber der betraf "nur" die CDU. Der Wandel dieser Tage erstreckt sich über mindestens drei Parteien. Auch wenn sicherlich einiges sich in den nächsten Monaten als heißer gekocht denn gegessen herausstellen wird, so sind bereits jetzt die greifbaren Effekte allein erschütternd. Noch vor zwei Wochen hätte niemand damit gerechnet. Woher kommt das?

Sonntag, 27. Februar 2022

Bücherliste Februar 2022

 

Anmerkung: Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher und Zeitschriften bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Darüber hinaus höre ich eine Menge Podcasts, die ich hier zentral bespreche, und lese viele Artikel, die ich ausschnittsweise im Vermischten kommentiere. Ich erhebe weder Anspruch auf vollständige Inhaltsangaben noch darauf, vollwertige Rezensionen zu schreiben, sondern lege Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken. Wenn bei einem Titel sowohl die englische als auch die deutsche Version angegeben sind, habe ich die jeweils erstgenannte gelesen und beziehe mich darauf. In vielen Fällen wurden die Bücher als Hörbücher konsumiert; dies ist nicht extra vermerkt. Viele Rezensionen sind bereits als Einzel-Artikel erschienen und werden hier zusammengefasst.

Diesen Monat in Büchern: Kapitalismuszeitalter, Sanktionen, MMT, Sandman 5

Freitag, 25. Februar 2022

Belgien und Dänemark testen den Leistungsbilanzüberschuss von AOCs Eltern mit Waffen im Lehrerzimmer - Vermischtes 25.02.2022

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Universalismus versus Identitätspolitik: Von einer falschen Gegenüberstellung

Eine wichtige Pointe der weit verbreiteten Ideologie vom Universalismus lautet, dass man selber universell handle während die andere Seite demokratiefeindlich, emotional motiviert und nicht gesprächsbereit sei. Sie funktioniert dann besonders gut, wenn ihre Träger*innen tatsächlich glauben, sie handelten im Geiste des Universalismus von Sozialdemokratie bis Aufklärung. Tatsächlich bin ich mir ziemlich sicher, dass Thierse und diejenigen, die ähnlich argumentieren, selber gar nicht bemerken, dass die Behauptung der eigenen Objektivität mit der rassismuskritischen Analyse einer gesellschaftlichen weißen Position korreliert. [...] Erinnern Sie sich auch noch an die Zeit, als die Gesellschaft noch gemeinsam und geschlossen an der Umsetzung der Aufklärung arbeitete? Natürlich erinnern Sie sich nicht, denn diese Zeit hat es nie gegeben! Und so findet sich viel Polemik gegen Diskurse und Praxen rund um das Thema (Anti-)Diskriminierung – aber erstaunlich wenig über diese vermeintliche goldene Vergangenheit. Fast scheint es, als schrieben die Kritiker*innen der linken Identitätspolitik für ein Publikum, welches sowieso schon überzeugt davon ist, dass die eigene Perspektive die objektiv richtige sei und die Gegenseite daher nicht zu beachten bräuchte. Ein Schelm, wer das Argument vom Anfang dieses Textes darin erkennt. Die historisch konkrete Praxis des Universalismus, von der Kritiker*innen der Identitätspolitik schreiben und sprechen, ist also unauffindbar. Was es stattdessen gab, war eine Rhetorik des Universalismus. Aber eine Rhetorik ist noch keine Realität, vielmehr kann sie den gegenteiligen Effekt haben, wenn nämlich ihre Vertreter*innen mit Verweis auf einen vermeintlichen Universalismus antisemitische, sexistische und sonstige diskriminierende Praxen nicht reflektieren. Und vielleicht auch gar nicht reflektieren können,weil man ja Universalist*in ist. (Max Czollek, Heinrich-Böll-Stiftung)

Das ist auch der für mich nervigste Teil an der Kritik geschlechtergerechter Sprache, Trigger-Warnings, CRT und so weiter und so fort. Es ist so unglaublich unaufrichtig, weil so getan wird, als gäbe es ein Goldenes Zeitalter der Gedankenfreiheit, in dem wesentlich freier als heute diskutiert wird. Das ist völliger Quatsch; die Tabus lagen nur auf völlig anderen Bereichen. Nur waren diese Bereiche eben deckungsgleich mit denen derjenigen, die sich heute echauffieren. Sie haben die früheren Tabus nicht bemerkt, weil sie ihren eigenen Präferenzen entsprachen, während sie die heutigen Tabus bemerken, weil diese nicht mehr ihren eigenen Präferenzen entsprechen. Da wir uns an einem Übergang befinden, an dem sie zwar politisch und wirtschaftlich noch die Eliten sind, diese Führerschaft aber im Bereich der Gesellschaft und Debatten verlieren, bekommen wir diesen merkwürdigen Zustand heute.

2) A Network of Fake Test Answer Sites Is Trying to Incriminate Students

In the patent, recently flagged, along with an Honorlock honeypot site, by student media at Arizona State University, the company explains that its sites can track visitor information like IP addresses as evidence that a student was looking up answers on a secondary device. When the pandemic led to shuttered schools, demand for services like Honorlock skyrocketed as educators worried about whether students would be able to easily find answers online using devices that instructors didn’t know about. In its online materials for its software, Honorlock says, “[S]tudents have access to more and more electronic devices and it’s becoming harder for instructors to preserve academic integrity.” But some experts in the ethics of education worry techniques like honeypot websites simply go too far. [...] Pedagogy ethicists like Parnther say this kind of software is backfiring by creating an environment where students are, by default, under suspicion. That mindset itself facilitates cheating, she says, by subtly suggesting to students that they might as well cheat because teachers expect them to anyway. “Students see that there’s an environment where it’s automatically assumed that they are not to be trusted,” Parnther said. Eaton proposes that educators should consider a more radical rethinking of testing, one that doesn’t rely on surveilling students. Punishing students for using their devices fundamentally goes against how learning works in the age of the internet, Eaton says, and the cat-and-mouse game of sussing out possible cheaters isn’t working. Moving to a better system might mean shifting to more oral or open-book exams, for example, which still demonstrate proficiency without the specter of simply Googling answers. There will always be some level of cheating on exams, Parnther argues, but the costs of cracking down on students is now coming at the expense of their education. (Colin Lecher, The Markup)

Einmal abgesehen davon, wie pervers es ist, Fallen für Student*innen zu stellen, das Problem hier ist nicht so sehr der Datenschutz oder ähnliche Bedenken, das Problem ist viel tiefgehender, und es ist etwas, das ich an pädagogischen Tagen und Gesamtlehrkräftekonferenzen auch permanent thematisiere: Wenn deine Klausur dadurch lösbar ist, dass ich kurz nebenher google, dann ist das Problem deine Klausur. Denn ein solcher Test ist für den Arsch. Er prüft keine Kompetenz, die in irgendeinem Maße nützlich wäre, weil ich OFFENSICHTLICH die nötigen Informationen mit einer einzigen Google-Suche zur Hand habe. Warum um Gottes Willen sollte ich den Mist also auswendig lernen? Ich stelle Klausuren, in denen alle Hilfsmittel erlaubt sind. Spickzettel, Bücher, alles steht zur Verfügung. Warum? Weil meine Klausuren eigenes Denken erfordern. Pädagog*innen, ob an Schule oder Uni, die solche technischen Hilfsmittel einsetzen, versagen in ihrem Job, genauso wie Führungskräfte, die ihre Untergebenen nur mit ständiger Kontrolle zur Arbeit anhalten zu können glauben. Es ist ein Versagen, dessen Schuld auf die Opfer abgewälzt wird.

3) Deutschland muss den hohen Leistungsbilanzüberschuss endlich abbauen

Außerhalb Deutschlands ist der hohe deutsche Überschuss eine Gefahr für die makroökonomische Stabilität. Denn dafür müssen andere Länder große Defizite machen, die über Auslandsverschuldung finanziert werden. Das erhöht deren Anfälligkeit für Finanzkrisen. Innerhalb Deutschlands verweisen hohe Leistungsbilanzüberschüsse auf ein ungleichgewichtiges Wachstumsmodell, von dem nur ein kleiner Teil der Bevölkerung profitiert. Der deutsche Überschuss stieg nach dem Euro-Beitritt vor allem wegen der zunehmenden Einkommensungleichheit, wie auch der IWF zeigt. Geringes Lohnwachstum und der Fokus auf die „schwarze Null“ in der Fiskalpolitik trugen in der jüngeren Vergangenheit maßgeblich zu einer schwachen Binnennachfrage und geringen Importen bei. Der Lösungsansatz: ein Mix aus stärkerem Lohnwachstum und einer Fiskalpolitik, die durch öffentliche Investitionen die Binnennachfrage anregt. Dies würde zu höheren Importe führen. Dadurch könnten wiederum die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse sinken, ohne dass die Exporte reduziert werden müssen. Das würde jedoch erfordern, dass Deutschland anfängt, endlich vor der eigenen wirtschaftspolitischen Haustür zu kehren. Maßnahmen zur Reduktion der ökonomischen Ungleichheit würden das deutsche Wachstumsmodell nachhaltiger machen, großen Teilen der Bevölkerung helfen und den Beitrag Deutschlands zu internationalen Handelsungleichgewichten reduzieren. (Philipp Heimberger, Handelsblatt)

Ich bringe dieses Fundstück weniger, weil atemberaubend neue Sachen drinstehen - hier wird eine Dauerkritik am herrschenden Paradigma seitens linker Ökonom*innen formuliert - sondern weil ich den Widerstand dagegen immer mehr bröckeln sehe. Deutschland ist eine harte Nuss, was das angeht, weil hierzulande der Ordoliberalismus tief verankert ist, aber der Paradigmenwechsel kommt zumindest in anderen Teilen der Welt, vor allem den USA, und wird in abgeschwächter Form auch hier ankommen. Man sieht das denke ich an Lindners bisheriger Haltung: man stelle sich einen FDP-Finanzminister im Jahr 2009 vor, das ist überhaupt kein Vergleich. In der letzten Dekade ist bereits wahnsinnig viel passiert.

4) Belgium approves four-day week and gives employees the right to ignore their bosses after work

Workers in the gig economy will also receive stronger legal protections under the new rules, while full-time employees will be able to work flexible schedules on demand. [...] A significant portion of Belgium's new labour reforms impact the work-life balance of employees in both the public and private sectors. The draft reform package agreed by the country's federal government will grant employees the ability to request a four-day week. [...] Workers will also be able to request variable work schedules. The minimum notice period for shifts is also changing, with companies now required to provide schedules at least seven days in advance. [...] "The boundary between work and private life is becoming increasingly porous. These incessant demands can harm the physical and mental health of the worker," he said. [...] In Belgium, platform workers meeting three out of eight possible criteria - including those whose work performance is monitored, who are unable to refuse jobs, or whose pay is decided by the company - will now be considered employees with rights to sick leave and paid time off. (Tom Bateman, Euronews)

Diverse Leute haben diese Meldung falsch verstanden als eine Arbeitszeitverkürzung auf vier Tage (also eine 32-Stunden-Woche), was Belgien dezidiert NICHT macht. Die packen nur die übliche 40-Stunden-Woche auf vier Tage. Das ist je nachdem wer betroffen ist eine eher schlechte Nachricht (wenn mich mein Arbeitgeber zwingt, solche Stunden zu arbeiten, obwohl ich nicht will) oder eine gute Nachricht (wenn ich flexibler wählen kann, wie ich arbeite). So wie das klingt, scheint es eher Letzteres zu sein, aber ich bin gespannt ob Leute, die sich besser auskennen, da vielleicht Einblicke geben können.

5) Beschleunigung von Genehmigungsverfahren: Experten empfehlen weniger Bürgerbeteiligung

Die bisherige Verfahrenspraxis stufen die Juristen auch wegen knapper Ressourcen aufseiten der Genehmigungsbehörden und der Vorhabenträger als „besonders zeitintensiv“ ein. Dies betrifft unter anderem die Terminvorbereitung, die „regelmäßig viel Zeit“ in Anspruch nehme.  [...] Die Wirtschaft fordert seit Langem schnellere Planungs- und Genehmigungsverfahren in Deutschland. „Bei Genehmigungsverfahren für neue Wind- und Solaranlagen bewegen wir uns wie ein Koalabärchen beim Mittagsschlaf – gar nicht“, kritisierte zuletzt Christian Kullmann, Präsident des VCI sowie Vorstandsvorsitzender von Evonik. [...] Naturschützer und Anwohner sehen die Öffentlichkeitsbeteiligung als Möglichkeit, auf negative Konsequenzen für die Umwelt hinzuweisen, die mit einem Bauprojekt verbunden sein könnten. „Die Bürgerbeteiligung gehört im demokratischen Rechtsstaat zu Planungsverfahren unabdingbar dazu“, sagte der Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe (DUH), Sascha Müller-Kraenner, dem Handelsblatt. Um oftmals langwierige Verfahren zu beschleunigen, schlug er vor, Behörden besser personell und mit digitaler Technik auszustatten. Außerdem sollten bei Naturschutzfragen bundesweit einheitliche Regeln gelten. (Dietmar Neuerer, Handelsblatt)

Für mich einer der überraschenderen Trends der letzten Jahre ist die scharfe Kritik an Bürger*innenbeteiligung, die bisher immer als Panacea gegen Demokratieverdrossenheit hochgehoben wurde. Ich stimme da völlig zu; es ist ein völliger Irrweg zu glauben, durch die Beteiligung der Ortsansässigen, gut vernetzten Elite eine größere Pluralisierung erreichen zu wollen. Alles, was dadurch geschafft wurde, ist dem NIMBYismus eine institutionalisierte Machtbasis zu geben und zahlreiche Projekte endlos zu verzögern, verteuern oder zu verhindern. Das ist übrigens auch parteipolitisch blind. Ich kann diese Mechanismen als Grüner nutzen, um eine Atomendlagerstätte zu blockieren oder als Konservativer, um ein Windrad zu verhindern.

6) Bundesregierung will CO₂-Kosten per Stufenmodell gerechter aufteilen

Bei der geplanten Aufteilung der CO₂-Kosten fürs Heizen zwischen Mietern und Vermietern hat sich die Ampel-Regierung auf Eckpunkte geeinigt. Dies berichten mehrere Medien, darunter die Zeitungen der Funke Mediengruppe. Demnach ist ein Stufenmodell mit sieben Stufen geplant. Die Beteiligung der Mieterinnen und Mieter ist dabei abhängig vom energetischen Zustand des Gebäudes: Je weniger CO₂ es ausstößt, desto höher ist der Anteil der Mieter. Nach Informationen der Nachrichtenagentur AFP wird der CO₂-Ausstoß in dem Stufenmodell mit Kilogramm pro Quadratmeter und Jahr angegeben. Beträgt dieser Ausstoß weniger als fünf Kilogramm, was die niedrigste Stufe darstellt, müssen die Mieterinnen und Mieter die gesamten CO₂-Kosten fürs Heizen übernehmen. Beträgt der Ausstoß mehr als 45 Kilogramm, etwa bei schlecht gedämmten und schlecht sanierten Gebäuden, müssen sie nur zehn Prozent der CO₂-Kosten tragen. (AFP, ZEIT)

Das klingt für mich als Laien grundsätzlich nach einem sehr sinnvollen Modell, aber ich bin auch hier gespannt, ob jemand mit mehr Sachkenntnis was dazu zu sagen hat. Der Charme für mich liegt darin, dass es über die Marktkräfte funktioniert und gleichzeitig sozial entlastend ist. Ich habe als Mieter*in weniger Kosten, weil entweder die Vermietenden die CO2-Kosten übernehmen müssen, oder aber wegen der energetischen Effizienz eh keine hohen Kosten anfallen. Gleichzeitig ist ein großer Anreiz für die Vermietenden da, den CO2-Ausstoß zu reduzieren. Klingt super!

7) Why Hollywood Can’t Quit Guns

But gunplay isn’t seen as an immediate threat; rather, it is viewed as a foundational part of entertainment. To interrogate the use of guns in productions is to interrogate entire genres—and perhaps to even interrogate the art of moviemaking. A scene of a cowboy pointing and firing a gun straight at the audience is part of what is widely regarded as the first narrative movie ever made, the 1903 Western The Great Train Robbery. “It seems really trite to say, but guns make for good movies. There is something aesthetically very charged about that,” Joyce told me, adding that the allure extends far beyond Westerns. For decades, Hollywood has understood the appeal of gun violence and glorified it further: Depictions of gunplay nearly tripled from 1985 to 2015 in PG-13 movies, and doubled in prime-time TV dramas from 2000 to 2018. The firearm brand Glock won a Brandcameo Lifetime Achievement Award for Product Placement after showing up in 22 box-office-topping films in 2010. The guns themselves may not attract audiences, Davis pointed out, but the gunplay—stars as killing machines, dodging streams of bullets flying across the screen—certainly “tantalizes” them. He pointed to John Wick, for example, as a franchise that has been successful partly because the gunfights are “very well choreographed.” (Shirley Li, The Atlantic)

Ich vermute, die Zunahme an Schusswaffengewalt in Filmen ist auch die Schuld irgendwelcher radikalen Feministinnen. Aber ernsthaft, auch diese Entwicklung in Hollywood ist bemerkenswert. Ich finde es auch relevant, wie stark gesäubert die Waffengewalt ist; sie ist von ihren realen, physischen Konsequenzen beinahe vollkommen entkleidet. Das ist auch deswegen spannend, weil wir in den 1980er und 1990er Jahren eine starke Zunahme graphischer Gewalt in Filmen bei (in Deutschland) gleichzeitig deutlicher Entspannung der Jugendschutzkriterien hatten (die sich mit etwa 15 Jahren Verspätung auch auf den Videospielmarkt durchschlug), dann aber in den 2000er Jahren zwar auf dem hohen Niveau der Gewaltanwendung blieb, aber in ihrer Form diese spielerische Komponente bekam, die sie bis heute hatte. Mein Lieblingsbeispiel dafür ist immer "Robin Hood - König der Diebe", der teilweise echt üble Gewaltdarstellungen hat, aber FSK 12 bekam - 1991. Ich hab den übrigens für meine Serie zu Kevin-Costner-Filmen hier besprochen (Audio).

8) What AOC Learned From Trump

In broad strokes, much of what AOC believes is similar to what many centrist Democrats — people who she disdains and who in turn typically disdain her — also believe. [...] What divides AOC and her allies from others in the party is above all a theory of power: How to gain it, how to use it, how to keep it. It is a difference grounded in a cultural mindset about how politics should look, sound and feel. It is a difference grounded much less in ideology than meets the eye. [...] The lesson many Democrats have learned from watching two previous Republican presidents — Donald Trump and George W. Bush, both of whom took office under disputed circumstances with a minority of the popular vote — is that political realities can be shaped by self-confident proclamation. Power can be seized by equally self-confident assertion. They did it on behalf of what the left saw as a benighted agenda that favored racists and the wealthy. No reason progressives can’t do it on behalf of an enlightened agenda — and awaken a robust majority that would be there if only people were presented sharp choices rather than blurry ones. [...] The Bush-Trump model is based on mobilization of natural allies. The Clinton-Obama model is based on a forlorn effort at persuasion of a dwindling group of people attracted by cautious, middle-of-the-road politics. [...] The Democratic left has been fantasizing about a candidate who can smash conventional strategies and mobilize all the way to the presidency as far back as George McGovern and as recently as Bernie Sanders. Someone is going to try the old experiment for a new generation. (John F. Harris, Politico)

Ich halte die Theorie grundsätzlich für korrekt. Das Problem sind nicht die Policies der Democrats, das Problem ist die Vorstellung breiter Wählendenschichten, dass die Partei ihren Werten und ihrer Identität feindlich gegenüber steht. AOC ist ziemlich gut darin, eine Verbindung zu Wählendenschichten zu finden, die traditionell eher Republicans wählen würden, aber von den Policies her eigentlich den Democrats nahestehen könnten.

Ob dieses "experiment for a new generation" tatsächlich gelingen kann, steht auf einem anderen Blatt. Aber mein Gefühl ist, dass die vergangenen Wahlen seit 2016 zeigen, dass der aktuelle Ansatz ziemlich problematisch ist. Zwar gelingt es der Partei regelmäßig, die Mehrheit der abgegebenen Stimmen zu bekommen, aber das amerikanische politische System übersetzt diese Mehrheiten nun einmal nicht in legislative Mehrheiten, sondern bevorzugt die Wählenden in den Flächenstaaten. Darüber kann man klagen, aber darumherumkommen wird man nicht.

9) Eltern am Limit: Wie Omikron nun auch den Widerstandsfähigsten zusetzt

Seit einigen Wochen wütet Covid in Form von Omikron regelrecht unter den Jüngsten. Für viele Mütter und Väter vergeht kaum ein Tag ohne neue Covid-Botschaften im näheren Umfeld. Unzählige Kinder müssen immer wieder in Quarantäne, mitunter ganze Kita-Gruppen oder Klassen. Von Normalität kann vielerorts nicht die Rede sein. Das zerrt bei vielen Eltern, wie auch bei Ludewig, an den Nerven und damit auch immer stärker an der Substanz. Dreimal in Folge mussten ihre Kinder zuletzt fünf Tage in Quarantäne. In den Weihnachtsferien schließlich habe sie die Erschöpfung eingeholt: „Da ging’s mir richtig schlecht.“ Die Kurzfristigkeit, in der Entscheidungen getroffen werden müssen, die immer aggressivere Stimmung in den Eltern-Whatsapp-Gruppen und der Interpretationsspielraum, den viele Quarantäneverordnungen zulassen, all das sei einfach zermürbend. [...] Nils Backhaus ist Psychologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) und Mitglied der Gruppe „Arbeitszeit und Organisation“ im Fachbereich „Arbeitswelt im Wandel“ . Auch er sieht in der Kurzfristigkeit, in der Eltern derzeit Entscheidungen treffen müssen, eine „enorme Belastung“, zumal im Umkehrschluss „eine langfristige Planung nicht mehr möglich ist“. Die Pandemie und die damit einhergehenden Unwägbarkeiten hingen permanent wie „ein Damoklesschwert“ über vielen Familien. Die Folge daraus? Dauerstress, verbunden mit permanenten Sorgen und einem Gefühl der Überforderung, das sich bei einem beträchtlichen Anteil der Väter und vor allem Mütter zunehmend auch physisch und psychisch zeige: nicht mehr abschalten können, Schlafstörungen, depressive Verstimmungen. Kaum einer sei angesichts derartiger Rahmenbedingungen in der Lage, 100 Prozent Leistung bei der Arbeit zu bringen. Stoße man in einem derartigen Zustand noch auf ein wenig familienfreundliches Arbeitsklima, sprich, wenig orts- und zeitflexibles Arbeiten und Unverständnis der Arbeitgeber, „dann bleibt einem kaum noch etwas anderes, als sich krankzumelden“, mahnt Backhaus.(Carolin Burchardt, Deutsches Redaktionsnetzwerk)

Ich habe schon zigmal festgestellt, dass Eltern und Selbstständige die beiden größten Opfergruppen der Pandemie sind, und dieser Artikel ist nur ein weiteres Beispiel dafür. Burchardt spricht mir als Vater von zwei Grundschulkindern einerseits und Lehrkraft andererseits völlig aus dem Herzen. Ich fühle diesen Dauerstress, diese komplette emotionale und psychische Ermüdung, ebenfalls. Die Pandemie drückt uns seit zwei Jahren komplett nieder (was übrigens meinen Zorn auf jene, die glauben, sie seien wegen eines Böllverbots an Sylvester unterdrückt, nicht eben mindert) und noch immer wird nicht einmal anerkannt, dass ein Problem vorliegt, geschweige denn etwas daran verbessert. Und das wird sich auch nicht mehr ändern, so viel ist offensichtlich. Da will man der ganzen Politik parteiübergreifend nur noch den Mittelfinger entgegenstrecken.

10) Wie andere Länder die Arbeitszeit von Lehrkräften regeln

Unter allen Beteiligten besteht trotz zum Teil heftiger Kontroversen Konsens, die Arbeitszeit von Lehrerinnen mit allen wesentlichen Aufgaben transparent zu regeln. Dies gilt als wichtige Voraussetzung für eine verlässliche Kooperation unter den Lehrkräften mit einer möglichst hohen Arbeitszufriedenheit. Das zentrale Instrument dafür ist ein individueller Arbeitsplan, der auf Grundlage der jeweils geltenden Rahmenbedingungen im Mai/Juni jeweils für das neue Schuljahr zwischen jeder angestellten Lehrkraft und dem Schulleiter/der Schulleiterin unter Mitwirkung des Personalrats festgelegt wird. Alle Vereinbarungen zur Bezahlung und zur Arbeitszeit sind im Arbeitsplan nach einem bestimmten Muster aufgeführt. Zur Aufgabenübersicht gehören neben der Anzahl der Klassen, Fächer und Unterrichtsstunden alle weiteren Aufgaben wie Vorbereitungen, Konferenzen, Teamtreffen, Gespräche und Fortbildungen. Dort ebenfalls aufgeführte besondere Funktionen und Aufgaben an der Schule werden durch zusätzliche Bezahlung oder weniger Unterrichtszeit ausgeglichen. Die 2013 im Rahmen einer umstrittenen Schulreform von der dänischen Regierung durchgesetzte Regelung, dass alle Lehrkräfte von 8 bis 16 Uhr in der Schule präsent sein müssen, hat sich in der Praxis nicht bewährt. Auf diese Weise konnten abendliche Elternbesuche und weitere Aktivitäten außerhalb der Kernarbeitszeit nicht erfasst werden, oder sie fanden nicht statt. Auch die Qualität des Unterrichts hat sich dadurch offensichtlich nicht verbessert. [...] Stattdessen haben Schulen mittlerweile, abhängig von der jeweiligen Kommune, verschiedene Möglichkeiten, um die gemeinsame Arbeit flexibel zu strukturieren. Dazu werden im Arbeitsplan feste Präsenzzeiten für Konferenzen, Teambesprechungen, Kommunikation und Kooperation mit externen Partnern ebenso aufgeführt wie Stunden (zum Beispiel 200 Jahresstunden), die Lehrkräfte im Rahmen ihrer Arbeitszeit zur freien Verfügung haben. (Werner Klein, Deutsches Schulportal)

Allmählich werden die "das Gras ist in Dänemark grüner"-Geschichten echt ihr eigenes Genre. Ob Steuern, Sozialstaat, Pandemieregeln oder Schulsystem, ob Kitas, Einwanderungspolitik oder Eiscreme, irgendwie ist in Dänemark scheinbar alles besser. Color me sceptical, zumindest wo es nicht um Eiscreme geht. Nichts gegen dänisches Eis, das ist topp.

Aber zum Thema: Arbeitszeit von Lehrkräften ist und bleibt ein Dauerproblem, und dass das Deputatsmodell eher, sagen wir, mindergut ist, ist hinreichend bekannt. Was Dänemark macht, klingt für mich als Laien - ich kenne jetzt auch nur obige Beschreibung und nicht die Details, auf die es halt ankommt - erst einmal grundsätzlich sinnig. Das bedeutet für Deutschland allerdings ein massives Aufbrechen von Besitzständen und gegebenenfalls einen noch größeren Lehrkräftemangel, denn wenn man sich erst einmal klarmacht, was außerhalb des Unterrichts alles passiert, lässt sich das gegenwärtige Modell kaum aufrechterhalten.

Mich wundert übrigens keine Sekunde, dass das Präsenzmodell nicht funktioniert hat. Präsenzmodelle sind generell genauso wie die Deputatsberechnung ein Mittel aus dem letzten Jahrhundert, eine reine Krücke, ob an Schule oder in Betrieben. Sie sind Ausdruck eines Grundmisstrauens in die Beschäftigten. An Schulen kommt das zusätzliche Problem hinzu, dass die Infrastruktur gar nicht besteht. Ein Unternehmen, das Präsenzpflicht hat, hat im Allgemeinen einen Arbeitsplatz für seine Beschäftigten. Schulen haben das nicht. Schon allein daran muss das Ganze scheitern, noch bevor wir die Dezentralität der Arbeit (Elternabende, Elterngespräche, Korrekturen, etc.) mit einbeziehen.

Nachtrag

- Trevor Noah erklärt in zweieinhalb Minuten, wofür ich seinerzeit einen Riesenartikel gebraucht habe.

- Pasend zu meiner Kritik an pauschalem Lob oder Kritik über die "Jugend von heute" hat das Handelsblatt einen Artikel, in dem "die Jugend" pauschal als rationaler denn "die Alten" über den grünen Klee gelobt wird. Ist natürlich kompletter Unsinn.

- Als Nachtrag zu unserem Podcast zu Peak Prien: Nachdem Prien ihre alberne Twitter-Kündigung hingelegt hat, legt sie jetzt in der Welt (wo auch sonst) nach und erklärt, dass nur "Politiker*innen, Journalist*innen und Psychopathen" auf Twitter sind. Das wird's sein. Alles Psychopathen. Ich mag, wie sie darum bemüht ist, alle Seiten zusammenzubringen. Wie immer gilt das irgendwie nur, wenn es um rechten Protest geht. Sobald die Kritik von woanders kommt, ist es keinesfalls nötig, zuzuhören und wertzuschätzen.

- Die Welt hat etwas zur Frage der NATO-Osterweiterung: in einem britischen Archiv ist ein Schnippsel aufgetaucht, demzufolge die Diplomaten 1991 tatsächlich davon ausgingen, der UdSSR eine Ausweitung nicht über die Elbe hinaus versprochen zu haben. Wie viel da dran ist kann ich auf der Basis nicht beurteilen, aber meine grundsätzlichen Argumente bleiben eh bestehen (Sowjetunion =/ Russland, Russland hat Osterweiterung 1997 vertraglich zugestimmt).

- Ein Journalist vom Tagesspiegel hat eine Kritikwelle abbekommen, weil er Baerbock "diese junge Dame" genannt hat, und: völlig zu Recht. In ihrem merkwürdig rhapsodisch-assoziativen Artikel thematisiert Waltraud Schwab dies (unter vielen anderen Punkten) ebenfalls.

- Die Wahlanalyse aus Virginia zeigt, dass die Democrats kein Problem mit Wahlbeteiligung hatten; die Republicans hatten nur mehr. Im Endeffekt der gegenteilige Effekt der Präsidentschaftswahl 2020.

- Besonders für Thorsten Haupts hier ein Vortrag von Adam Tooze über "Ökonomie der Zerstörung" und unsere Diskussion über den wirtschaftlichen Entwicklungsstand von NS-Deutschland (die verlinkte Präsentation nebenher geöffnet haben, Video hat kein Bild!). Es ist eine ordentliche Zusammenfassung der wichtigsten Argumente mit Quellen, wen das interessiert.

- "Der Feind meines Feindes ist mein Freund" ist und bleibt einfach eine unglaublich dumme Einstellung, Beispiel 23523547836

Donnerstag, 24. Februar 2022

Rezension: Neil Gaiman - Sandman Deluxe Edition 5

 

Neil Gaiman - Sandman Deluxe Edition 5

Mit dem fünften Sammelband findet die Sandman-Saga ihr Ende - und ich habe fünf hübsche Hardcover-Gesamtausgaben in meinem Comicregal stehen. Diese haben zwar leider den Nachteil, dass manchmal die nahe an der Falz liegenden Bilder schwer erkennbar beziehungsweise der Text dort unleserlich ist, weil der Rand arg knapp gehalten wurde und die Bände ziemlich dick sind, aber dieses Mini-Detail ist so ziemlich der einzige Kritikpunkt, den ich gegenüber diesen Werken habe. Das Einzige, was ich an dem Kauf der insgesamt fünf Wälzer bereue ist, sie nicht schon viel früher gelesen zu haben.

Ich erwähnte bereits, dass in diesem Band die Saga ihr Ende findet. Nachdem Traum am Ende des vierten Bandes durch die Furien vernichtet wurde - der Abschluss zahlreicher Plotfäden, die sich bis weit in die griechische Antike zurückstrecken - befasst sich die erste Geschichte dieses Bandes, die zugleich die letzte im durchgehenden Handlungsstrang ist, mit dem Begräbnis Traums, während seine neue Inkarnation - "Ideen sind unsterblich", wie Lucien Matthew mitteilt - ohne Wissen über die Welt, aber im vollen Bewusstsein seiner Aufgabe ängstlich darauf wartet, seine Geschwister zu treffen.

Das Begräbnis findet, passenderweise, in der Traumwelt statt und hat zahllose Gäste, die aus den bisherigen Geschichten oder der Mythologie bekannt sind. Vermischt mit philosophischen Betrachtungen über die Natur der "Endlosen", von Träumen und der conditia humana sind dabei Erinnerungen und Reminiszenzen der Charaktere, die dem Prozedere eine bedeutungsschwangere, traurige gravitas geben, wie sie dem Abschluss eines Epos gebührt.

Gleichzeitig findet ein paralleler Handlungsstrang mit Matthew im Zentrum statt. Der Rabe ist traurig und wütend zugleich, weigert sich, an den Feierlichkeiten teilzunehmen und hat kein Interesse daran, weiter im Traumreich zu dienen. Er will weiter, worin auch immer dieses "weiter" bestehen mag (man ist sich allseits aber sehr sicher, dass es mit Traums Schwester Tod zu tun haben wird). In Gesprächen mit der neuen Inkarnation Traums und mit Lucien aber lässt sich Traum schließlich doch dazu bereit erklären, Traum als Berater zu dienen. Ob das eine Beförderung darstellt, eine Bürde oder beides, bleibt letztlich offen.

Die weiteren Geschichten des Bandes sind im bekannten Anthologien-Stil gehalten. So begleiten wir William Shakespeare beim Verfassen seines letzten Dramas, und dem zweiten, das er Traum schuldet. Shakespeare reflektiert über sein Leben und sein (sehr eingeschränktes) Familienglück und fragt sich, ob es den Preis am Ende wert war. Berühmt ist er nun, aber wäre er vielleicht mit einer "normalen" bürgerlichen Existenz glücklicher gewesen? Eine Antwort auf diese Frage erhält er nicht, nicht von Traum und nicht von sonstwem, und da ist der Titan der Schriftstellerei so menschlich wie selten zuvor.

Ich bin trotzdem weiterhin kein großer Fan des Shakespeare-Plots, der, wenig überraschend, der Favorit der meisten Kritiker*innen ist (man denke vor allem an die Sommernachtsgeschichte im zweiten Sammelband, die den "Sandman"-Epos in den Pantheon der Literatur geschossen hat, in dem sonst nur noch "Watchmen" zu finden ist). Es ist mir zu...provinziell, beinahe schon. Ja, Shakespeare ist der wichtigste englische Dichter, aber Traum ist eine kosmische Figur, und seine Begeisterung für Shakespeare, anstatt für Dichter*innen anderer Kulturkreise, scheint mir arg eine angelächsische Nabelschau. Ja, Gaiman umgeht das Problem durch die vielen Facetten von Traums Persönlichkeit, aber da wir als Lesende nur diese Perspektive haben, ist das kein echter Trost.

Eine andere große Geschichte ist künstlerisch interessanter, weil sie einen anderen Kulturkreis zugänglich macht, in diesem Fall die Welt japanischer Mythen. Ein buddhistischer Mönch wird von einem Fuchs und einem Waschbär geplagt, die eine Wette am Laufen haben. Die Füchsin verliebt sich in den Mönch und versucht, ihn vor Dämonen zu beschützen; das führt in eine Reise ins Traumreich bis vor Traums Thron. Die Geschichte ist im Band doppelt enthalten: einmal mit Zeichnungen eines japanischen Künstlers im Wasserfarbenstil, mit dem Text als Prosa daneben abgedruckt, einmal als klassischer Comic. Ich bevorzugte tatsächlich den Wasserfarbenstil, der der Geschichte angemessener erscheint und sie als künstlerisch interessanter erscheinen lässt, zumindest für mich.

Insgesamt mochte ich den eigentlichen, durchgehenden "Sandman"-Handlungsstrang am Liebsten, konnte aber mit den meisten Anthologien auch etwas anfangen (am wenigsten tatsächlich mit denen des vierten Sammelbandes). Rückblickend stellt sich für mich die Frage, ob eine Anordnung im Sammelband in getrennter Form nicht sinnvoller gewesen wäre, aber so bleibt die Geschichte verworrener, facettenreicher und - dafür - schwieriger zu folgen. Alles hat seinen eigenen Payoff, fürchte ich. So oder so bleibt eine unbedingte Empfehlung für alle Sandman-Bände bestehen.

Mittwoch, 23. Februar 2022

Rezension: Dirk Ehnts - Modern Monetary Theory

 

Dirk Ehnts - Modern Monetary Theory

Ich versuchte bisher immer, mich nicht zur MMT als ökonomischer Theorie zu äußern, weil mir einfach das grundlegende Verständnis dafür fehlt. Ich habe mich stattdessen auf die politische Wirkung von MMT beschränkt (erfolgreich, will ich meinen). Aber ich habe ein weitergehendes Interesse, dem ich nachgehen will. Bevor ich mich an Stephanie Keltons Standardwerk "Der Defizit-Mythos" (Englisch) herantraue, wollte ich allerdings erst einmal gewissermaßen den großen Zeh ins Wasser tauchen und etwas für Einsteigende lesen. Da kommt mir Dirk Ehnts in der Reihe Essentials erschienenes 80 großzügig gelayoutete Seiten schmales Büchlein gerade Recht. Der Ökonom ist der wohl bekannteste deutschsprachige Vertreter der MMT. Er ist auch als einer der Miterfinder des "Green New Deal" bekannt, eine Doppelrolle, von der später in dieser Rezension noch zu sprechen sein wird.

Das Buch ist grob zweigeteilt. Die erste Hälfte befasst sich mit einer groben Überblickserklärung dessen, was MMT eigentlich ist. Die zweite Hälfte spricht demgegenüber von den Möglichkeiten der Anwendung von MMT, besonders, was den Green New Deal angeht.

Im Kern unterscheidet sich die MMT von den klassischen Wirtschaftstheorien, wie der Name bereits sagt, in der Frage des Geldes und des Geldkreislaufs. Die nicht eben neue Erkenntnis, dass die Geldschöpfung in der Zentralbank passiert, nimmt die MMT zum Anlass, die künstliche Grenze zwischen Zentralbank und den anderen Akteuren ("Unabhängigkeit der Zentralbank") als genau die Nebelkerze zu entlarven, die sie ist (schließlich dient auch dieses Arrangement spezifischen Interessen, sie sich dadurch von jeder Partizipation und Kritik insulieren).

Natürlich erklärt die MMT nicht, wie ihre aktivistischen Gegner*innen gerne behaupten, der Staat oder die Notenbank könnten beliebig viel Geld schöpfen. Stattdessen gibt es klare Grenzen in der Realwirtschaft. Der revolutionäre Gehalt der MMT liegt darin, dass sie die Grenzen staatlichen Handelns nicht in der Verfügbarkeit von Krediten (in Form von Staatsanleihen, die nur von den großen Banken gekauft werden können) sieht, sondern in der realen Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft, gemäß dem Keynes'schen Motto: "Everything we can actually do, we can afford." (Paraphrase)

In diesem Zusammenhang dienen Steuern dann nicht mehr der Finanzierung des Staates, sondern der Steuerung von a) Inflation und b) volkswirtschaftlicher Aktivität. Ihre Rolle für die Inflation ist recht leicht zu verstehen. Wenn inflationärer Druck entsteht, können höhere Steuern Kaufkraft auffressen (weil der Staat Steuern nicht zur Finanzierung braucht, vernichtet er mit der Erhebung von Steuern effektiv Geld; dieses Verständnis des Geldkreislaufs ist elementar für die MMT). Umgekehrt können Steuersenkungen die Kaufkraft erhöhen und so Wachstumseffekte freisetzen (hier ergeben sich überraschende Überschneidungen der MMT mit klassisch liberalen Präferenzen).

Etwas problematischer ist die volkswirtschaftliche Aktivität. Die MMT setzt sich, anders als die Klassik, in Ehnts Verständnis das Ziel der Vollbeschäftigung. Ist es erreicht, steigen die Steuern, um eine Überhitzung zu verhindern; ist es nicht erreicht, stimuliert der Staat die Nachfrage, bis Vollbeschäftigung erreicht ist. Das Mittel dafür sieht Ehnts in einer Jobgarantie: kommunale Jobs, die nicht in Konkurrenz zum regulären Arbeitsmarkt treten und etwas schlechter bezahlt sind als das durchschnittliche Jobs auf dem freien Markt. Unfreiwillige Arbeitslosigkeit kommt so nicht vor, und Menschen bleiben dauerhaft in Beschäftigung - entweder in Jobmaßnahmen oder im freien Markt (bevorzugt Letzteres).

Gleichzeitig, so Ehnts, erlaube die MMT die Finanzierung großer sektoraler Umbauten, wobei er natürlich vor allem an den Green New Deal denkt. Da die Jobgarantie die negativen Effekte des Wandels bei Jobverlusten abfedert und die Grenze für staatliche Investitionen nicht das Steueraufkommen, sondern die Leistungsfähigkeit der Realwirtschaft ist, ergibt sich hier ein natürlicher Fit.

Bevor ich zu meiner Kritik komme, kurz der für mich wichtigste Faktor, der für MMT spricht: sie offeriert ein kohärentes Denksystem dafür, wie ein notwendiger massiver sektoraler Umbau überhaupt zu stemmen wäre. Da sind wir dann auch wieder bei dem politischen Faktor: die klassische Wirtschaftstheorie hat auf diese Frage schlicht überhaupt keine Antwort außer der Hoffnung, der private Sektor möge das irgendwie freiwillig tun, was ich für reichlich naiv halte.

Leider ist auch die MMT in meinen Augen nicht frei von Naivität. Die Idee, mit dem Heben und Stenken von Steuersätzen die Inflation und gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu steuern, funktioniert auf dem Papier sehr gut, aber dasselbe gilt ja auch für die monetaristische Idee der Geldmengensteuerung, die auch in der Theorie, nie aber in der Praxis, zu einem Gleichgewicht führt. Es ist schlichtweg nicht vorstellbar, dass ein demokratisch verfasstes Staatswesen in der Lage sein soll, allein auf volkswirtschaftlicher Rechnung die Steuersätze so zu heben oder senken, dass die erwünschte Steuerungswirkung erzielt werden kann.

Auch ist fraglich - ebenso wie bei der klassischen Wirtschaftstheorie - ob die Analysewerkzeuge überhaupt ausreichen, um diese Momente zu erkennen und verlässliche Prognosen abzugeben. Bisher darf das aus guten Gründen bezweifelt werden (was übrigens, erneut, auch für die jetztige Politik gilt; mit verfehlten Inflationswarnungen deutscher Orodliberaler ließe sich ein Palast tapezieren).

Dazu kommt die zweite Einschränkung, die bei MMT-Befürworter*innen gerne in einem Halbsatz abgefrühstückt wird: MMT funktioniert nur für Staaten, die sich ausschließlich in ihrer eigenen Währung verschulden, was für die meisten Länder gar nicht zutrifft. Vor allem ist MMT eine Theorie für den amerikanischen Finanzhaushalt, dessen Anwendbarkeit auf andere Länder einerseits und Dauerhaftigkeit im internationalen Vergleich noch zu beweisen ist.

Letztlich aber gilt diese Kritik für jede Wirtschaftstheorie. Es sind Theorien. Ihre Anwendbarkeit unterliegt immer einem Realitätscheck, der für die Theorie grundsätzlich nicht besonders gut ausfällt. Ich neige allein deswegen der MMT zu, weil ihre Nachteile mir angesichts der Vorteile nicht so bedeutsam erscheinen; ich habe darüber im Kontext Keynesianismus vs. Neoklassik 2013 (!) auch schon einmal geschrieben.

Ich freue mich in jedem Fall, all diese Fragen kommende Woche im Podcast der Bohrleute mit Dirk Ehnts besprechen zu können, der freundlicherweise zugesagt hat. Von daher freue ich mich auch auf eure kritischen Anmerkungen in den Kommentaren, die ich dann in das Gespräch mit einbringen kann.

Freitag, 18. Februar 2022

Rezension: Nicholas Mulder - The Economic Weapon

 

Nicholas Mulder - The Economic Weapon (Hörbuch)

Wirtschaftliche Sanktionen sind gerade angesichts der russischen Aggression gegenüber der Ukraine in aller Munde. Sie sind ein Werkzeug im diplomatischen Werkzeugkasten, das dort noch nicht so furchtbar lange zur Verfügung steht und scheinen in ihrem Potenzial und ihren Grenzen unzureichend verstanden. Nicholas Mulder versucht, einen Teil dieser Lücke zu schließen, indem er diese Monographie zur Erfindung von Wirtschaftssanktionen vorlegt.

Als der Erste Weltkrieg begann, planten alle Seiten mit einem raschen Ende der Feindseligkeiten. Große Offensiven sollten dieses Ende herbeiführen. Gleichzeitig würde ein globaler Handelskrieg eine längerfristige Kriegführung praktisch unmöglich machen. Keine dieser Vorhersagen traf ein. Aber während das Vertrauen in entscheidende Offensiven nachhaltig erschüttert wurde, schien die totale Blockade der gegnerischen Wirtschaft ein probates Mittel zu sein und bleibt bis heute ein scheinbar effektives Mittel.

Mittwoch, 16. Februar 2022

Bayrische Eltern fordern von kupfernen Lkw-Fahrern mehr Sex im Außenministerium - Vermischtes 16.02.2022

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Völkerball? Nichts hat mich so gedemütigt!

Vergangenen Freitag habe ich unsere Klassenlehrerstunde in der Turnhalle verbracht. Gleichzeitig tobte auf Social Media mal wieder ein Sturm der Entrüstung über schulischen Sportunterricht (klick) – ausgelöst von jemandem, den ich ansonsten sehr schätze. Schnell landet man bei „systematischem Mobbing“ und – natürlich – dem Verweis auf Völkerball. [...] Ich glaube, dass jeder Unterricht ganz maßgeblich von seiner Kultur geprägt wird. Darf man Fehler machen? Darf man sich gegenseitig unterstützen? Haben wir als Klasse ein gemeinsames Ziel? Das sind die entscheidenden Dinge. Und dann kann ich auch Völkerball spielen. Oder Kinder an der Tafel falsch rechnen lassen. Oder schiefe Aufsätze präsentieren. Das ist Schule, an die ich mich erinnere. Und es ist Schule, wie ich sie zu gestalten versuche. (Jan-Martin Klinge)

Ich stimme Klinges Kritik vollkommen zu. Gerade der Sportunterricht als eine Art rituelle Demütigung, ständige Vorführung der eigenen Unzulänglichkeit, ist mir noch allzugut im Gedächtnis. Das änderte sich mit einem Schlag mit einem neuen Sportlehrer in der 12. Klasse. Anstatt permanent gezeigt zu bekommen, wie schlecht ich in Sport war, vertrat er die Ansicht, dass das Wichtigste war, dass wir uns bewegten. Der Unterricht machte plötzlich richtig Spaß, und ich hatte so gute Sportnoten wie noch nie zuvor. Er hat übrigens ein Instagram-Profil, Grüße gehen raus.

Gleichzeitig ist die Fehlerkultur ein Ideal, dem ich mich auch verpflichtet sehe, das aber im ständigen Klausurenzwang einerseits und den Realitäten des Unterrichts andererseits nur schwer umsetzbar ist, ein Faktor, den auch die Kritik von Philippe Wampfler zum Artikel anspricht. Aber Kollaboration und aus Fehlern zu lernen wäre wesentlich sinnvoller als die ständige in Nummern gegossene Bescheinigung dessen, was man alles noch nicht kann.

2) Ist es radikal, ein Recht auf Erholung zu fordern?

Ich denke nicht, diese Notbremse einer längeren Pause vom Job zu ziehen, wäre ein Ausdruck von Schwäche, im Gegenteil: Eine Situation zu beenden, die der körperlichen oder seelischen Gesundheit schadet, in der Kinder oder andere liebe Menschen viel zu kurz kommen oder der Stress in keinem Verhältnis mehr zu dem steht, was man zurückbekommt, kann Ausdruck von Vernunft und Stärke sein. Da sich Kinder oder zu pflegende Angehörige nicht für ein paar Wochen abgeben lassen, bleibt nur die Wahl, die Erwerbsarbeit zu kürzen oder sich für mehrere Wochen krank schreiben zu lassen. Auch das hörte ich ab und an von Müttern. Diese eher drastischen Maßnahmen zeigen aber vor allem eines: Die Alltagsaufgaben lassen nicht genug Platz, um sich zu erholen und gesund zu bleiben. Wer hat unser Leben auf diese Weise designt? [...] Eine Pressekonferenz zur Belastung von Familien, die ein vergleichbares mediales Interesse ausgelöst hat wie der Abtritt eines Sportdirektors, hat es in den vergangenen zwei Jahren nicht gegeben. In den regelmäßigen Pressekonferenzen des damaligen Bundesgesundheitsministers Jens Spahn wurden die gestiegenen gesundheitlichen Belastungen von Care-Verantwortlichen weder thematisiert noch von Journalist*innen abgefragt. Dieses Desinteresse an der Public-Health-Dimension von Elternschaft und Angehörigen-Pflege sowie psychischer Gesundheit allgemein hat sich auch mit dem neuen Gesundheitsminister Karl Lauterbach und der neuen Familienministerin Anne Spiegel bislang nicht verändert. (Theresa Bücker, SZ)

Um die Frage aus der Überschrift zu beantworten: leider ist das radikal, ja. Ich habe an dieser Stelle schon öfter festgestellt, dass neben kleinen Selbstständigen wohl nur Familien während der Pandemie so mies von der Politik behandelt wurden. Ich kann Bückers Kritik so nachfühlen, denn als Eltern von Grundschulkindern empfinden wir, empfinde ich, auch diese Belastung, diese völlige Aushöhlung und Erschöpfung durch den Spagat aus den gestiegenen Anforderungen an die Care-Arbeit und die gestiegenen Anforderungen an Erwerbsarbeit und Alltag, die durch die Pandemie seit zwei Jahren auf uns niederdrücken - ein Druck, der von der Politik noch nicht einmal anerkannt wird, geschweige denn, dass etwas dagegen getan wird. Das Einzige, was wir bekommen, sind gebetsmühlenartige Beteuerungen, dass die Schulen offen bleiben. Das aber ist nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für ein Zurechtkommen mit diesem mittlerweile chronischen Ausnahmezustand.

3) Gegenwind aus Bayern - Deutschland muss sich auf einen neuen Markus Söder einstellen

Deutschland, mach‘ Dich gefasst! Auf einen neuen Markus Söder. Einen, der mit dem bisherigen Söder nur noch die Ruppigkeit und das Grinsen gemeinsam hat. Der Kurswechsel bei der Impfpflicht ist nur der Anfang. Der bayerische Ministerpräsident wird auf vielen weiteren Politikfeldern ins konservative Lager umschwenken oder zumindest rechts blinken. Asylpolitik, Genderfragen, Wirtschaft, Umwelt, Außenpolitik – Söder wird immer häufiger zum Maverick werden, wie die Amerikaner einen politischen Außenseiter und Einzelkämpfer nennen. [...] Söder ist jetzt Opposition. Schluss mit der staatstragenden Zusammenarbeit in Berlin. Der Ministerpräsident des mächtigsten Bundeslandes in Deutschland nimmt ab sofort keine Rücksicht mehr auf bundespolitische Belange. Was in Berlin schiefläuft, nutzt ihm in Bayern. Söder hat sein bayerisches Kabinett und die Landesgruppe angewiesen, die Ampel bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu kritisieren. Auch, wenn das eine Umkehr bisheriger Politik bedeutet. [...] Nächstes Jahr wählt Bayern eine neue Staatsregierung. Wenn Markus Söder bei der bayerischen Landtagswahl ein ebenso klägliches Wahlergebnis erzielt wie bei der Bundestagswahl, dürfte er die längste Zeit CSU-Chef gewesen sein. (Michael Watzke, Deutschlandfunk)

Mich überrascht diese Wendung des besten Kanzlers, den Deutschland nie hatte (wenn man einigen konservativ-liberalen Kritiker*innen glauben darf) nicht sonderlich. Söder hat schon vorher ein großes Talent dafür gezeigt, seine Fahne nach dem Wind zu hängen; seine Schwäche liegt eher darin, dass er kein besonders guter Meteorologe ist. Bisher hat er mit seinem Opportunismus eine 50:50-Trefferquote: während er sich mit seinem Rechtsruck 2018 völlig vergaloppierte, war seine Wendung zum Vernunftkonservativen zumindest in den Umfragen erfolgreicher; ob er das auch in einen Wahlsieg münzen kann, bleibt abzuwarten. Ich würde jedenfalls nicht auf Söder bauen, bei irgendwas. Der Mann ist nicht der zuverlässigste Kantonist. Das linksradikale Hetzblatt Spiegel sieht das Ganze übrigens wesentlich positiver.

4) Steven Soderbergh on Superhero Movies’ Stunning Lack of Sex and What ‘Contagion’ Got Wrong

These universes are pretty conspicuously sexless.

The fantasy-spectacle universe, as far as I can tell, typically doesn’t involve a lot of fucking, and also things like—who’s paying these people? Who do they work for? How does this job come to be?

Right, and avoiding those practical things is part and parcel of stories that aren’t rooted in real life.

If people want to go experience that universe, that’s fine. As a filmmaker, I just don’t know where to start. [...]

Kimi isn’t your first film to deal with a pandemic—that would be 2011’s Contagion. Were you surprised that, during the early days of COVID-19, so many people revisited it? And have you?

I didn’t really need to go back to it, because it was really obvious that what we thought would be a niche voice, or a single note within a chord—the Jude Law character—we had no idea that that would become the dominant chord. That that sort of attitude, and skepticism, would really turn into the primary issue. We stupidly didn’t imagine that people, when given the opportunity to not get sick, wouldn’t take it. It just didn’t occur to us, on a mass scale. I think we always assumed there’d be a small percentage of people that would take that position, but that generally people would be happy to be immune. Yeah… we missed that by a wide margin. (Nick Schager, The Daily Beast)

Die Sexlosigkeit des Disney-Konzerns, besonders bei Marvel, aber auch in anderen Formaten, ist auch ein Punkt, auf den mein Podcast-Kollege Sean T. Collins immer wieder zurückkommt. Es ist merkwürdig, wie Filme aus den 1970er und 1980er Jahren wesentlich "sexier" (im Sinne von: Sex darstellend) waren als heutige Filme. Das ist natürlich eine amerikanische Marotte, die wegen der kulturellen Dominanz Hollywoods weltweit durchschlägt, aber auch deutsche Medien sind wesentlich zurückhaltender, als das früher der Fall war. Da wird ein kompletter Lebensbereich zunehmend aus der Kunst hinausgedrängt.

Gleiches gilt für die Frage von Geld. Mich nerven ehrlich gesagt Geschichten, in denen Geld keine Rolle spielt, obwohl es eine spielen sollte (wenn beispielsweise Cops in ihrer Freizeit irgendwelche Fälle lösen und dabei Spesen anhäufen, die jedem VW-Manager zur Schande gereichen würden). Nicht, weil es "unrealistisch" ist, sondern auch hier, weil es Lebensrealitäten ausblendet und mich als Zuschauer für dumm verkauft.

Und zuletzt noch der Gedanke zu Contagion: ich habe den Film im Lockdown 2020 erneut angesehen, und mir fiel damals auch massiv auf, wie Jude Laws Charakter sich geändert hat. Als ich ihn 2011 das erste Mal sah, nervte er mich (wie übrigens viele Rezensenten damals) massiv, schien ein Fremdkörper. Heutzutage müssen wir eher sagen, dass er deutlich unterschätzt wurde. Das gilt aber für Vieles, was in Contagion passiert: wir waren viel zu optimistisch.

5) Das steckt hinter Baerbocks Personalien

[Jennifer Morgans] Berufung sorgt in der Opposition für mächtig Zündstoff. Vor allem die Union wirft Baerbock vor, zwischen Staatspolitik und Lobbyismus nicht zu unterscheiden. Dabei erscheint die Berufung Morgans als logisches Puzzleteil in einer Strategie, mit der die Grünen in die Bundesregierung gegangen sind: Der Kampf gegen die Klimakrise zieht sich als Leitmotiv durch alle grünen Ministerien – das findet sich nun umso stärker im Auswärtigen Amt wieder. Mit der Berufung Morgans macht Baerbock klar, dass das Problem der Erderwärmung nur international gelöst werden kann. Außerdem sendet die Personalie auch ein Signal an die Klimaaktivisten, die der Partei zu dem Erfolg bei der Bundestagswahl verhalfen. Die personelle Zusammensetzung des Auswärtigen Amtes unter Baerbock spiegelt die grünen Schwerpunkte in der Außenpolitik. Es geht um internationale Klimapolitik, eine enge Abstimmung der deutschen Politik mit den europäischen und transatlantischen Partnern und um Friedenspolitik. Baerbock hat sich dafür in all diesen Punkten ein kompetentes Team von Politikern zusammengestellt, die nicht unbedingt in die erste Reihe der Grünen drängen. [...] Die Kompetenz des promovierten Sicherheitsexperten [Tobias Lindner] wird über Parteigrenzen geschätzt. [...] Lührmann bringt viel Erfahrung in der internationalen Zusammenarbeit und in der Demokratieforschung mit. Die deutsch-französische Zusammenarbeit ist das Fundament der Europäischen Union – Lührmann soll hier Weichen für die Zukunft stellen. [...] Neben den Staatsministern besetzte Baerbock auch die Posten der Staatssekretäre mit sehr erfahrenen Diplomatinnen und Diplomaten. (Patrick Dieckmann, T-Online)

Als ich den Entwurf für diesen Artikel geschrieben habe, hatte ich noch als Notiz, dass sich niemand mit Habecks Personalien, oder denen von Lindner, beschäftigt. Aber Lindner hat jetzt Lars Feld als Berater ernannt, und damit werden seine Personalien auch diskutiert (und meiner Meinung nach reichlich überbewertet, genauso wie die von Baerbock). Bleibt der Fall Habeck. Für den Buhai, der zur Wahl um ihn gemacht wurde - analog zu Söder in Fundstück 3 der beste Grünen-Kanzlerkandidat, den die Partei nie hatte - ist es sehr ruhig um ihn geworden. Das muss nicht zwingend etwas Schlechtes sein, aber auffällig ist das nach der allgemeinen Habeck-Begeisterung schon. Beinahe, als wäre er nur eine Projektionsfläche für die Unzufriedenheit mit Baerbock gewesen, und jetzt ist allen wieder aufgefallen, dass sie eigentlich gar keine Grünen mögen.

Überhaupt, Baerbock. Sie ist für mich eine der positiven Überraschungen des Kabinetts, wenngleich das angesichts der extrem niedrigen Erwartungen nicht unbedingt viel heißt. Aber in letzter Zeit beweist sie echtes politisches Talent, das ich ihr nach dem miserablen Wahlkampf nicht mehr zugetraut hatte. Man sieht, warum sie Vorsitzende der Grünen werden konnte und welches Potenzial in ihr gesehen werden konnte. Dumm nur für die Grünen, dass sie das nach der Wahl macht. - Aber ernsthaft, ihre Inszenierung kann sich mit der von Karl Guttenberg messen, der der letzte Politiker der Bundesrepublik war, der wirklich gute Bilder produziert hat, und das war 2010! Und ihre Personalauswahl beweist, dass sie a) ein Verständnis dafür hat, wie sie ihre (sehr beschränkte) Macht nutzen kann und b) eine klare Linie verfolgt. Ob daraus auch was wird bleibt abzuwarten, aber alleine diese zarten Anfänge hätte ich ihr nicht zugetraut.

6) The Great Climate Backslide: How Governments Are Regressing Worldwide

From the U.S. to China, in Europe, India and Japan, fossil fuels are staging a comeback, clean energy stocks are taking a hammering, and the prospects for speeding the transition to renewable sources of power are looking grim. That’s even as renewable energy costs have fallen rapidly and investment in clean technologies is soaring, while voters across the world demand stronger action. [...] In Washington, President Joe Biden is struggling to get his signature “Build Back Better” bill and its core climate measures through the Senate. An initial proposal, which would have devoted some $555 billion to climate and clean energy, has collapsed amid objections from all of the chamber’s Republicans and a key Democrat, Joe Manchin of coal- and gas-rich West Virginia. [...] Japan’s new prime minister, Fumio Kishida, is feeling similar pressure. Last month, in an effort to keep a lid on prices, his government announced subsidies for oil refiners worth some 3 U.S. cents per liter of gasoline produced. This week, it said it was considering going further to mitigate the impact of rising oil prices amid reports it may triple the subsidy rate. [...] “Cutting emissions is not aimed at curbing productivity or at no emissions at all,” Xi said, stressing that economic development and the green transition should be mutually reinforcing. To illustrate his point, this week China offered its vast steel industry an additional five years to rein in its carbon emissions. [...] The energy crunch has without doubt cast a shadow on the European Union’s debate about how to implement its Green Deal, an unprecedented economic overhaul to reach climate neutrality by 2050. Many governments are concerned that the spike in prices may undermine public support for the reforms. (Akshat Rathi/Will Wade/Sergio Chapa/Eric Roston/Ben Westcott, Bloomberg)

Schlechte Nachrichten stapeln sich derzeit auf schlechte Nachrichten. Ich bin mittlerweile nur noch pessimistisch, was die Chance angeht, dass wir den Klimawandel auch nur ausreichend mitigieren (aufhalten ist ja eh nur noch ein Traum). Wir haben ja in der Pandemie gesehen, wie unglaublich dämlich der ganze Diskurs schnell wird, wie Bedenkenträger alles blockieren und wie man halt laufen lässt, in der Hoffnung, es werde so schlimm schon nicht werden. Ich gehe davon aus, dass drastische Maßnahmen ergriffen werden, sobald echte Katastrophen passieren. Dann wird es zu spät sein, und die Maßnahmen werden viel drastischer sein als nötig, aber wir wollen es offensichtlich nicht anders. Siehe dazu auch Fundstück 9.

7) Raus aus dem Schloss!

Starke Worte, die aber doch keine Wucht entfaltet haben, keine großen, gesellschaftlichen Debatten anstießen. Dazu waren sie nicht mutig, nicht inspirierend genug. Manchmal, so wirkt es, kommt der einstige Parteisoldat, loyale Amtsträger und fleißige Technokrat bis heute nicht aus seiner politischen Haut heraus. Manchmal wirkt die Würde dieses Amtes auf ihn noch allzu hemmend. [...] In der zweiten Amtszeit muss er die Rolle, die er sich selbst gegeben hat, als Brückenbauer, innen- wie außenpolitisch, als Wahrer der gefährdeten Demokratie und, natürlich, als steter Mahner endlich erfüllen. Es muss nicht die große Rede sein, mit der das gelingen kann. Die Zeiten, in denen das Wort des Staatsoberhaupts die Nation aufrüttelte, sie sind vermutlich ohnehin vorbei. Wer notiert sich schon die jährliche Weihnachtsansprache in seinem Kalender? [...] Meint er es aber ernst mit dem Vorhaben, nach dem Kitt suchen zu wollen, der die Gesellschaft zusammenhält, und den Stellen, an denen dieser Zusammenhalt gefährdet ist, muss Steinmeier, sobald es wieder geht, raus aus seinem Schloss. Er muss die Orte aufsuchen, an denen die Brüche spürbar sind, in und außerhalb von Deutschland. Er muss vor allem zeitgemäße Formen und Worte finden, um auf diese Brüche aufmerksam zu machen und er muss Ideen entwickeln, diese Brüche zu heilen. Der Brückenbauer muss sich ein wenig neu erfinden. (Martin Knobbe, SpiegelOnline)

Solche Artikel kann ich leiden wie Fußpilz. Es ist eine einzige Kollektion von Bundespräsidentenklischees. Die Macht der Rede! Als wäre das je etwas gewesen, mit dem Bundespräsidenten reüssiert hätten. Wir kennen genau zwei große Reden, die "8. Mai" von Weizsäcker und die "Ruck"-Rede von Herzog, und da auch jeweils nur ein Zitat ("Der 8. Mai war auch für uns ein Tag der Befreiung" und "Es muss ein Ruck durch Deutschland gehen"), die weiteren Inhalte der Reden sind völlig unbekannt. Die anderen Bundespräsidenten sind überhaupt nicht für irgendwelche Reden bekannt, sondern allenfalls durch Aussprüche ("Ein Stück Machtwechsel", Heinemann, und "Der Islam gehört zu Deutschland", Wulff). Gauck gilt als guter Präsident, was er vor allem seiner hervorstechendste Eigenschaft, nicht Köhler oder Wulff zu sein, zu verdanken hat; an Rau erinnert sich praktisch niemand, keine Sau kennt Karl Carstens; Scheel kennt man von einem Schallplattenhit und Theodor Heuss als "den ersten" und zumindest hier im Ländle Namensgeber mindestens einer Straße pro Stadt.

Gleiches gilt für das beknackte Klischee vom "raus ins Land gehen und mit Menschen reden". Diese Überbewertung von direkten Gesprächen - mit wie vielen Menschen kann denn ein einzelner Bundespräsident schon realistisch reden? - habe ich bereits in meinem Artikel zu Annika Brockschmidt thematisiert, und sie wird auch nicht besser, wenn man sie auf die Bundespräsidentenebene zieht. Karl Carstens verbrachte seine ganzen fünf Jahre damit, durch Deutschland zu wandern. Niemand sprach so viel und so ungescriptet mit Bürger*innen. Der Effekt: null. Auch Steinmeier wird keine "Brücken bauen", weil die Leute, für die Knobbe und andere so gerne Brücken gebaut sehen würden, diese Brücken sprengen. Die WOLLEN keine Brücken, da kannst so viele bauen, wie du willst. Die Vorstellung, dass ein Bundespräsident, noch dazu ein Steinmeier, irgendwie "heilen" könnte, ist völlig überzogen. Ich plädiere für einen realistischen Blick auf das Staatsoberhaupt, statt ständig diese rituellen Erwartungen aufzubauen und dann enttäuscht zu sehen.

8) Sei am besten ätscheil wie Götterspeise – Überlebensstrategien für Untergebene

Dann gehen wir über zum Dauerbrenner Agilität. Alles sei irgendwie Ätscheil: „Ursprünglich als Vorgabe an die Softwareentwicklung gestartet, um dynamische Programme zu ersinnen, hat sich das eigentlich so biegsame ‚agile‘ inzwischen erstaunlich zäh im Arbeitsleben eingenistet. In Teams soll ‚agile‘ gedacht, gearbeitet und geführt werden. Fragen nach dem Sinn eines Projektes? Behäbig. Pläne? Zu starr und blockierend. So agile wie Götterspeise soll das Team also die Brücke erst überqueren, wenn sie daherkommt und bis dahin sich selbst dynamisieren. Die Führungskraft darf da, wo alles fließt, nur noch ’supporten‘, bloß nicht führen: Denn bei so viel Elastizität zieht jeder an jedem und in jede Richtung. Dabei würde der Blick auf ein weiteres Fachgebiet lohnen, das sich der Wendigkeit verschrieben hat. Im ‚Agility‘ Hundesport kriechen Beagles oder Bordercollies durch Tunnel und hetzen über Hürden, während das Herrchen den Weg durch den Parcours weist. Entscheidend für den Erfolg ist dabei nur eine Kleinigkeit: das Leckerli.“ Blöd nur, dass das agile Management zentralistisch verordnet wird. Das Ganze bekommt einen agilen Anstrich und die Führungskräfte machen so weiter, wie in der Vergangenheit. Gleiches gilt für flache Hierarchien, dezentrale Einheiten oder Kulturwandel. Häufig nur Camouflage. Die leeren Plattitüden überdecken nur die Realität einer bürokratischen Mikroherrschaft.

Ich finde den Hinweis darauf wichtig, dass Führungskräfte sich in einer Art Dilemma befinden: auf der einen Seite wäre es gut, wenn sie ihren Untergebenen mehr Freiheiten lassen - flache Hierarchien etc. - aber auf der anderen Seite werden sie nach dem Show-Effekt bewertet, den sie selbst mitbringen. Das beißt sich, und dazu kommt oft genug der Kontrollwahn der Führungskräfte, die nicht loslassen können, glauben, alles besser machen zu können und sich im Micromanagent verlieren. Da auf der Lösung dieser Probleme keine Anreize liegen, werden sie auch nicht gelöst, sondern allenfalls mit Manager-Sprech zugekleistert.

9) AK-Studie: Nachhaltiger Konsum scheitert noch zu oft an ausräumbaren Hürden

Details aus der Studie: 65 Prozent der Befragten kaufen gezielt regionale Lebensmittel. "Haushalte mit geringeren Haushaltseinkommen kaufen weniger Bio- oder Fairtrade-Lebensmittel ein", sagte Johanna Bürger. "Gleichzeitig achten diese Haushalte aber auch mehr auf Nachhaltigkeit bei Haushaltsgroßgeräten, verwenden eher Zug als Flugzeug und schmeißen weniger genießbare Lebensmittel weg."[...] Das finden viele Menschen in Österreich gut: Verbot von Plastiksackerln (84 Prozent), eine Verpflichtung, abgelaufene, genießbare Lebensmittel günstiger oder gratis abzugeben (91 Prozent), Pestizidverbot (89 Prozent) sowie Mehrweg-Pfandsysteme (85 Prozent). 73 Prozent wünschen mehr Auswahl im Bio-Sortiment, nur 15 Prozent eine Vergrößerung des Produktsortiments generell. Wer nicht in den Urlaub fährt, nennt als häufigsten Grund die Finanzen (fast 70 Prozent). Der Zug wird eher von armutsgefährdeten Personen gewählt, das Auto von Personen mit mittlerem bis hohem Einkommen und das Flugzeug besonders häufig von Personen mit hohem Einkommen. Ein Drittel versicherte, das Reiseverhalten durch die Klimadebatte bereits verändert zu haben: durch Verzicht auf Flugreisen, Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel oder näher gelegene Destinationen. (APA, Der Standard)

Wie bereits in Fundstück 6 angesprochen finde ich solche Nachrichten wenig erbaulich. Alles, was in diesem Artikel angesprochen wird, ist unglaublich niedrigschwellig. Plastiktüten verbieten, ok, klar, gerne, aber wer glaubt denn, dass das viel bringt? Lebensmittel günstiger machen? Okay, her damit, aber das ändert praktisch nichts. Dito für ein größeres Biosortiment. Das mit dem Urlaub ist ein Scherz; alles, was die Leute da sagen, ist, dass sie das Mittel nehmen, das sie sich leisten können. Solche Maßnahmen mögen zu einem Feelgood-Erlebnis führen, aber sie ändern nichts Wahrnehmbares am CO2-Ausstoß. Und selbst hier gibt es riesige Kulturkämpfe um diesen Kram. Es ist zum Haareraufen.

10) Today’s brass balls award goes to . . .

Bottom line: over the course of the past three decades, Republicans have cut the IRS workforce by nearly 40,000. Even when you add back the small numbers that Democrats have won, the IRS workforce is still down by over a third since 1992. But that's not all. It would be simple for the IRS to simply calculate your taxes for you if you have a simple return. This would save tens of millions of taxpayers a huge amount of grief and would take a lot of pressure off of IRS help lines. So why not do it? Roughly speaking, the answer is that Intuit, the maker of TurboTax, has lobbied relentlessly to prevent it. And who supports Intuit? Mostly Republicans. If they supported free IRS tax prep, the vast majority of Democrats would join them. In other words, Republicans have spent the past three decades committed to the very things that hamstring the IRS most effectively: stripping it of workers and refusing to let it adopt an obvious labor-saving reform. There are two reasons for this:They want people to tear their hair out during tax season. It helps make taxes unpopular. They want to gut the IRS of the resources to audit rich people—and they have. I assume this needs no explanation. (Kevin Drum, Jabberwocky)

Ich hatte erst letzthin beschrieben, dass es das Ziel der Republicans ist, den Staat (zumindest auf vielen Gebieten; Ausnahmen sind Polizei und Militär) zu sabotieren. Nirgendwo ist das so ersichtlich wie beim Finanzamt, dessen Kapazität, die Steuererklärungen der Reichen zu prüfen systematisch zerstört wurde. Deswegen fällt es der GOP auch wesentlich leichter, ihre Ziele zu verfolgen. Sie braucht keine Mehrheiten im Kongress dafür. - In wesentlich geringerem Ausmaß fand das ja zum Beispiel hier in Deutschland beim hessischen Finanzamtskandal auch statt, wobei hier die Gründe anders gelagert waren.

11) When protests aren't progressive

The progressive left likes to tell itself a story about political life. Yes, there can be legitimate alternation between parties and governing ideologies. But over the longer term, history moves in the progressive direction, toward ever greater freedom, justice, and equality — as the left defines them. Sometimes such progress slows or is halted for a while. At other times it unfolds gradually. And at still others, popular protest demands it accelerate. Those are the options, and they show both that the movement of history tends toward the goals progressives favor and that popular protest is a kind of fuel powering that salutary change. [...] The progressive left thinks this is how progress happens — when the powerless, the oppressed, and their allies demand in the streets that the arc of history be bent toward justice, refusing to accept the efforts of the powerful, the rich, and other established powers to resist change. [...] But this isn't at all the way progressives have responded to the trucker protests in Canada and elsewhere. From elected officials to commentators in the media, the tone of the reaction has been closer to outright contempt. And the reason why is obvious: The truckers aren't pursuing progressive aims. They're taking a stand against public health regulations and restrictions imposed by progressive governments, and that has angered the powers that be. This has led some conservatives to hurl their favorite accusation at the left: Progressives are hypocrites! They claim to support protests, but only when people marching are on their side! The charge is valid, as far as it goes. But it misses what's most illuminating in the left's hostile reaction to the trucker protests. Progressives aren't just displaying ideological double standards. They're lashing out against the fact that some of their most fundamental social and political assumptions are no longer valid — or at least much less valid than they once were. Those toward the bottom of the sociopolitical hierarchy railing against systemic injustices don't necessarily favor progressive aims and may actually prefer policies and goals normally associated with the right. (Damon Linker, The Week)

Ein wichtiger Artikel in meinen Augen, denn allzuviele Progressive geben sich einer idealisierten Sicht hin, dass alle Proteste naturgemäß von unterdrückten Menschen kommen, die ihre eigenen Prioritäten teilen. Dabei muss ich gar nicht in der Gegenwart verbleiben; die Geschichte kennt genügend Beispiele von Protesten, die keinen progressiven Zielen folgten. Man identifiziert sich gerne mit dem Underdog, aber nur weil jemand Underdog ist, ist der noch lange nicht der Gute (Gut und Böse variieren natürlich nach Sicht des Betrachtenden). Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, und ohne die vorherige Selbsterhöhung, sämtlichen Protest für die eigene Seite vereinnahmen zu wollen, wäre das dann auch kein Problem. So aber muss man entweder heuchelnd die eigenen Maßstäbe brechen oder aber irgendwelche dummen Theorien erfinden, warum die Leute, wenn sie denn nur nicht von irgendwelchen übelmeinenden Mächten manipuliert würden, IN WAHRHEIT natürlich links wären...alles solche intellektuellen Torheiten, die zu nichts führen.

Nachträge:

Ich probiere mal eine neue Kategorie aus, in der ich Nachträge zu vergangenen Vermischten verlinke:

- Zum Thema "Einfluss Chinas" (Fundstück 1) hier Zensur durch TikTok, das das deutsche Wort "Umerziehungslager" zensiert, was TikTok mit der Begründung entschuldigt, dass der Algorithmus das für ein total anderes englisches Wort gehalten habe. 10/10 Poschardts dafür, zumindest

- Ein Video, das Intersektionalität sehr gut erklärt, die im letzten Vermischten (Fundstück 6) Thema war.

- Nicht nur Boris Johnson (Fundstück 2) beweist eine unglaubliche Ignoranz gegenüber den Dingen, über die spricht und entscheidet, sondern auch Elon Musk. Der ist eh einer dieser super-gefährlichen Milliardäre. Extremistische Ideen, wenig Ahnung, aber völlige Hybris und keinerlei Inhibitionen, diktatorisch seinen Willen durchzusetzen. Echt gruselig.

- Meine Kritik an der politischen Umsetzbarkeit einer CO2-Steuer findet täglich neue Bestätigung.

- Dieser Twitterthread ist eine gute Ergänzung zu meinem Corona-Seelenstriptease.

- Interessante Informationen zu "Meritokratie als Selbstbetrug", die zu der Diskussion über CEOs aus dem letzten Vermischten (Fundstück 3) passt.

- Aktuelles Beispiel zu Hierarchien in Bürgertum und Liberalismus, wie im letzten Vermischten in den Kommentaren diskutiert.

- Ich plane gerade eine Unterrichtseinheit zur Statuenkontroverse im englischsprachigen Unterricht und habe dazu einige Rechercheaufträge zur Geschichte des Bürgerkriegs gegeben. Ich fragte meine angelsächsischen Freunde ob sie kurz drüberschauen können, und interessanterweise wunderten sie sich sowohl über das Fehlen von Triggerwarnungen als auch über die politische Gefahr eines solchen Auftrags - beides Sorgen, die ich mir noch nie gemacht habe. Wir scheinen im Unterricht in Deutschland schon wesentlich freier zu sein als in den USA.

Montag, 14. Februar 2022

Die Jugend ist nicht eure Projektionsfläche

 

Ein literarisches Genre, das mindestens so alt ist wie die Erfindung der Schrift (wenn man Graeber und Woncroft folgen mag: genauso alt) ist die Klage über die Jugend von heute. Bereits von Sokrates ist überliefert, dass er sich über ihre Manieren und Musikgeschmack beklagt habe, wobei da natürlich das berühmte "citation needed" der Wikipedia angefügt werden sollte, wie bei allem, was Sokrates angeblich so gesagt hat. Aber schon Lincoln warnte davor, nicht alles zu glauben, was man im Netz so findet. Klagen über die Degredation der Jugend aber sind unzweifelhaft immer in Mode. Nicht ganz so alt und auch nur periodisch beliebt ist dagegen die Überhöhung der Jugend. Besonders die Nationalsozialisten, aber auch ihre Gegenstücke im Osten, praktizierten diese Art der Projektion. Ein neuer Menschentyp sollte entstehen, eine strahlende, bessere Jugend auferstehen und wahlweise Land, Rasse oder Welt retten. Ob übertriebener Pessimismus oder Optimismus, in all diesen Fällen wird die Jugend zur Projektionsfläche für die Älteren. Das ist sie aber nicht. Die Jugend von heute ist ihr eigenes Ding, nicht mit Heiligenschein, nicht mit Satanshörnern, und diese Vorstellungen verraten mehr über diejenigen, die diese Projektionen aufbauen, als die jeweilige Jugend selbst. Beliebt ist etwa die Idee, die Jugend von heute sei verweichlicht. Auch diese Idee lässt sich problemlos bis zu den Alten Griechen zurückverfolgen. Die Schuldigen für diese Verweichlichung ändern sich: bei den Nazis waren es die liberale Welt und der verderbliche jüdische Einfluss, die Realsozialisten sahen den Hunger nach westlichen Konsumgütern als Kern des Problems, mal sind die Pädagog*innen und Eltern schuld, mal sind es die Jugendlichen selbst, denen "der Biss fehlt", sich einen Platz in der Welt zu erkämpfen. Implizit steckt da natürlich immer die Idee drin, die eigene Generation sei härter. Es ist letztlich eine Verklärung und Überhöhung der eigenen Lebenserfahrung. Man selbst hat ja noch richtig kämpfen müssen, aber die Jugend von heute, die kriegt alles in den Schoß geworfen.

Übersehen wird dabei gerne, dass "verweichlicht" oder "fehlender Biss" oder was auch immer die aktuelle Formulierung ist eine starke Wertung enthält. Es handelt sich um keine objektive Kategorie. All das lässt sich, wie es etwa exemplarisch Christian Stöcker in seinem Artikel tut, genauso gut positiv wenden. Das ist, wie wir später sehen werden, genauso Quatsch, zeigt aber die Beliebigkeit dieser Wertungen. Es geht letztlich um das, was man selbst argumentieren will, eine Zurschaustellung der eigenen Wertmaßstäbe, ohne das offenkundig zu machen. Anstatt klar zu sagen, für welche Werte man eintritt und dass man diese für allgemeingültig erklären will, schiebt man die Jugend vor und nutzt sie als Projektionsfläche. Das ist ein feiges Ausweichmanöver.

Wir sehen das auf einer weniger grundsätzlichen Ebene auch mit dem ständigen Gemecker der angeblich so viel schlechter werdenden Schreib- und Lesefähigkeiten der Jugend. Ich habe dieses Thema bereits 2013 analysiert, bevor es dieses Blog hier überhaupt gab. Auch hier gilt, dass Kategorien wie "gut" oder "schlecht" Wertungen sind, die nicht so einfach objektivierbar sind, wie da gerne getan wird. Klar, anekdotische Evidenz irgendwelcher Leute, die sagen, dass sie früher bessere Arbeiten hatten, gibt es immer, und im oben verlinkten Artikel entblödet sich ein 26jähriger nicht, ohne irgendwelche Erfahrungswerte oder gar Verweis auf Empirie (wo kämen wir da hin...) diese Behauptung aufzumachen.

Auch dieses "die Jugend kann heute X nicht mehr" ist ein uraltes Genre. Im 19. Jahrhundert beklagten sich bestimmt alternde Cowboys darüber, dass die Jugendlichen nicht mehr so gut reiten können wie sie. Meine Großmutter empfand es vermutlich als Verlust, dass die ihr nachfolgende Generation nicht mehr so gut Vorräte einkochen konnte. Nur ist der Verlust vieler dieser Fertigkeiten eben auch ein Ausdruck ihres Bedeutungsverlusts. Wer sich mit diesen Fähigkeiten identifiziert oder einfach nur generell der Überzeugung ist, wertvolle Fähigkeiten zu haben, wird das ablehnen.

Ich kenne das von mir. Etwas die Jugend von heute zum Beispiel nicht kann, entgegen dem unsäglichen Mythos vom Digital Native, ist die Bedienung eines Betriebssystems. Einstellen von IP-Adressen und Ähnliches ist den meisten völlig unklar. Nur, sie brauchen es halt auch nicht mehr, weil anders als in Windows 98 das alles heutzutage zuverlässig automatisch passiert. Dazu kommt der andere Faktor: schon zu meiner Zeit war das keine Mehrheitsfähigkeit. Klar, in meiner Blase konnten das alle, weil wir LAN-Parties gemacht haben. Aber davon abgesehen konnte das schon zu meiner Zeit niemand.

Und das ist der größere Punkt. Nicht nur sind diese Rückprojektionen angeblich verlorener und früher weithin gekonnter Fähigkeiten eigentlich nur identitätspolitische Nebelkerzen, die ein "wir waren besser als ihr" in sozialverträglicher Form präsentieren, es stimmt meistens nicht einmal. Der oben verlinkte Artikel zur Rechtschreibung und den Lesefähigkeiten sei ein gutes Beispiel dafür. Der Autor bejammert, dass heutzutage kaum noch Bücher gelesen werden. Als ob das je anders war! Das massenhafte Lesen von Büchern war schon immer ein Minderheitenphänomen, und vielleicht lesen jetzt nur noch 20% statt 25% im Monat mindestens ein Buch. Okay. Aber es ist nicht so, als wäre eine entscheidende Kulturtechnik verlorengegangen, die früher weithin verbreitet gewesen wäre.

Wäre es gut, wenn alle monatlich ein oder mehr Bücher lesen würden? Klaro. Das würde die Lese- und Rechtschreibfähigkeiten, die Ausdrucksfähigkeit und alles was dazugehört massiv verbessern. Nur, man kann das bejammern wie man will, die Mehrheit will das offensichtlich nicht. Die Jugend von heute genauso wenig wie die Jugend von vor 30 Jahren. Die Leute, die das bejammern, sind diejenigen, die schon immer Bücher gelesen haben, genauso wie die Leute, die mangelnde IP-Setzungsfähigkeiten beklagen, diejenigen sind, die das können. Man geht von sich selbst aus, setzt die eigenen Fähigkeiten absolut und projiziert sie dann triumphierend auf eine nebulös definierte "Jugend von heute". Dermaßen selbst bestätigt, kann man mit stolzgeschwellter Brust den Stammtisch verlassen. Nur, analytischen Wert hat das nicht.

Das gilt übrigens auch für die Gegenseite. Zu allen Zeiten haben Leute auch gerne die Jugend von heute als Vorbilder dargestellt, nach denen man sich orientieren sollte. Auch das war eigentlich immer überzogen. Die Nazis sahen in der deutschen Jugend eine härtere, gemeinschaftlich organisierte heranwachsen, voller rassischen Bewusstseins und mit neuer Härte die rassische Mission voranbringen. Der Wunsch war Vater des Gedankens. Man projizierte die eigenen Wünsche - wie gerne wäre man doch jung, stark und heldisch-erfolgreich - auf eine Generation und ließ sie diese Wünsche in einem riesigen, tödlichen Reenactment ausspielen.

Etwas weniger tödlich, wenngleich genauso geisttötend, lief das im real existierenden Sozialismus, wo 40 Jahre lang die Jugend auf die Freundschaft mit der Sowjetunion eingeschworen wurde und den neuen sozialistischen Menschen bilden würde. Wie man angesichts von Jugendführern wie von Schirach oder Honecker so etwas je ernstnehmen konnte, ist wohl in den Traumvorstellungen der Betroffenen verborgen.

Deutlich weniger totalitär sind diese Fantasien dann besonders 2019 hervorgetreten, als die Begeisterung über eine Jugend, die irgendwie alle Greta war, sich in progressiven Kreisen kaum in Grenzen hielt. Hier schien endlich das kritische politische Bewusstsein manifestiert zu sein, dessen Fehlen man seit Jahrzehnten beklagte und unter dem man schon in der Asta gelitten hatte. Dass selbst zu besten Zeiten sich kaum mehr als 30% der Jugendlichen mit der Klimabewegung identifizierten und davon kaum mehr ein Zehntel übrig sein dürfte, ging in dieser Euphorie gerne unter.

Auch Christian Stöcker im oben verlinkten Artikel verliert sich in wishful thinking, wenn er die Kritik an der verweichlichten Jugend ins Gegenteil zu wenden versucht und ihr stattdessen besonderes soziales Bewusstsein und gesunde Work-Life-Balance attestieren will. Gleiches gilt für die Jubelperserartikel der Art, in denen die Jugend von heute angeblich kein Interesse mehr an Autos hat und nur noch mit dem Fahrrad durch die Großstädte strampelt, um das Klima zu retten.

Das alles sind Projektionen. Da wird das eigene umweltpolitische Gewissen triumphierend auf eine neue Generation projiziert, so dass man selbst als Vorkämpfer der gerechten Sache erscheint - unabhängig davon, ob es um neue Fahrradwege oder den Rassekrieg in Russland geht; der psychologische Mechanismus ist der gleiche.

Die Wahrheit ist schlicht die: die Jugend von heute ist ein bisschen anders als die von gestern, besser in manchem, schlechter als in anderem - abhängig vom Standpunkt der Betrachtenden - vor allem aber unglaublich divers und nicht mit einem Schlagwort wie "Jugend von heute" zu fassen. Jeder solche Versuch muss scheitern, und deswegen sind alle diese Artikel, ob sie die Jugend nun für irgendwelche moralischen Verfehlungen kritisieren, denen man selbst natürlich noch erfolgreich widerstanden hat, oder ob sie die Jugend als Vorkämpfer für die gerechte Sache imaginieren, für die man schon immer eintrat, gleich blödsinnig. Die Jugend ist nicht eure Projektionsfläche. Sie haben ihre eigenen (diffusen) Wünsche, ihre eigenen (unrealistischen) Pläne, ihre eigenen (halbgaren) Ansichten - wie jede Jugend vor ihnen. The kids are alright.