Dirk Ehnts - Modern Monetary Theory
Ich versuchte bisher immer, mich nicht zur MMT als ökonomischer Theorie zu äußern, weil mir einfach das grundlegende Verständnis dafür fehlt. Ich habe mich stattdessen auf die politische Wirkung von MMT beschränkt (erfolgreich, will ich meinen). Aber ich habe ein weitergehendes Interesse, dem ich nachgehen will. Bevor ich mich an Stephanie Keltons Standardwerk "Der Defizit-Mythos" (Englisch) herantraue, wollte ich allerdings erst einmal gewissermaßen den großen Zeh ins Wasser tauchen und etwas für Einsteigende lesen. Da kommt mir Dirk Ehnts in der Reihe Essentials erschienenes 80 großzügig gelayoutete Seiten schmales Büchlein gerade Recht. Der Ökonom ist der wohl bekannteste deutschsprachige Vertreter der MMT. Er ist auch als einer der Miterfinder des "Green New Deal" bekannt, eine Doppelrolle, von der später in dieser Rezension noch zu sprechen sein wird.
Das Buch ist grob zweigeteilt. Die erste Hälfte befasst sich mit einer groben Überblickserklärung dessen, was MMT eigentlich ist. Die zweite Hälfte spricht demgegenüber von den Möglichkeiten der Anwendung von MMT, besonders, was den Green New Deal angeht.
Im Kern unterscheidet sich die MMT von den klassischen Wirtschaftstheorien, wie der Name bereits sagt, in der Frage des Geldes und des Geldkreislaufs. Die nicht eben neue Erkenntnis, dass die Geldschöpfung in der Zentralbank passiert, nimmt die MMT zum Anlass, die künstliche Grenze zwischen Zentralbank und den anderen Akteuren ("Unabhängigkeit der Zentralbank") als genau die Nebelkerze zu entlarven, die sie ist (schließlich dient auch dieses Arrangement spezifischen Interessen, sie sich dadurch von jeder Partizipation und Kritik insulieren).
Natürlich erklärt die MMT nicht, wie ihre aktivistischen Gegner*innen gerne behaupten, der Staat oder die Notenbank könnten beliebig viel Geld schöpfen. Stattdessen gibt es klare Grenzen in der Realwirtschaft. Der revolutionäre Gehalt der MMT liegt darin, dass sie die Grenzen staatlichen Handelns nicht in der Verfügbarkeit von Krediten (in Form von Staatsanleihen, die nur von den großen Banken gekauft werden können) sieht, sondern in der realen Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft, gemäß dem Keynes'schen Motto: "Everything we can actually do, we can afford." (Paraphrase)
In diesem Zusammenhang dienen Steuern dann nicht mehr der Finanzierung des Staates, sondern der Steuerung von a) Inflation und b) volkswirtschaftlicher Aktivität. Ihre Rolle für die Inflation ist recht leicht zu verstehen. Wenn inflationärer Druck entsteht, können höhere Steuern Kaufkraft auffressen (weil der Staat Steuern nicht zur Finanzierung braucht, vernichtet er mit der Erhebung von Steuern effektiv Geld; dieses Verständnis des Geldkreislaufs ist elementar für die MMT). Umgekehrt können Steuersenkungen die Kaufkraft erhöhen und so Wachstumseffekte freisetzen (hier ergeben sich überraschende Überschneidungen der MMT mit klassisch liberalen Präferenzen).
Etwas problematischer ist die volkswirtschaftliche Aktivität. Die MMT setzt sich, anders als die Klassik, in Ehnts Verständnis das Ziel der Vollbeschäftigung. Ist es erreicht, steigen die Steuern, um eine Überhitzung zu verhindern; ist es nicht erreicht, stimuliert der Staat die Nachfrage, bis Vollbeschäftigung erreicht ist. Das Mittel dafür sieht Ehnts in einer Jobgarantie: kommunale Jobs, die nicht in Konkurrenz zum regulären Arbeitsmarkt treten und etwas schlechter bezahlt sind als das durchschnittliche Jobs auf dem freien Markt. Unfreiwillige Arbeitslosigkeit kommt so nicht vor, und Menschen bleiben dauerhaft in Beschäftigung - entweder in Jobmaßnahmen oder im freien Markt (bevorzugt Letzteres).
Gleichzeitig, so Ehnts, erlaube die MMT die Finanzierung großer sektoraler Umbauten, wobei er natürlich vor allem an den Green New Deal denkt. Da die Jobgarantie die negativen Effekte des Wandels bei Jobverlusten abfedert und die Grenze für staatliche Investitionen nicht das Steueraufkommen, sondern die Leistungsfähigkeit der Realwirtschaft ist, ergibt sich hier ein natürlicher Fit.
Bevor ich zu meiner Kritik komme, kurz der für mich wichtigste Faktor, der für MMT spricht: sie offeriert ein kohärentes Denksystem dafür, wie ein notwendiger massiver sektoraler Umbau überhaupt zu stemmen wäre. Da sind wir dann auch wieder bei dem politischen Faktor: die klassische Wirtschaftstheorie hat auf diese Frage schlicht überhaupt keine Antwort außer der Hoffnung, der private Sektor möge das irgendwie freiwillig tun, was ich für reichlich naiv halte.
Leider ist auch die MMT in meinen Augen nicht frei von Naivität. Die Idee, mit dem Heben und Stenken von Steuersätzen die Inflation und gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu steuern, funktioniert auf dem Papier sehr gut, aber dasselbe gilt ja auch für die monetaristische Idee der Geldmengensteuerung, die auch in der Theorie, nie aber in der Praxis, zu einem Gleichgewicht führt. Es ist schlichtweg nicht vorstellbar, dass ein demokratisch verfasstes Staatswesen in der Lage sein soll, allein auf volkswirtschaftlicher Rechnung die Steuersätze so zu heben oder senken, dass die erwünschte Steuerungswirkung erzielt werden kann.
Auch ist fraglich - ebenso wie bei der klassischen Wirtschaftstheorie - ob die Analysewerkzeuge überhaupt ausreichen, um diese Momente zu erkennen und verlässliche Prognosen abzugeben. Bisher darf das aus guten Gründen bezweifelt werden (was übrigens, erneut, auch für die jetztige Politik gilt; mit verfehlten Inflationswarnungen deutscher Orodliberaler ließe sich ein Palast tapezieren).
Dazu kommt die zweite Einschränkung, die bei MMT-Befürworter*innen gerne in einem Halbsatz abgefrühstückt wird: MMT funktioniert nur für Staaten, die sich ausschließlich in ihrer eigenen Währung verschulden, was für die meisten Länder gar nicht zutrifft. Vor allem ist MMT eine Theorie für den amerikanischen Finanzhaushalt, dessen Anwendbarkeit auf andere Länder einerseits und Dauerhaftigkeit im internationalen Vergleich noch zu beweisen ist.
Letztlich aber gilt diese Kritik für jede Wirtschaftstheorie. Es sind Theorien. Ihre Anwendbarkeit unterliegt immer einem Realitätscheck, der für die Theorie grundsätzlich nicht besonders gut ausfällt. Ich neige allein deswegen der MMT zu, weil ihre Nachteile mir angesichts der Vorteile nicht so bedeutsam erscheinen; ich habe darüber im Kontext Keynesianismus vs. Neoklassik 2013 (!) auch schon einmal geschrieben.
Ich freue mich in jedem Fall, all diese Fragen kommende Woche im Podcast der Bohrleute mit Dirk Ehnts besprechen zu können, der freundlicherweise zugesagt hat. Von daher freue ich mich auch auf eure kritischen Anmerkungen in den Kommentaren, die ich dann in das Gespräch mit einbringen kann.
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