Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.
1) Völkerball? Nichts hat mich so gedemütigt!
Vergangenen Freitag habe ich unsere Klassenlehrerstunde in der Turnhalle verbracht. Gleichzeitig tobte auf Social Media mal wieder ein Sturm der Entrüstung über schulischen Sportunterricht (klick) – ausgelöst von jemandem, den ich ansonsten sehr schätze. Schnell landet man bei „systematischem Mobbing“ und – natürlich – dem Verweis auf Völkerball. [...] Ich glaube, dass jeder Unterricht ganz maßgeblich von seiner Kultur geprägt wird. Darf man Fehler machen? Darf man sich gegenseitig unterstützen? Haben wir als Klasse ein gemeinsames Ziel? Das sind die entscheidenden Dinge. Und dann kann ich auch Völkerball spielen. Oder Kinder an der Tafel falsch rechnen lassen. Oder schiefe Aufsätze präsentieren. Das ist Schule, an die ich mich erinnere. Und es ist Schule, wie ich sie zu gestalten versuche. (Jan-Martin Klinge)
Ich stimme Klinges Kritik vollkommen zu. Gerade der Sportunterricht als eine Art rituelle Demütigung, ständige Vorführung der eigenen Unzulänglichkeit, ist mir noch allzugut im Gedächtnis. Das änderte sich mit einem Schlag mit einem neuen Sportlehrer in der 12. Klasse. Anstatt permanent gezeigt zu bekommen, wie schlecht ich in Sport war, vertrat er die Ansicht, dass das Wichtigste war, dass wir uns bewegten. Der Unterricht machte plötzlich richtig Spaß, und ich hatte so gute Sportnoten wie noch nie zuvor. Er hat übrigens ein Instagram-Profil, Grüße gehen raus.
Gleichzeitig ist die Fehlerkultur ein Ideal, dem ich mich auch verpflichtet sehe, das aber im ständigen Klausurenzwang einerseits und den Realitäten des Unterrichts andererseits nur schwer umsetzbar ist, ein Faktor, den auch die Kritik von Philippe Wampfler zum Artikel anspricht. Aber Kollaboration und aus Fehlern zu lernen wäre wesentlich sinnvoller als die ständige in Nummern gegossene Bescheinigung dessen, was man alles noch nicht kann.
2) Ist es radikal, ein Recht auf Erholung zu fordern?
Ich denke nicht, diese Notbremse einer längeren Pause vom Job zu ziehen, wäre ein Ausdruck von Schwäche, im Gegenteil: Eine Situation zu beenden, die der körperlichen oder seelischen Gesundheit schadet, in der Kinder oder andere liebe Menschen viel zu kurz kommen oder der Stress in keinem Verhältnis mehr zu dem steht, was man zurückbekommt, kann Ausdruck von Vernunft und Stärke sein. Da sich Kinder oder zu pflegende Angehörige nicht für ein paar Wochen abgeben lassen, bleibt nur die Wahl, die Erwerbsarbeit zu kürzen oder sich für mehrere Wochen krank schreiben zu lassen. Auch das hörte ich ab und an von Müttern. Diese eher drastischen Maßnahmen zeigen aber vor allem eines: Die Alltagsaufgaben lassen nicht genug Platz, um sich zu erholen und gesund zu bleiben. Wer hat unser Leben auf diese Weise designt? [...] Eine Pressekonferenz zur Belastung von Familien, die ein vergleichbares mediales Interesse ausgelöst hat wie der Abtritt eines Sportdirektors, hat es in den vergangenen zwei Jahren nicht gegeben. In den regelmäßigen Pressekonferenzen des damaligen Bundesgesundheitsministers Jens Spahn wurden die gestiegenen gesundheitlichen Belastungen von Care-Verantwortlichen weder thematisiert noch von Journalist*innen abgefragt. Dieses Desinteresse an der Public-Health-Dimension von Elternschaft und Angehörigen-Pflege sowie psychischer Gesundheit allgemein hat sich auch mit dem neuen Gesundheitsminister Karl Lauterbach und der neuen Familienministerin Anne Spiegel bislang nicht verändert. (Theresa Bücker, SZ)
Um die Frage aus der Überschrift zu beantworten: leider ist das radikal, ja. Ich habe an dieser Stelle schon öfter festgestellt, dass neben kleinen Selbstständigen wohl nur Familien während der Pandemie so mies von der Politik behandelt wurden. Ich kann Bückers Kritik so nachfühlen, denn als Eltern von Grundschulkindern empfinden wir, empfinde ich, auch diese Belastung, diese völlige Aushöhlung und Erschöpfung durch den Spagat aus den gestiegenen Anforderungen an die Care-Arbeit und die gestiegenen Anforderungen an Erwerbsarbeit und Alltag, die durch die Pandemie seit zwei Jahren auf uns niederdrücken - ein Druck, der von der Politik noch nicht einmal anerkannt wird, geschweige denn, dass etwas dagegen getan wird. Das Einzige, was wir bekommen, sind gebetsmühlenartige Beteuerungen, dass die Schulen offen bleiben. Das aber ist nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für ein Zurechtkommen mit diesem mittlerweile chronischen Ausnahmezustand.
3) Gegenwind aus Bayern - Deutschland muss sich auf einen neuen Markus Söder einstellen
Deutschland, mach‘ Dich gefasst! Auf einen neuen Markus Söder. Einen, der mit dem bisherigen Söder nur noch die Ruppigkeit und das Grinsen gemeinsam hat. Der Kurswechsel bei der Impfpflicht ist nur der Anfang. Der bayerische Ministerpräsident wird auf vielen weiteren Politikfeldern ins konservative Lager umschwenken oder zumindest rechts blinken. Asylpolitik, Genderfragen, Wirtschaft, Umwelt, Außenpolitik – Söder wird immer häufiger zum Maverick werden, wie die Amerikaner einen politischen Außenseiter und Einzelkämpfer nennen. [...] Söder ist jetzt Opposition. Schluss mit der staatstragenden Zusammenarbeit in Berlin. Der Ministerpräsident des mächtigsten Bundeslandes in Deutschland nimmt ab sofort keine Rücksicht mehr auf bundespolitische Belange. Was in Berlin schiefläuft, nutzt ihm in Bayern. Söder hat sein bayerisches Kabinett und die Landesgruppe angewiesen, die Ampel bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu kritisieren. Auch, wenn das eine Umkehr bisheriger Politik bedeutet. [...] Nächstes Jahr wählt Bayern eine neue Staatsregierung. Wenn Markus Söder bei der bayerischen Landtagswahl ein ebenso klägliches Wahlergebnis erzielt wie bei der Bundestagswahl, dürfte er die längste Zeit CSU-Chef gewesen sein. (Michael Watzke, Deutschlandfunk)
Mich überrascht diese Wendung des besten Kanzlers, den Deutschland nie hatte (wenn man einigen konservativ-liberalen Kritiker*innen glauben darf) nicht sonderlich. Söder hat schon vorher ein großes Talent dafür gezeigt, seine Fahne nach dem Wind zu hängen; seine Schwäche liegt eher darin, dass er kein besonders guter Meteorologe ist. Bisher hat er mit seinem Opportunismus eine 50:50-Trefferquote: während er sich mit seinem Rechtsruck 2018 völlig vergaloppierte, war seine Wendung zum Vernunftkonservativen zumindest in den Umfragen erfolgreicher; ob er das auch in einen Wahlsieg münzen kann, bleibt abzuwarten. Ich würde jedenfalls nicht auf Söder bauen, bei irgendwas. Der Mann ist nicht der zuverlässigste Kantonist. Das linksradikale Hetzblatt Spiegel sieht das Ganze übrigens wesentlich positiver.
4) Steven Soderbergh on Superhero Movies’ Stunning Lack of Sex and What ‘Contagion’ Got Wrong
These universes are pretty conspicuously sexless.
The fantasy-spectacle universe, as far as I can tell, typically doesn’t involve a lot of fucking, and also things like—who’s paying these people? Who do they work for? How does this job come to be?
Right, and avoiding those practical things is part and parcel of stories that aren’t rooted in real life.
If people want to go experience that universe, that’s fine. As a filmmaker, I just don’t know where to start. [...]
Kimi isn’t your first film to deal with a pandemic—that would be 2011’s Contagion. Were you surprised that, during the early days of COVID-19, so many people revisited it? And have you?
I didn’t really need to go back to it, because it was really obvious that what we thought would be a niche voice, or a single note within a chord—the Jude Law character—we had no idea that that would become the dominant chord. That that sort of attitude, and skepticism, would really turn into the primary issue. We stupidly didn’t imagine that people, when given the opportunity to not get sick, wouldn’t take it. It just didn’t occur to us, on a mass scale. I think we always assumed there’d be a small percentage of people that would take that position, but that generally people would be happy to be immune. Yeah… we missed that by a wide margin. (Nick Schager, The Daily Beast)
Die Sexlosigkeit des Disney-Konzerns, besonders bei Marvel, aber auch in anderen Formaten, ist auch ein Punkt, auf den mein Podcast-Kollege Sean T. Collins immer wieder zurückkommt. Es ist merkwürdig, wie Filme aus den 1970er und 1980er Jahren wesentlich "sexier" (im Sinne von: Sex darstellend) waren als heutige Filme. Das ist natürlich eine amerikanische Marotte, die wegen der kulturellen Dominanz Hollywoods weltweit durchschlägt, aber auch deutsche Medien sind wesentlich zurückhaltender, als das früher der Fall war. Da wird ein kompletter Lebensbereich zunehmend aus der Kunst hinausgedrängt.
Gleiches gilt für die Frage von Geld. Mich nerven ehrlich gesagt Geschichten, in denen Geld keine Rolle spielt, obwohl es eine spielen sollte (wenn beispielsweise Cops in ihrer Freizeit irgendwelche Fälle lösen und dabei Spesen anhäufen, die jedem VW-Manager zur Schande gereichen würden). Nicht, weil es "unrealistisch" ist, sondern auch hier, weil es Lebensrealitäten ausblendet und mich als Zuschauer für dumm verkauft.
Und zuletzt noch der Gedanke zu Contagion: ich habe den Film im Lockdown 2020 erneut angesehen, und mir fiel damals auch massiv auf, wie Jude Laws Charakter sich geändert hat. Als ich ihn 2011 das erste Mal sah, nervte er mich (wie übrigens viele Rezensenten damals) massiv, schien ein Fremdkörper. Heutzutage müssen wir eher sagen, dass er deutlich unterschätzt wurde. Das gilt aber für Vieles, was in Contagion passiert: wir waren viel zu optimistisch.
5) Das steckt hinter Baerbocks Personalien
[Jennifer Morgans] Berufung sorgt in der Opposition für mächtig Zündstoff. Vor allem die Union wirft Baerbock vor, zwischen Staatspolitik und Lobbyismus nicht zu unterscheiden. Dabei erscheint die Berufung Morgans als logisches Puzzleteil in einer Strategie, mit der die Grünen in die Bundesregierung gegangen sind: Der Kampf gegen die Klimakrise zieht sich als Leitmotiv durch alle grünen Ministerien – das findet sich nun umso stärker im Auswärtigen Amt wieder. Mit der Berufung Morgans macht Baerbock klar, dass das Problem der Erderwärmung nur international gelöst werden kann. Außerdem sendet die Personalie auch ein Signal an die Klimaaktivisten, die der Partei zu dem Erfolg bei der Bundestagswahl verhalfen. Die personelle Zusammensetzung des Auswärtigen Amtes unter Baerbock spiegelt die grünen Schwerpunkte in der Außenpolitik. Es geht um internationale Klimapolitik, eine enge Abstimmung der deutschen Politik mit den europäischen und transatlantischen Partnern und um Friedenspolitik. Baerbock hat sich dafür in all diesen Punkten ein kompetentes Team von Politikern zusammengestellt, die nicht unbedingt in die erste Reihe der Grünen drängen. [...] Die Kompetenz des promovierten Sicherheitsexperten [Tobias Lindner] wird über Parteigrenzen geschätzt. [...] Lührmann bringt viel Erfahrung in der internationalen Zusammenarbeit und in der Demokratieforschung mit. Die deutsch-französische Zusammenarbeit ist das Fundament der Europäischen Union – Lührmann soll hier Weichen für die Zukunft stellen. [...] Neben den Staatsministern besetzte Baerbock auch die Posten der Staatssekretäre mit sehr erfahrenen Diplomatinnen und Diplomaten. (Patrick Dieckmann, T-Online)
Als ich den Entwurf für diesen Artikel geschrieben habe, hatte ich noch als Notiz, dass sich niemand mit Habecks Personalien, oder denen von Lindner, beschäftigt. Aber Lindner hat jetzt Lars Feld als Berater ernannt, und damit werden seine Personalien auch diskutiert (und meiner Meinung nach reichlich überbewertet, genauso wie die von Baerbock). Bleibt der Fall Habeck. Für den Buhai, der zur Wahl um ihn gemacht wurde - analog zu Söder in Fundstück 3 der beste Grünen-Kanzlerkandidat, den die Partei nie hatte - ist es sehr ruhig um ihn geworden. Das muss nicht zwingend etwas Schlechtes sein, aber auffällig ist das nach der allgemeinen Habeck-Begeisterung schon. Beinahe, als wäre er nur eine Projektionsfläche für die Unzufriedenheit mit Baerbock gewesen, und jetzt ist allen wieder aufgefallen, dass sie eigentlich gar keine Grünen mögen.
Überhaupt, Baerbock. Sie ist für mich eine der positiven Überraschungen des Kabinetts, wenngleich das angesichts der extrem niedrigen Erwartungen nicht unbedingt viel heißt. Aber in letzter Zeit beweist sie echtes politisches Talent, das ich ihr nach dem miserablen Wahlkampf nicht mehr zugetraut hatte. Man sieht, warum sie Vorsitzende der Grünen werden konnte und welches Potenzial in ihr gesehen werden konnte. Dumm nur für die Grünen, dass sie das nach der Wahl macht. - Aber ernsthaft, ihre Inszenierung kann sich mit der von Karl Guttenberg messen, der der letzte Politiker der Bundesrepublik war, der wirklich gute Bilder produziert hat, und das war 2010! Und ihre Personalauswahl beweist, dass sie a) ein Verständnis dafür hat, wie sie ihre (sehr beschränkte) Macht nutzen kann und b) eine klare Linie verfolgt. Ob daraus auch was wird bleibt abzuwarten, aber alleine diese zarten Anfänge hätte ich ihr nicht zugetraut.
6) The Great Climate Backslide: How Governments Are Regressing Worldwide
From the U.S. to China, in Europe, India and Japan, fossil fuels are staging a comeback, clean energy stocks are taking a hammering, and the prospects for speeding the transition to renewable sources of power are looking grim. That’s even as renewable energy costs have fallen rapidly and investment in clean technologies is soaring, while voters across the world demand stronger action. [...] In Washington, President Joe Biden is struggling to get his signature “Build Back Better” bill and its core climate measures through the Senate. An initial proposal, which would have devoted some $555 billion to climate and clean energy, has collapsed amid objections from all of the chamber’s Republicans and a key Democrat, Joe Manchin of coal- and gas-rich West Virginia. [...] Japan’s new prime minister, Fumio Kishida, is feeling similar pressure. Last month, in an effort to keep a lid on prices, his government announced subsidies for oil refiners worth some 3 U.S. cents per liter of gasoline produced. This week, it said it was considering going further to mitigate the impact of rising oil prices amid reports it may triple the subsidy rate. [...] “Cutting emissions is not aimed at curbing productivity or at no emissions at all,” Xi said, stressing that economic development and the green transition should be mutually reinforcing. To illustrate his point, this week China offered its vast steel industry an additional five years to rein in its carbon emissions. [...] The energy crunch has without doubt cast a shadow on the European Union’s debate about how to implement its Green Deal, an unprecedented economic overhaul to reach climate neutrality by 2050. Many governments are concerned that the spike in prices may undermine public support for the reforms. (Akshat Rathi/Will Wade/Sergio Chapa/Eric Roston/Ben Westcott, Bloomberg)
Schlechte Nachrichten stapeln sich derzeit auf schlechte Nachrichten. Ich bin mittlerweile nur noch pessimistisch, was die Chance angeht, dass wir den Klimawandel auch nur ausreichend mitigieren (aufhalten ist ja eh nur noch ein Traum). Wir haben ja in der Pandemie gesehen, wie unglaublich dämlich der ganze Diskurs schnell wird, wie Bedenkenträger alles blockieren und wie man halt laufen lässt, in der Hoffnung, es werde so schlimm schon nicht werden. Ich gehe davon aus, dass drastische Maßnahmen ergriffen werden, sobald echte Katastrophen passieren. Dann wird es zu spät sein, und die Maßnahmen werden viel drastischer sein als nötig, aber wir wollen es offensichtlich nicht anders. Siehe dazu auch Fundstück 9.
7) Raus aus dem Schloss!
Starke Worte, die aber doch keine Wucht entfaltet haben, keine großen, gesellschaftlichen Debatten anstießen. Dazu waren sie nicht mutig, nicht inspirierend genug. Manchmal, so wirkt es, kommt der einstige Parteisoldat, loyale Amtsträger und fleißige Technokrat bis heute nicht aus seiner politischen Haut heraus. Manchmal wirkt die Würde dieses Amtes auf ihn noch allzu hemmend. [...] In der zweiten Amtszeit muss er die Rolle, die er sich selbst gegeben hat, als Brückenbauer, innen- wie außenpolitisch, als Wahrer der gefährdeten Demokratie und, natürlich, als steter Mahner endlich erfüllen. Es muss nicht die große Rede sein, mit der das gelingen kann. Die Zeiten, in denen das Wort des Staatsoberhaupts die Nation aufrüttelte, sie sind vermutlich ohnehin vorbei. Wer notiert sich schon die jährliche Weihnachtsansprache in seinem Kalender? [...] Meint er es aber ernst mit dem Vorhaben, nach dem Kitt suchen zu wollen, der die Gesellschaft zusammenhält, und den Stellen, an denen dieser Zusammenhalt gefährdet ist, muss Steinmeier, sobald es wieder geht, raus aus seinem Schloss. Er muss die Orte aufsuchen, an denen die Brüche spürbar sind, in und außerhalb von Deutschland. Er muss vor allem zeitgemäße Formen und Worte finden, um auf diese Brüche aufmerksam zu machen und er muss Ideen entwickeln, diese Brüche zu heilen. Der Brückenbauer muss sich ein wenig neu erfinden. (Martin Knobbe, SpiegelOnline)
Solche Artikel kann ich leiden wie Fußpilz. Es ist eine einzige Kollektion von Bundespräsidentenklischees. Die Macht der Rede! Als wäre das je etwas gewesen, mit dem Bundespräsidenten reüssiert hätten. Wir kennen genau zwei große Reden, die "8. Mai" von Weizsäcker und die "Ruck"-Rede von Herzog, und da auch jeweils nur ein Zitat ("Der 8. Mai war auch für uns ein Tag der Befreiung" und "Es muss ein Ruck durch Deutschland gehen"), die weiteren Inhalte der Reden sind völlig unbekannt. Die anderen Bundespräsidenten sind überhaupt nicht für irgendwelche Reden bekannt, sondern allenfalls durch Aussprüche ("Ein Stück Machtwechsel", Heinemann, und "Der Islam gehört zu Deutschland", Wulff). Gauck gilt als guter Präsident, was er vor allem seiner hervorstechendste Eigenschaft, nicht Köhler oder Wulff zu sein, zu verdanken hat; an Rau erinnert sich praktisch niemand, keine Sau kennt Karl Carstens; Scheel kennt man von einem Schallplattenhit und Theodor Heuss als "den ersten" und zumindest hier im Ländle Namensgeber mindestens einer Straße pro Stadt.
Gleiches gilt für das beknackte Klischee vom "raus ins Land gehen und mit Menschen reden". Diese Überbewertung von direkten Gesprächen - mit wie vielen Menschen kann denn ein einzelner Bundespräsident schon realistisch reden? - habe ich bereits in meinem Artikel zu Annika Brockschmidt thematisiert, und sie wird auch nicht besser, wenn man sie auf die Bundespräsidentenebene zieht. Karl Carstens verbrachte seine ganzen fünf Jahre damit, durch Deutschland zu wandern. Niemand sprach so viel und so ungescriptet mit Bürger*innen. Der Effekt: null. Auch Steinmeier wird keine "Brücken bauen", weil die Leute, für die Knobbe und andere so gerne Brücken gebaut sehen würden, diese Brücken sprengen. Die WOLLEN keine Brücken, da kannst so viele bauen, wie du willst. Die Vorstellung, dass ein Bundespräsident, noch dazu ein Steinmeier, irgendwie "heilen" könnte, ist völlig überzogen. Ich plädiere für einen realistischen Blick auf das Staatsoberhaupt, statt ständig diese rituellen Erwartungen aufzubauen und dann enttäuscht zu sehen.
8) Sei am besten ätscheil wie Götterspeise – Überlebensstrategien für Untergebene
Dann gehen wir über zum Dauerbrenner Agilität. Alles sei irgendwie Ätscheil: „Ursprünglich als Vorgabe an die Softwareentwicklung gestartet, um dynamische Programme zu ersinnen, hat sich das eigentlich so biegsame ‚agile‘ inzwischen erstaunlich zäh im Arbeitsleben eingenistet. In Teams soll ‚agile‘ gedacht, gearbeitet und geführt werden. Fragen nach dem Sinn eines Projektes? Behäbig. Pläne? Zu starr und blockierend. So agile wie Götterspeise soll das Team also die Brücke erst überqueren, wenn sie daherkommt und bis dahin sich selbst dynamisieren. Die Führungskraft darf da, wo alles fließt, nur noch ’supporten‘, bloß nicht führen: Denn bei so viel Elastizität zieht jeder an jedem und in jede Richtung. Dabei würde der Blick auf ein weiteres Fachgebiet lohnen, das sich der Wendigkeit verschrieben hat. Im ‚Agility‘ Hundesport kriechen Beagles oder Bordercollies durch Tunnel und hetzen über Hürden, während das Herrchen den Weg durch den Parcours weist. Entscheidend für den Erfolg ist dabei nur eine Kleinigkeit: das Leckerli.“ Blöd nur, dass das agile Management zentralistisch verordnet wird. Das Ganze bekommt einen agilen Anstrich und die Führungskräfte machen so weiter, wie in der Vergangenheit. Gleiches gilt für flache Hierarchien, dezentrale Einheiten oder Kulturwandel. Häufig nur Camouflage. Die leeren Plattitüden überdecken nur die Realität einer bürokratischen Mikroherrschaft.
Ich finde den Hinweis darauf wichtig, dass Führungskräfte sich in einer Art Dilemma befinden: auf der einen Seite wäre es gut, wenn sie ihren Untergebenen mehr Freiheiten lassen - flache Hierarchien etc. - aber auf der anderen Seite werden sie nach dem Show-Effekt bewertet, den sie selbst mitbringen. Das beißt sich, und dazu kommt oft genug der Kontrollwahn der Führungskräfte, die nicht loslassen können, glauben, alles besser machen zu können und sich im Micromanagent verlieren. Da auf der Lösung dieser Probleme keine Anreize liegen, werden sie auch nicht gelöst, sondern allenfalls mit Manager-Sprech zugekleistert.
9) AK-Studie: Nachhaltiger Konsum scheitert noch zu oft an ausräumbaren Hürden
Details aus der Studie: 65 Prozent der Befragten kaufen gezielt regionale Lebensmittel. "Haushalte mit geringeren Haushaltseinkommen kaufen weniger Bio- oder Fairtrade-Lebensmittel ein", sagte Johanna Bürger. "Gleichzeitig achten diese Haushalte aber auch mehr auf Nachhaltigkeit bei Haushaltsgroßgeräten, verwenden eher Zug als Flugzeug und schmeißen weniger genießbare Lebensmittel weg."[...] Das finden viele Menschen in Österreich gut: Verbot von Plastiksackerln (84 Prozent), eine Verpflichtung, abgelaufene, genießbare Lebensmittel günstiger oder gratis abzugeben (91 Prozent), Pestizidverbot (89 Prozent) sowie Mehrweg-Pfandsysteme (85 Prozent). 73 Prozent wünschen mehr Auswahl im Bio-Sortiment, nur 15 Prozent eine Vergrößerung des Produktsortiments generell. Wer nicht in den Urlaub fährt, nennt als häufigsten Grund die Finanzen (fast 70 Prozent). Der Zug wird eher von armutsgefährdeten Personen gewählt, das Auto von Personen mit mittlerem bis hohem Einkommen und das Flugzeug besonders häufig von Personen mit hohem Einkommen. Ein Drittel versicherte, das Reiseverhalten durch die Klimadebatte bereits verändert zu haben: durch Verzicht auf Flugreisen, Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel oder näher gelegene Destinationen. (APA, Der Standard)
Wie bereits in Fundstück 6 angesprochen finde ich solche Nachrichten wenig erbaulich. Alles, was in diesem Artikel angesprochen wird, ist unglaublich niedrigschwellig. Plastiktüten verbieten, ok, klar, gerne, aber wer glaubt denn, dass das viel bringt? Lebensmittel günstiger machen? Okay, her damit, aber das ändert praktisch nichts. Dito für ein größeres Biosortiment. Das mit dem Urlaub ist ein Scherz; alles, was die Leute da sagen, ist, dass sie das Mittel nehmen, das sie sich leisten können. Solche Maßnahmen mögen zu einem Feelgood-Erlebnis führen, aber sie ändern nichts Wahrnehmbares am CO2-Ausstoß. Und selbst hier gibt es riesige Kulturkämpfe um diesen Kram. Es ist zum Haareraufen.
10) Today’s brass balls award goes to . . .
Bottom line: over the course of the past three decades, Republicans have cut the IRS workforce by nearly 40,000. Even when you add back the small numbers that Democrats have won, the IRS workforce is still down by over a third since 1992. But that's not all. It would be simple for the IRS to simply calculate your taxes for you if you have a simple return. This would save tens of millions of taxpayers a huge amount of grief and would take a lot of pressure off of IRS help lines. So why not do it? Roughly speaking, the answer is that Intuit, the maker of TurboTax, has lobbied relentlessly to prevent it. And who supports Intuit? Mostly Republicans. If they supported free IRS tax prep, the vast majority of Democrats would join them. In other words, Republicans have spent the past three decades committed to the very things that hamstring the IRS most effectively: stripping it of workers and refusing to let it adopt an obvious labor-saving reform. There are two reasons for this:They want people to tear their hair out during tax season. It helps make taxes unpopular. They want to gut the IRS of the resources to audit rich people—and they have. I assume this needs no explanation. (Kevin Drum, Jabberwocky)
Ich hatte erst letzthin beschrieben, dass es das Ziel der Republicans ist, den Staat (zumindest auf vielen Gebieten; Ausnahmen sind Polizei und Militär) zu sabotieren. Nirgendwo ist das so ersichtlich wie beim Finanzamt, dessen Kapazität, die Steuererklärungen der Reichen zu prüfen systematisch zerstört wurde. Deswegen fällt es der GOP auch wesentlich leichter, ihre Ziele zu verfolgen. Sie braucht keine Mehrheiten im Kongress dafür. - In wesentlich geringerem Ausmaß fand das ja zum Beispiel hier in Deutschland beim hessischen Finanzamtskandal auch statt, wobei hier die Gründe anders gelagert waren.
11) When protests aren't progressive
The progressive left likes to tell itself a story about political life. Yes, there can be legitimate alternation between parties and governing ideologies. But over the longer term, history moves in the progressive direction, toward ever greater freedom, justice, and equality — as the left defines them. Sometimes such progress slows or is halted for a while. At other times it unfolds gradually. And at still others, popular protest demands it accelerate. Those are the options, and they show both that the movement of history tends toward the goals progressives favor and that popular protest is a kind of fuel powering that salutary change. [...] The progressive left thinks this is how progress happens — when the powerless, the oppressed, and their allies demand in the streets that the arc of history be bent toward justice, refusing to accept the efforts of the powerful, the rich, and other established powers to resist change. [...] But this isn't at all the way progressives have responded to the trucker protests in Canada and elsewhere. From elected officials to commentators in the media, the tone of the reaction has been closer to outright contempt. And the reason why is obvious: The truckers aren't pursuing progressive aims. They're taking a stand against public health regulations and restrictions imposed by progressive governments, and that has angered the powers that be. This has led some conservatives to hurl their favorite accusation at the left: Progressives are hypocrites! They claim to support protests, but only when people marching are on their side! The charge is valid, as far as it goes. But it misses what's most illuminating in the left's hostile reaction to the trucker protests. Progressives aren't just displaying ideological double standards. They're lashing out against the fact that some of their most fundamental social and political assumptions are no longer valid — or at least much less valid than they once were. Those toward the bottom of the sociopolitical hierarchy railing against systemic injustices don't necessarily favor progressive aims and may actually prefer policies and goals normally associated with the right. (Damon Linker, The Week)
Ein wichtiger Artikel in meinen Augen, denn allzuviele Progressive geben sich einer idealisierten Sicht hin, dass alle Proteste naturgemäß von unterdrückten Menschen kommen, die ihre eigenen Prioritäten teilen. Dabei muss ich gar nicht in der Gegenwart verbleiben; die Geschichte kennt genügend Beispiele von Protesten, die keinen progressiven Zielen folgten. Man identifiziert sich gerne mit dem Underdog, aber nur weil jemand Underdog ist, ist der noch lange nicht der Gute (Gut und Böse variieren natürlich nach Sicht des Betrachtenden). Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, und ohne die vorherige Selbsterhöhung, sämtlichen Protest für die eigene Seite vereinnahmen zu wollen, wäre das dann auch kein Problem. So aber muss man entweder heuchelnd die eigenen Maßstäbe brechen oder aber irgendwelche dummen Theorien erfinden, warum die Leute, wenn sie denn nur nicht von irgendwelchen übelmeinenden Mächten manipuliert würden, IN WAHRHEIT natürlich links wären...alles solche intellektuellen Torheiten, die zu nichts führen.
Nachträge:
Ich probiere mal eine neue Kategorie aus, in der ich Nachträge zu vergangenen Vermischten verlinke:
- Zum Thema "Einfluss Chinas" (Fundstück 1) hier Zensur durch TikTok, das das deutsche Wort "Umerziehungslager" zensiert, was TikTok mit der Begründung entschuldigt, dass der Algorithmus das für ein total anderes englisches Wort gehalten habe. 10/10 Poschardts dafür, zumindest
- Ein Video, das Intersektionalität sehr gut erklärt, die im letzten Vermischten (Fundstück 6) Thema war.
- Nicht nur Boris Johnson (Fundstück 2) beweist eine unglaubliche Ignoranz gegenüber den Dingen, über die spricht und entscheidet, sondern auch Elon Musk. Der ist eh einer dieser super-gefährlichen Milliardäre. Extremistische Ideen, wenig Ahnung, aber völlige Hybris und keinerlei Inhibitionen, diktatorisch seinen Willen durchzusetzen. Echt gruselig.
- Meine Kritik an der politischen Umsetzbarkeit einer CO2-Steuer findet täglich neue Bestätigung.
- Dieser Twitterthread ist eine gute Ergänzung zu meinem Corona-Seelenstriptease.
- Interessante Informationen zu "Meritokratie als Selbstbetrug", die zu der Diskussion über CEOs aus dem letzten Vermischten (Fundstück 3) passt.
- Aktuelles Beispiel zu Hierarchien in Bürgertum und Liberalismus, wie im letzten Vermischten in den Kommentaren diskutiert.
- Ich plane gerade eine Unterrichtseinheit zur Statuenkontroverse im englischsprachigen Unterricht und habe dazu einige Rechercheaufträge zur Geschichte des Bürgerkriegs gegeben. Ich fragte meine angelsächsischen Freunde ob sie kurz drüberschauen können, und interessanterweise wunderten sie sich sowohl über das Fehlen von Triggerwarnungen als auch über die politische Gefahr eines solchen Auftrags - beides Sorgen, die ich mir noch nie gemacht habe. Wir scheinen im Unterricht in Deutschland schon wesentlich freier zu sein als in den USA.